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III. Novellen.

Quatorze Juillet.

Frankfurter Zeitung. 15. Juli 1894.

I.

Die Sonne war gerade aufgestanden und traf mit ihren ersten Strahlen den Maler Marcel, der, in einem alten, geblümten Lehnstuhl sitzend, die Nacht in seinem Atelier verbracht hatte, weil ein entfernter, kleiner Vetter aus der Provinz sein Schlafgemach, da hinter der Gardine, besetzt hatte. Marcel erwachte und wusste sich zuerst garnicht zurechtzufinden; schien ihm seine Lage doch noch seltsamer als nachts zuvor: gerade als er gestern abend, spät um elf, hatte ausgehen wollen, war ihm der kleine Léon Deperre in's Haus gefallen, ein blutjunges Bürschchen, frisch von der Schule, derselbe Léon, mit dem er früher bei Besuchen in der Heimat wohl einmal gespielt, den er auf seiner Schulter hatte reiten lassen – dies selbe Bürschchen war ihm nun gestern abend zwischen die Beine gelaufen, sehr müde, sehr hungrig nach zwölfstündiger Bahnfahrt, aber ganz ausser sich vor Freude, in Paris zu sein. Léon war sogar mit einem Koffer angekommen, mit einem wohlgerundeten, wohlversehenen Provinzkoffer und – hier begann nun Marcel's Missgeschick – mit einem Brief von der lieben Mutter daheim an den Herrn Marcel.

Marcel kannte diese Mutter, eine alte, würdige Dame; und wie er den Brief las, schien ihn ihr sorgenvoll zärtliches Gesicht anzublicken: einen schönen Gruss an den Herrn Marcel, und er möge sich doch des Léon etwas annehmen. Der Sohn trete bei einem Buchhändler in die Lehre; abgemacht und geordnet sei alles schon, nur hinführen möchte ihn Marcel, ihn häuslich einrichten und dann – und dies sei ihre grösste Bitte – dann möchte doch der liebe Herr Marcel, der ja selbst eine so gute Mutter gehabt habe, den Léon schützen vor dem schrecklichen Paris, ihm schlechte Gesellschaft und lose Frauen fernhalten; das sei die Bitte einer schwer besorgten Mutter.

Der Brief lag noch neben der ausgebrannten Lampe und den Resten eines hastigen Abendbrotes, womit Marcel den müden Knaben erquickt hatte. Er überflog die Zeilen von neuem und stand dann auf, weil sie ihm ein Unbehagen gaben. Den Vorhang zurückschiebend trat er an das Bett: der feine Kopf des Knaben mit den goldnen Locken und dem ersten, goldnen Schimmer über der Oberlippe hob sich von den verworrenen Kissen rührend ab; die Arme waren über der Brust gekreuzt, als sollten sie das heisse Herz zur Ruhe bringen. Ein Hauch von Jugend, reiner Jugend und Unberührtheit ging von dem Anblick aus, der seltsam genug mit anderen Bildern kontrastieren mochte, die sich sonst für Marcel mit dieser Stelle verknüpften. Seiner Hand entfiel der Vorhang mit der malerisch verschossenen Farbe, den Knaben deckend und auch die Erinnerungen. Marcel trat an das Fenster. Es hingen dort ein paar sehr flotte und kecke Studien von ihm; er kehrte sie mit einem Achselzucken nach der Wand. Unbehaglich wie ihm war, öffnete er das Fenster, steckte den Kopf in die frische Luft und sah hinaus: Wirklich, dachte er, ich muss den kleinen Mann mit den blauen Kinderaugen möglichst rasch aus dem Wege schaffen. – Dann verlor sich sein Blick in das weite Häusermeer vor ihm, in das Gedränge der Kirchen, Kuppeln und Mansarden, worüber die Sonne sich still erhob. Bald entdeckte Marcel's geübtes Auge an verschiedenen, öffentlichen Bauten ungewöhnliche Farbenflecke, entdeckte auf den Türmen und freien Plätzen ein ungewohntes Bewegen, hörte aus dem dumpfen Summen der erwachenden Stadt einen hellen Ton heraus, der auf freudige Erregung schliessen liess; schon bimmelte hier und da ein verfrühtes Glöckchen – was ging denn vor? Er drehte sich um und sah auf den Kalender. Heute war Sonntag. Richtig, da stand es, Sonntag, vierzehnter Juli! Erstürmung der Bastille!

Das hatte er vergessen können? Er, der auf der Schule die verkörperte, republikanische Begeisterung gewesen war? der seinen Eltern vorgeworfen, ihn nicht Brutus oder Cato genannt zu haben? der sonst, in Prima, am Jahrestag der Republik mit Scharen Gleichgesinnter ausgezogen war, trotz Staub und Hitze auf den Strassen der Provence meilenweit wandernd, bis an das Meer, um dort zu baden, schwimmen, rudern, und zuletzt, berauscht von Wind und Wellen, sich einem der heimischen Musikchöre anzuschliessen, mitsingend, auch zur Not einmal mitspielend, die alten Römerstätten aufzusuchen und in Tanz und wilder Farandole den Tag zu beschliessen? Wie weit lag ihm diese Jugend! Das Andenken aber seiner kräftig frohen Knabenzeit rief ihm die Sehnsucht wach nach frischer Luft und Wind: Sei's drum, er nahm heute seinen Schutzbefohlenen mit auf's Land; dort wollten sie das Fest der Republik in stillem Frieden feiern!

II.

Drei Stunden später traten Marcel und Léon aus dem Haus.

»Führe mich zur Bastille!«, bat der Knabe, und Marcel willfahrte der jugendlichen Begeisterung. Auf dem Wege sprach Léon, aufgeregt durch all das Neue, ununterbrochen. Als sie angelangt waren, stand er wie ein Verzückter da, und es entging Marcel nicht, wie der Knabe zuerst den Kopf hob, dann in einfältiger Begeisterung die Mütze zog und die hohe, schwarze Säule auf der Mitte des Platzes grüsste. Seine frische Schulweisheit, ihm mitgegeben von einem Manne mit warmem Herzen für das Grosse, mit Glauben an die breite, volkstümliche Bewegung der Zeit, steigerte sich unter dem Eindruck der geschichtlichen Stätte zum poetischen Taumel. Da, wo Marcel nur einen grossen Platz sah, eine plumpe, geschmacklose Säule, die Mündungen vier grosser Strassen, wovon die eine die greuliche Rue Roquette war, da wurde dem begeisterten Knaben die Vergangenheit lebendig. »Marcel,« rief er, »denke dir, hier stand sie, diese schreckliche Zwingburg, mit festen Mauern, Türmen und Gräben; darin waren Schuldige und Unschuldige, gewiss mehr Unschuldige, weil fast jeder sich Verhaftsbefehle verschaffen konnte, und einmal in dem Ungeheuer drin – fahre wohl, du schöne Welt! Menschen, die jung hineingesteckt worden, kamen als Greise heraus. Ertrage das, wer will. Ich, ich wäre gleich aufgestanden, hätte getobt und gerast. Freilich, was hätte mir's geholfen! Dazu musste erst das Volk aufstehen, das Volk mit seinem Hass gegen die Ungerechtigkeit, gegen ... Oh, Marcel!« rief er plötzlich aus.

Was ihm den Ruf entlockte, war nicht das Denkmal, nicht der weiss-blau-rothe Fahnenschmuck, nicht die laubbekränzten Masten, noch das geputzte Rathaus. Es waren die Schülerbataillone, die in ihren Uniformen, Gewehr über der Schulter, die Lehrer und einige Offiziere zur Seite, taktmässig vom Faubourg Saint Antoine herabmarschiert kamen.

»Oh, wäre ich mit dabei, hätte ich mein Gewehr über der Schulter –« rief der Knabe und sah mit grossen, verlangenden Augen auf die taktmässig marschierenden Knaben ...

Hinter dem Zug schossen die Wellen grossstädtischen Verkehrs wieder zusammen; sie trieben Léon und Marcel nach dem Faubourg Saint Antoine hinüber, dessen lange Zeile im Flaggenschmuck prangte, dessen Kreuz- und Quergässchen die eigenartigsten Blumenverzierungen und festlichen Vorkehrungen aufzuweisen hatten: Lauben aus grünem Reis, Kränze und Kronen an Seilen quer über die Strasse gespannt, kleine Altäre und Büsten der Republik, rote Wimpel aus billigem Kattun, Tanzplätze aus Bohlen, erhöhte Tonnen für Redner und Musiker. Jeder Weinwirt hatte verlockende Flaschenpyramiden gebaut, Tischchen an Tischchen reihte sich auf dem engen Strassensteig. Sonntäglich war das Faubourg Saint Antoine geputzt, Festfreude blitzte aus den Augen; die Mädchen mit hellen Kleidern, ein entzückendes Kind mit einer roten Jakobinermütze setzten bunte Töne in das einförmige Grau, Blau und Braun der sonntäglichen Arbeiterröcke und Kittel.

Inzwischen hatte Léon zwei Schleifen mit den vaterländischen Farben erstanden; er zwang den lächelnden Marcel, eine derselben anzustecken; dann suchten beide Platz auf dem nächsten Dampfboot nach Vincennes, und all die Zeit ruhten Marcel's verwöhnte Maleraugen mit Freude auf dem schönen, begeisterten Gesicht des Knaben.

III.

Die Boote nach Vincennes waren trotz der Morgenfrühe dicht besetzt, denn abends sollte dort im Park das grosse Feuerwerk abgebrannt werden. Zumeist waren es Arbeiter und Kleinbürger, die hinausfuhren, mit Kind und Kegel, mit Esskorb und Weinflasche. Ein paar auffallende Gestalten in hellen, rosenfarbnen und himmelblauen Toiletten waren mit in der Menge und sahen geringschätzig auf den Feiertag dieses arbeitsamen Familienlebens. Eine derselben gab Marcel ein Zeichen des Erkennens, er schüttelte den Kopf und schob Léon's blonde Locken zwischen sich und das lächelnde Abenteuer.

Beim Verlassen des Dampfers gerieten sie hinter ein ältliches Ehepaar. Der Rock des Mannes war altmodisch, die Frau trug eine grosse, gesteifte Haube. Marcel fand Freude an dem seltsamen Paar, und so folgten die jungen Männer in einiger Entfernung. Die alten Herrschaften gingen mit einem gewissen feierlichen Schritt, der Mann trug den Esskorb, die Frau den blauen Regenschirm, und beide wandten sich nach einer abseits liegenden Wiese, auf welcher Pappeln ein unregelmässiges Dreieck bildeten. Marcel und Léon folgten. Doch ehe das alte Paar die Pappeln erreicht hatte, riss unter dem Gewicht der Vorräte der Korbhenkel, und ein Teil der guten Dinge flog auf den Sand.

Mit der Höflichkeit gegen alte Leute, die in den Sitten der Provinz liegt, eilte Léon herbei, den Schaden zu heilen.

Als die Vorräte eingesammelt waren, bat Marcel um die Erlaubnis, diese an ihren Bestimmungsort tragen zu dürfen, und da die beiden Helfer in der Not mit ihren hübschen Gesichtern rasch den Weg zu den Herzen der Menschen fanden, machte es sich, dass sie vorläufig alle vier zusammen blieben. Unter den Pappeln angekommen, spannte man den blauen Regenschirm gegen die Sonne auf, grub den Wein zur Kühlung in die Erde und brachte den Korb im schattigen Buschwerk unter. Der alte Herr zog wegen der Hitze seinen Rock aus, faltete ihn sorgfältig und setzte sich darauf, steckte dann ein kleines Thonpfeifchen an und begann nach eingeholter Erlaubnis der Anwesenden zu rauchen. Die alte Frau aber hob ihren buntseidenen Kleiderrock auf, setzte sich in's Gras und holte ein Strickzeug vor, dessen behende Nadeln bald lustig in der Sonne blitzten. Derweil lagen Léon und Marcel bäuchlings auf dem Rasen und wunderten sich.

»Sie sind doch wohl nicht Brüder?« begann die alte Frau.

»Nein, aber Vettern,« sagte Marcel und nannte ihre Namen.

»Und wir,« entgegnete die alte Frau, »sind Herr und Frau Legros, Strumpfwirker aus der Rue du Temple. Ein gutes, solides Geschäft, nicht wahr, Vater?«

Der alte Herr bestätigte mit einem Kopfnicken.

Léon war bei ihren Worten glühendrot geworden: »Sie heissen Legros?« rief er aus. »Sind Sie Verwandte von der Frau Legros, die zuerst durch ihre Unerschrockenheit und Beharrlichkeit die Ungerechtigkeiten, die Abscheulichkeiten der Bastilleverwaltung unter das Volk brachte? derselben, die Himmel und Erde in Bewegung setzte, um den Gefangenen Latude zu befreien?«

Der alte Herr hatte aufgehört zu rauchen, die alte Frau strickte nicht mehr. »Das sind wir,« riefen beide dann wie aus einem Munde, während das süsse Gefühl des Ruhms der Frau die Thränen in die Augen trieb. »Woher wissen Sie von unseren Vorfahren, mein junger Freund?« fragte der alte Herr mit Würde.

»Das lernt jeder gute Republikaner in der Schule,« war die heisse Antwort.

»Siehst du, Vater,« fiel die alte Dame ein, »ich habe dir's ja gesagt, die neue Republik meint's ehrlich und hat gute Schulen.«

Hierauf wurden Léon und Marcel inständig und mit feiner Höflichkeit gebeten, am Mittagsmahle teilzunehmen, und als Marcel einige Bedenken äusserte, erklärte der alte Herr: »Nehmen Sie ruhig teil, es ist ja heute das Fest der allgemeinen Verbrüderung. Wir,« fuhr er fort, »feiern den grossen Tag der Bastille-Erstürmung alljährlich unter diesen Bäumen, weil wir sicher sind, dass die Frau Legros, die aus dieser Gegend stammte, einen derselben gepflanzt hat. Wenigstens ist dies eine Überlieferung in der Familie. Stets hat der älteste Sohn seine Initialen hier eingeschnitten. Hier sehen Sie, der erste fiel unter der ersten Republik, ein treuer Sohn des Volkes. Der zweite schlug sich 1830 auf der Barrikade von Saint Méry – man hat ihn nie wiedergefunden. Gott hab' ihn selig, es war ein schöner Mann mit fester Hand, ein echter Republikaner. Hier mein Vater wurde unter dem Schurken, dem dritten Napoléon über's Wasser geschickt. Sie haben ihn auf der verfluchten Insel begraben. Dann kommt mein Name und darunter der meines Sohnes, der fiel 1870.« Es gab eine kleine Pause.

Die Stunden gingen in ähnlichem Gespräch hin. Marcel hatte gebeten, die alte Dame in sein Buch zeichnen zu dürfen, und sie sass ihm bereitwillig, mit einer kleinen Steifheit, um dem Akt die nötige Ehre angedeihen zu lassen. Léon und der alte Herr politisierten, und von Zeit zu Zeit hörte man den einen über den andern lachen. Des Alten Lebenserfahrung schien dem Jungen komisch, philisterhaft, und des Jungen weltumfassende Träume reizten des Alten Laune. »Also,« hörte Marcel den Strumpfwirker sagen, »also, das Eigentum schaffen wir ab; wovon, mein junger Freund, bekommen die hübschen Mädchen dann aber eine Aussteuer und Mitgift? Ei, ei, ein häkeliger Fall, wie?« Und als Léon den Mann aufs heftigste tadelte, der bei der Heirat auf das Geld sehe, da fiel der Alte wieder ein: »Sehr schön, ja, ja, sehr schön, dennoch ...« und er trällerte mit einem hohen, feinen Stimmchen:

»Fût-elle de la terre
La plus belle Vénus,
Lorsqu'ell' n'a pas d'écus
C'est une autre affaire.«

Das Mittagsmahl unterbrach Léon in seiner nach allen Regeln klassischer Beredtsamkeit geordneten Entgegnung. – Da das Geschirr nicht reichte, ass man einträchtig auf demselben Teller und trank aus demselben Glas, die Alten zusammen und die Jungen zusammen. So verbrachten sie ihren Tag in einem Atemkreis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Eine liebliche Poesie stieg von den Ufern auf, und anspruchslose Freundlichkeit brachte die Herzen näher. Dazwischen hinein prickelte der Humor, manch' gutes Wort kam von den Lippen der erfahrenen Alten, und als Marcel, im Grase liegend, die heitere Gruppe vor sich betrachtete, erinnerte sie ihn an eine Welt, die er lange vergessen hatte.

Mit Dunkelwerden rüstete sich das alte Paar zum Aufbruch.

»Sie bleiben nicht zum Feuerwerk?« fragte Léon.

»Nein, das ist nichts mehr für zwei alte Krümper,« sagte die alte Frau, »wir haben es auch schon so oft mitgemacht, und dann – es macht einem immer so weh, soviel Geld verpufft zu sehen, und die armen Leute, die morgen nichts zu essen haben werden, sperren das Maul auf: ob nicht einer von den goldnen Flitterdukaten hineinfliegen möchte.«

Als die jungen Leute ihre Gastfreunde bis an die Bootstation gebracht hatten, begann Léon: »Weisst du, Marcel, die alte Dame hat recht, ich mag das Blendwerk, womit man das Volk belustigt, nicht mehr anschauen. Können wir uns nicht etwas Bewegung machen?«

»So viel du willst, Bürger Léon,« sagte Marcel, »da du dich in stoïscher Tugend von den Verführungen selbst deines verfassungsmässigen Präsidenten abwendest, will ich dich eine Promenade machen lassen, die deine tugendhaften Muskeln in Anspruch nehmen wird. Rechts um kehrt!« und er schwenkte mit Léon nach der breiten Strasse ab, die in Paris durch die Avenue Daumesnil auf den Platz der Bastille einmündet.

IV.

Sie schritten rüstig vorwärts, und lange Züge reihten sich ihnen an. Die Strassenlaternen bildeten endlose, fernverlaufende Lichtschnüre, aus allen Häusern, Weinstuben und Fenstern drang heller Glanz; hier schimmerten farbige Lampions, dort flackerte der Schein von Pechpfannen. Ein rot durchglühter Staub lag in der schweren Sommerluft, worein sich der Harzgeruch der Tannenkränze mischte. Léon, die Augen auf den fernen Punkt geheftet, in dem die leuchtenden Linien sich trafen, wandelte wie auf Wolken und riss Marcel mit. Die Weisen fröhlicher Tanzmusik von rechts und links, das heitere Treiben rings um sie, das Nahgefühl der grossen Menge, die in gleicher Stimmung zum gleichen Ziele strebte, dies alles weitete ihnen das Herz.

Im Glanz der Fackeln, Lampen und Laternen lag endlich der Bastilleplatz vor ihnen. Brausender Jubel, helle Blechmusik schallten zu dem dunkelblauen Himmel. Abgerissene Töne der Marseillaise flogen dazwischen, verschiedene Stimmen griffen sie auf, und zu dem roten Glutschein stieg das rote Lied. – Die Freunde eilten vorwärts bis zum Quai Saint Louis; dort hielt sie ein dichtgedrängter Schwarm Harrender auf. Auch hier wartete man auf ein Feuerwerk, und diesmal sollten die Freunde ihm nicht entgehen. Eingekeilt im Gewühl, betrachteten Marcel und Léon die Riesenumrisse von Notre Dame, die diesen breiten Jubel still und stolz in reiner, blauer Nachtluft überragte, als die ersten Schwärmer und Raketen aufzischten, und das Ah und Oh der Menge ausbrach. Mit jedem Leuchtkörper hoben sich die Köpfe, ein jeder wurde verfolgt und beurteilt; den wohlzerpuffenden begrüsste lauter Beifall, den versagenden erwartete ruhmloser Tod, er fiel von der Höhe, wie ein ausgezischter Schauspieler von der Bühne schleicht. Der goldene Funkenregen zündete in tausend Augen, nach den goldenen Schlangen streckten sich tausend Hände, und je rascher gegen Schluss die Schwärmer, Frösche, Feuerräder sich folgten, desto wogender wurde die Menge in einem unklaren, stammelnden Glücksgefühl, im allgemeinen Freudentaumel.

Ein kleiner Gassenjunge, den die Mutter nicht nebst den zwei anderen Sprösslingen halten konnte, während der Vater rauchend und unbeteiligt dabei stand, hatte sich an Léon angeklammert, und der Knabe hielt das Kind die ganze Zeit über auf der steinernen Quaimauer fest, erklärte ihm die bunten Sterne und bildete mit seinem blonden Lockenkopf einen seltsamen Gegensatz zu dem ganz schwarzhaarigen, schwarzäugigen Kind. »Der reine Sankt Georg,« dachte Marcel, während die Mutter ihrerseits das Kind ermahnte, dem fremden Herrn nicht lästig zu fallen, und der Vater sagte: »Da der Bürger es doch will ...«

»Komm rasch,« flüsterte Marcel kurz vor Schluss des Feuerwerks; Léon konnte nur gerade noch dem Vater das Kind auf den Arm setzen, und schon zog ihn Marcel aus der gestauten Menge. Sie liefen um Notre Dame herum: auf dem weiten Vorplatz war es still, nur die zwei grossen Turmfahnen, blau-weiss-rot, rauschten leise im Winde. Das graue Portal aber mit den vielen kleinen Heiligen lag im tiefen Schatten, und die schwarzen Türme verloren sich in die Nacht. Es war, als zürne die Kirche und schweige. Da tönte mit dem letzten Prasseln des Schluss-Feuerwerks ein hunderttausendstimmiger Jubel von dem Quai. Und dieser weckte auch den steinernen Dom: aus seiner Ruhe aufgescheucht, im tausendfachen Echo seiner Wände, Nischen, Ecken, Spitzen und Bogen musste auch er den Volksjubel wiederholen: Quatorze Juillet!

Von hier aus wandelten die Freunde wie in einem Feengarten die Seinequais hinab. Die herrlichen Platanen rechts und links trugen, gleich grossen Goldfrüchten, dunkelrot-gelbe Papierlaternen. Die Boote fuhren mit Musik hin und her, im Glanz farbiger Glaslampen und Lampions. Eine fröhliche Menge wogte am Justizpalast, die finstere Conciergerie stand trotzig an der Ecke. Kein Wagen fuhr mehr, kein Omnibus, kein Tramway: das ganze arbeitende Paris feierte, und der Asphalt der breiten Strassen war das Parkett eines grossen Saales, in dem ein ganzes Volk seinen Empfangsabend gab, seinen Geburtstag feierte.

So schlenderten die Freunde bis zum Louvre. Er, der einst von der Feste Glanz gestrahlt hatte, er, der das Herz gewesen war der grossen, schönen Stadt, lag dunkel da. Von aussen nur glommen seine Fenster im Widerschein, von aussen nur umrauschte ihn der Jubel der Nation, ihn, der in früheren Tagen Mittelpunkt gewesen war, selbst Licht und Glanz gespendet hatte.

Gelockt von dem Kontrast, traten Marcel und Léon in den finsteren Louvrehof: so wie das Licht, so brach sich an diesen Mauern auch der tausendstimmige Jubel. Nur Schritte, körperlose Schritte tönten durch das Dunkel. Da ging es in der stillen Nacht durch ihren Sinn, was alles hatte kommen müssen, damit sie beide heut, zu dieser Stunde an diesem Ort so frei und sicher stehen konnten; welch' langsame Qual, welch' heldenmütiges Ringen vieler Geschlechter.

Während sie noch so standen, kam taktmässig ein fester Schritt heran, ein Chor junger Stimmen immer näher, klang es durch die Nachtluft, den Lärm und Jubel übertönend:

Allons, enfants de la patrie,
Le jour de gloire est arrivé ...

Marcel und Léon flogen dem Zuge entgegen:

Contre nous de la tyrannie
L'étendard sanglant est élevé ...

fielen sie schallend ein und schlossen sich den Sängern an. So ging's im Tritt die Rue de Rivoli hinunter, über die Seinebrücken nach dem Studentenviertel, dem Boulevard Saint Michel. Wo sie zogen, machte man Platz, es ging ein Nerv, eine Begeisterung durch den Sang, dass alle Herzen höher schlugen. Es war kein wüstes Gebrüll, es war eine heilige, bewusste Handlung, ein Ruf an die Jugend, und so wirkte er auch: der Zug wuchs und wuchs. Da, an der Universität flammte der Schein roter, bengalischer Flammen. Es war ein Ball, ein wildes Fest auf offener Strasse, in toller Farandole kreiste das Studentenviertel um eine flackernde Pechtonne, aufgelöste, weibliche Gestalten schwankten durch den rosigen Nebel: das Ganze ein wirres Singen, Pfeifen, Prasseln und Jauchzen, ein freches Durcheinander, das die Marseillaise zu ersticken drohte. Ohne zu wissen, was man that, warf man sich auf die Schar der Tanzenden, Léon und Marcel mitten darunter.

Im Handumdrehen gehörte der Platz den Sängern. Sofort aber ordnete sich der Zug der Sieger von neuem, sie griffen die unterbrochene Strophe wieder auf, und durch die enge Rue Cujas zum Pantheon klang es aus frischen Kehlen:

Contre nous de la tyrannie ...

Der Rest kam nur als Melodie zurück und kräuselte mit dem Rauch um die verlöschende Pechtonne, auf dem jetzt leeren, dunklen Place de la Sorbonne.


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