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Saint Cergues.

Danziger Zeitung. 16. u. 17. August 1890.

Es giebt zwei Orte dieses Namens am Genfer See, der eine liegt südlich vom See in Savoyen, der andere nördlich vom See in der Schweiz. Dieses St. Cergues, von seiner Bahn- und Dampfbootstation St. Cergues sur Nyon benannt, ist ein ziemlich grosses Walddorf im Jura, und mit dieser Bezeichnung ist sein Charakter gegeben: ringsum grüne Tannen, Tannen so weit das Auge reicht; Hügel, Anhöhen, Berge steigen neben- und hintereinander auf, und überall sind Tannen, nichts wie Tannen. Einzig die Dôle, der höchste Gipfel in der Umgegend, ist kahl und sieht meist mit hämischer Grimasse in das grüne Thal, sie braut nämlich das Wetter für die Gegend und hat wahrhaftig, was den Regen betrifft, dieses Jahr nichts zu wünschen übrig gelassen. Im ganzen macht die Landschaft aber einen überwältigend grünen Eindruck: grün die Bäume, grün die Wiesen, grün die Fensterladen; und der Abwechslung halber grau die Felsen, grau die Strassen, grau die Häuser und Dächer. Ein Schwelgen in Farben darf man dem Dorf nicht vorwerfen. Freilich, die Wiesen dicht um St. Cergues sind bunt von Blumen, wilde Rosen blühen an der Wegseite, und an manchen der grauen Häuser bilden im Juli die kecken Postilionsrosen eine Wand von feurigem Rot. Das bleibt aber doch Ausnahme: Die Tannen überwiegen. Zur Rechten und zur Linken recken sie sich auf, teils fest und starr, wie Liniensoldaten, knorrig, eckig und wetterhart; mit Flechten dicht wie Greisenbart bewachsen; mit Ästen und Gipfeln, so gekrümmt und gequält, dass man versteht, warum ein Wind hier »la tourmente« heisst; voll von Tannenzapfen wie Obstbäume voll Früchte im Herbst; mit ellenlangen Wurzeln und knotigen Stämmen. Teils sind sie aber auch jung und kokett mit aufwärts strebenden Zweigen und hellen, elegant verbreiterten Fächern. Ihnen zu Füssen wimmelt der Nachwuchs, kleine, tapfere Bäumchen, die sich zwischen Steinwerk hindurchringen, andere rund, fett und behäbig in schwarzer Erde gedeihend. In all diesen verschiedenen Geschöpfen hat sich die Natur aber noch nicht genug gethan und daher aus ihrem starken Saft, in üppiger Sonne, einige Seltsamkeiten hervorgebracht, die sogenannten »Gourgans« und »Gaffards«. Die vollen Namen bezeichnen schon, dass es sich um etwas Ungeschlachtes handelt, um Riesentannen, Bäume von 2, 3 Metern Umfang, aus einem starken, geraden Stamm majestätisch aufsteigend und dann plötzlich, 8, 10 Fuss über dem Boden, in kraftvolle Arme nach allen Seiten hin ausschiessend. Die meisten haben dadurch etwas Ungefüges, Verschobenes erhalten, sind seltsame Gestrüppe mit verwachsenem Gezweig und schiefem Gipfel; einer nur, in 11 Arme ausstrahlend, steigt mässig gerundet in die Luft empor und verjüngt sich zu einem die Mitte beherrschenden Gipfel, ein herrlicher Baum von freier und doch ebenmässiger Schönheit.

Scheint nun die Sonne und hat der Wind alle Wolken weggefegt, so heben sich von dem tiefblauen Himmel die kräftigen Tannen aufs fröhlichste ab. An solchen Tagen geht dann ein Glitzern, Flimmern und Sichsonnen durch diese ernste Natur, als gäbe es weder Regen noch Wintersturm. Dann blitzt auch zu Füssen der Genfer See, und drüben auf dem französischen Ufer zeigt sich die Kette des Mont Blanc. Da St. Cergues selbst 1000 Meter über dem Meer liegt, scheint der ferne Mont Blanc nicht besonders hoch, und vor allem nimmt das platte, glatte Vorland, mit seinen Feldern und Weinbergen im Schachbrett, ihm den Eindruck des Grossen und Starren. Wenn aber das Ameisengewirr der Städte, Kulturen und Dörfer von leichtem Nebel verdeckt wird, und über die Wolken hinaus der Berg mit weisser Stirn sieht; wenn die Schatten wechselnd über seinen Fuss hinziehen, einzelne rasche Wolkenzüge ihm nahen, sich auflösen, verschwinden, wieder zusammenballen; wenn er so ruhig über der kleinen Welt dasteht und Sonne, Luft und Wind um sich spielen lässt, wenn neben und unter ihm viele benachbarte Berghäupter, teils felsig, teils schneeig, sich strecken, bis sich der Blick in blauer Ferne nach Lausanne oder Genf verliert, dann lernt man den Mont Blanc in seiner Grösse kennen.

Ob nun die Menschen, die in diesen Naturschauspielen leben, dafür empfänglich sind? Die Frage lässt sich so leicht nicht lösen. Man hat es hier, wie überall in der Schweiz, mit einem zähen Menschenschlag zu thun; bedacht auf Gewinn, wenig mitteilsam von Natur, und eher derb als fein im Auftreten. Das Gegenteil wäre auch Wunder: St. Cergues liegt einsam, das nächste Walddorf ist eine Stunde entfernt; von der Ebene klettert trotz der ausgezeichneten Strasse nur mühselig, in fast 3 stündiger Fahrt, mit 4-5 Pferden, eine Postkutsche herauf. Die nächste Stadt ist schon auf französischem Gebiet, eine kleine Festung, Les Rousses genannt, und eine Stunde Fahrt entfernt. Da liegt denn St. Cergues im Frühjahr ungestört zwischen seinen Wäldern und Matten; der Sommer bringt für drei Monate eine Einwanderung von Fremden, die mit der Bevölkerung keine wirkliche Fühlung haben, und im Oktober fängt es an zu frieren und zu schneien, nachdem im September mit grosser Mühe die grünen Erbsen reif geworden.

Mit dem Frost stellt die Postkutsche ihre zweite tägliche Fahrt ein; der Wind fegt von der Dôle eisig herunter, das Wasser gefriert und der Schnee blokiert St. Cergues. Täglich wird der Schneepflug vor dem Postwagen hergeschickt, zu Mitte des Winters ist durch den zusammengedrückten Schnee die Strasse soweit erhöht, dass die Reisenden mit der Hand bis an die Telegraphendrähte des Weges reichen können, und um Fehlgehen bei plötzlichem Sturm zu vermeiden, ist die Fahrstrecke mit 10 Fuss hohen Stangen zur Rechten und Linken bezeichnet. In ihrer Einsamkeit bekommen die Dorfbewohner, wie man sagt, häufig Besuch von Wolf und Fuchs, und es sollen letztes Jahr nicht einmal die Katzen vor ihnen sicher gewesen sein; auch wollen die Bewohner des »Hexenhauses«, einer allein liegenden Farm, feurige Augen und haarige Tatzen Nachts am Fenster bemerkt haben.

Zu solcher Zeit sitzt am Ofen, wer kann, und das Dorfwesen lebt stille Tage. Schon im Sommer haben die Autoritäten nicht viel zu thun: die Erlasse des Gemeindevorstehers hängen wenig zahlreich und verstaubt im Kasten, und wen die Bestimmung über den Gebrauch des Pumpenwassers geniert, der sieht zu, dass sie vom Brunnen verschwindet. Der protestantische Pfarrer hält allsonntäglich eine Predigt; zur Schule kommt, was kann, und für weitere geistige Bedürfnisse ist die Gemeinde-Bibliothek da, die übrigens sehr viele und gute Schriften, hauptsächlich über die Landesgeschichte, enthält. In Sprache ist das Dorf französisch, in Bildung und Beschäftigung schweizerisch. So sind hier in der Gegend auch viele der Schweizer Hausindustrien ansässig: das Uhrenmachen und die Brillenindustrie. Ein Teil der Bevölkerung schnitzt Schindeln und Holzkisten. Die beiden Hauptarbeiten aber – und sie gehen Winter wie Sommer – bestehen in Holzschlagen und Milchwirtschaft.

Ersteres ist eine nicht ungefährliche Beschäftigung. Droben im Forst werden die Stämme gefällt, entzweigt und entrindet; und um eine regelrechte Ausbeutung der reichen Waldungen zu ermöglichen, haben die Kantone für bequeme, gut erhaltene Strassen gesorgt, die das Gebiet nach allen Richtungen durchschneiden. – Nun stehen die zu schlagenden Bäume aber nicht immer dicht an der Strasse, sondern im tiefen Forst, auf Höhen, in Schluchten, wo kein Weg noch Steg. Da heisst es denn für Mann und Pferd klettern, und zwar sind diese Schleifwege anscheinend so gefährlich, uneben, schlüpfrig, dass man einfach nicht glaubt, hier seien Zwei- und Vierfüssler mit einer schweren, ungefügen Last herauf oder herab gekommen.

Es geschehen denn auch eine ganze Zahl von Unglücksfällen, im ganzen aber entwickelt dies Gewerbe bei den Beteiligten die Muskeln und den Mut, nebst der Geistesgegenwart. Wer dieser Beschäftigung gar zu sorgsam aus dem Wege geht, wird über die Achsel angesehen. –

Es liegt auf der Hand, dass der Ort St. Cergues selbst dem Fremden nichts bietet; die Einrichtung der Häuser und selbst des vortrefflichen Hotels Capt ist sehr einfach; die Lebensmittel für den Fremdenverkehr werden in der Postkutsche heraufgeschleppt; der Handel beschränkt sich auf zwei Kramläden für Alles und das jährliche Dorffest mit Messe. Ein Fleischer stattet zweimal wöchentlich Besuch ab, und ein Arzt erscheint jeden Dienstag. Das ist alles; woher denn viele der zahlreichen Fremden, die der Sommer von Genf, Lyon und Paris herlockt, missmutig, in zweckloser Eleganz über die Dorfstrasse pendeln und in hellen Haufen das Posthaus umlagern, wenn die Diligence dort eintrifft oder abgeht. Dies und des Postboten Ankunft sind die grossen Ereignisse des Tages.

Die Anziehungskraft des Ortes liegt denn auch nicht in diesen beiden Dingen, sondern in der reinen Luft, dem Bergwind und den zahlreichen Wanderungen, die man von St. Cergues aus unternehmen kann. Etwa 10 km in der Runde ist ein Gebiet, das man bequem zu Fuss bestreicht, und zwar in Ausflügen von 4 bis 5 Stunden. Als Merkzeichen dienen der See im Süden, die Dôle und Barilette im Südwesten, Les Rousses und die französische Grenze mit dem Lac de Joux im Norden. Nach Osten zu ist das Land so unbestimmt, dass selbst ein vielbelachter Meilenstein nichts anderes zu sagen weiss, als: Montagnes et Forêts, Berge und Wälder.

Rüstige Fussgänger machen es sich denn zur Aufgabe und zum Vergnügen, dieses Gewirr von Bergen und Wäldern zu durchforschen. Sei es nach der ausgezeichneten Karte von Dufour (Genf), sei es auf gut Glück, macht man sich eines schönen Morgens, sagen wir gegen 6 Uhr, auf. Man wählt für gewöhnlich die Richtung der französischen Chaussee, Route de France, und marschiert unverdrossen drauf los, bis man rechts und links, kaum 50 Meter von der Strasse entfernt, Mauern aus lose geschichteten Steinen bemerkt und darin Pforten aus rohen Tannenstämmen. Solche Pforten deuten stets das Vorhandensein von Sennhütten an. Denn werden die Wälder von der Axt ausgebeutet, so bilden die grünen Triften und Berghänge eine zweite Quelle des Reichtums durch Viehzucht und Milchwirtschaft. – Seit undenklichen Zeiten vermieten die Waldgemeinden ihre Weideländer an die Dörfer der Ebene, während die eigene Dorfherde sich schlecht und recht an Wegseiten und Grabenborten durchschlägt. Da in der Ebene viel Acker- und Weinbau getrieben werden kann, was auf einer Höhe wie St. Cergues sich von selbst verbietet; und da gerade in der Ebene, in reichen Dörfern wie Crans, Trelex, Givrins, Genollier behäbige Bauern leben, Besitzer von beträchtlichen Viehherden, hat sich dieses Mietsystem der Bergweiden, die sonst ertraglos wären, herausgebildet, und das zum entschiedenen Nutzen beider Teile.

Der Handel wird zwischen den Gemeinden abgeschlossen, und ist der Schnee fort, so steigen die Herden, meist Kühe von rostbrauner Farbe und einige Stiere von untersetzter Gestalt, in die Berge. Sie kommen mit einem Höllenlärm, denn jedes Tier trägt eine Schelle, und die schönsten und stärksten einen »Toupin«, ein Ungeheuer von Glocke, das seine 8 bis 10 Kilo wiegt. Manche der Tiere sind auch mit Schleifen, Papierrosen, Bändern aufgeputzt. Der voranschreitende Hirt trägt Leinenjacke oder Kittel, Stulpenstiefel und Filzhut. Die Herden bestehen je nach Reichtum und Grösse der Gemeinden aus 40 bis 100 Stück. Die Mehrzahl davon gehört dem Pächter der Trift, d. h. dem begütertsten Bauern der Ebene. Er hat die anderen Kühe den übrigen Besitzern abgemietet und giebt ungefähr 70 Francs für eine gute Milchkuh. Dafür hat er allein dann auch das Erträgnis von Butter und Käse, die während der Weidezeit produziert werden. Meist bezahlt er mit einem Teil dieser Erzeugnisse den Pachtzins, etwa 30 Kilo Butter und 25 Kilo Käse für eine Trift. Diese Naturalien werden dann von der betreffenden Waldgemeinde zu gleichen Teilen an die Einwohner vergeben, ein ganz republikanisches Verfahren.

Dem einzelnen Pächter aus der Ebene liegt auch ob, die Senner zu bezahlen. Es sind meist 4 bis 5 bei einer Herde, und es werden dort ganz feste Rangverhältnisse eingehalten. Der erste und bestbezahlte ist der »Käser«, »le fromageur« oder auch »fruitier« genannt; denn statt Sennhütte, châlet, sagt man im Jura meist »fruitière«, z. d. Früchterei, indem man Butter und Käse als Früchte bezeichnet. Solch ein perfekter Käser erhält seine 3-400 Francs für die Weidezeit von 4 Monaten, Mai bis September. Nach ihm kommt der Käser zweiten Ranges, welcher zwar nicht versteht den fetten Schweizerkäse zu machen, wohl aber ein zweites, minderwertiges Fabrikat löblich herstellt, den Séret, einen weisslichen Papp; dieser Hirt erhält 200 Fr. Die anderen, welche solche Wissenschaft nicht haben, sich aber auf das Melken und die Behandlung des Viehes verstehen, beziehen 100 bis 150 Fr. für die Saison.

Es ist nun ein eigenartiges Leben da auf der Alm, und wer nur einmal flüchtig hinaufsteigt, macht sich kein rechtes Bild davon. Schon das stundenlange Wandern durch den schweigenden Forst hinterlässt einen seltsamen Eindruck: der Weg dehnt und windet sich, scheinbar endlos, durch Dick und Dünn. Plötzlich verliert er sich ganz; eine grosse, grüne Wiese thut sich auf, in Reih und Glied stehen Tannen mit vorgeschobenen Posten von zweien oder dreien. Von irgend einer Seite sieht man die kahle Dôle, die felsige Barilette. Man hört kein Tier, kaum dass ein Vogel singt; rings Steine, hoher Enzian, Tannen, grüne Trift. Es ist fast totenstill, von Menschen keine Spur. Ist man so auf sich selbst angewiesen, wird man mit der Zeit findig wie ein Indianer: wo der Weg plötzlich abzubrechen scheint, entdeckt man ganz leichte Spuren im Gras, und ist es Radspur, so findet sich, 1000 gegen 1, in der Richtung eine Sennhütte. Dann bleibt noch die Frage, ob sie augenblicklich bewohnt ist oder nicht; denn die Herden wechseln je nach Monat und Weidestand. Aber auch das lernt man bald erkennen. Diese Hütten sind auf eine Entfernung von 25 bis 30 Minuten von Einfriedigungen umgeben; trifft man auf solche, dann nur frisch hinübergesprungen, oder, falls man gerade das Thor traf, gesehen, ob es auf oder zu. Ist es auf, so sind die Vögel ausgeflogen und man findet nur die nackten Mauern und Totenstille. Es giebt aber noch ein anderes Zeichen für bewohnte Sennhütten. Oft wird man auf solchen Wanderungen, bei heissem Anstieg, freudig überrascht; denn von ferne bringt der Wind den Schall der Herdenglocken. Dann geht es noch einmal so frisch vorwärts in der grünen Waldeinsamkeit, und bald zeigt sich das graue Schindeldach der Sennhütte. Oft liegt sie im Thal, oft auf kleiner Höhe; allemal aber bietet sie ziemlich dasselbe Bild: vier niedrige, lange Mauern aus Steinen und Mörtel von gelb-weisser Farbe, kleine Fenster mit Glas, drei weite Thore in der Front, an der Schattenseite die Milch-, Butter- und Käsekammern; erstere mit vielen schmalen Fenstern ohne Glas, gleich Schiessscharten. Über dem niedrigen Rumpf hebt sich das hohe, sehr schräge Dach, bedeckt von zahllosen Holzschindeln; es trägt zwei kleine Mansarden und den Schornstein.

An allzugrosser Reinlichkeit leidet der Zugang der Sennhütten nicht, besonders an Regentagen. Auch ist das Pflaster uneben, schlüpfrig und von den Nagelschuhen abgeschliffen. Trotzdem wird solche Sennhütte stets mit Freuden begrüsst: im Sonnenschein giebt es dort frische Milch, im Regen ein gutes Feuer. Man tritt ganz frei zur Tür hinein und macht es sich bequem. Die Senner, mehr oder weniger an solche Besuche gewöhnt, fahren in ihrer Arbeit fort, werfen vielleicht einen Arm voll Reisig aufs Feuer und lassen sich ruhig betrachten.

Es sind mehr wetterharte als schöne Gesellen, und zu Königsgrenadieren würden wenige taugen. Im Gang gleichen sie den Seeleuten; sie wiegen sich nach rechts und links. Mit ihren groben Holzschuhen lärmen sie umher; sie tragen die Arme meist bloss in Jacken mit Puffärmeln wie die Hamburger Dienstmädchen und auf dem Kopf eine kleine Mütze mit Quaste; dazu wandeln sie meist in doppelter Hose einher; die untere ist beschaffen wie sonst ein solches Kleidungsstück, die obere, weiter und loser, dient mehr als Schürze. Trifft man die Leute gerade beim Melken, so wird das Komische der Erscheinung noch gesteigert. Die Hirten bedienen sich dabei eines einbeinigen Schemels aus leichtem Holz und tragen ihn an einem ledernen Riemen um den Leib geschnallt. Stehen sie nun auf, so hat der wackelnde Stiel etwas entschieden Schwanzartiges, und das Ungewohnte macht lächeln.

Im ganzen ist eine Sennhütte aber ein Muster von scharfsinniger Erfindung und durchaus nicht lächerlich. Sie enthält alles zum Handwerk Nötige, hat aber alles mit den einfachsten Mitteln beschafft. Steine sind hier billig, so ist denn der geräumige Stall, worin man die Tiere zum Melken einschliesst, gepflastert; gepflastert sind Butter- und Käsekammer, sowie der »Salon« der Hirten. Dieser ist ein ziemlich grosser, rechteckiger Raum, spärlich erhellt und voll von Gerätschaften. Da stehen 10 Fuss lange Tröge, aus Stämmen gehöhlt; Reisig liegt meterhoch geschichtet; aus krummen Ästen sind Gehänge gemacht, um die Melkschemel unter den Deckbalken zu befestigen. An der Thür sieht man geschnitzte Holzlöffel und die Butterform mit dem Hüttenwappen; an den Wänden befinden sich grosse Salzfässer, deren hölzerne Bänder über dem Feuer gekrümmt und noch schwarz sind. Eimer, Seiher und Bütten aus schneeweissem Holz und vortrefflich gearbeitet stehen in Reih und Glied. Diese Geräte kommen aus den Fabriken der Ebene, sowie die Käsepresse, das Butterfass, der grosse Kessel und die wenigen anderen Metallgerätschaften der Hütte. Das Übrige macht sich der Senner selbst. Er schlägt eine rohe Bank zusammen (ein Tisch ist Luxus), reisst einige Pflastersteine auf, und die Herdstätte ist fertig.

An diesen niedrigen Feuern kann man stundenlang sitzen; das Reisig brennt mit dunkelroter Flamme, und der Rauch steigt wirbelnd in den Schlot. Dieser Schlot, seine 15-20 Fuss hoch, verengert sich nach oben und lässt ein kleines Stückchen Himmel in das schwarze Rauchloch blicken. Regnet oder hagelt es, so fallen Tropfen und Schlossen zischend in die Glut, und der Wind rüttelt am Gebälk. Dann ist man auf lange Gefangener in der Sennhütte und lernt den ganzen Zauber dieses traulichen Herdfeuers kennen: während man still sitzt und in die Flamme starrt, hört man die Herdenglocken der Tiere im Stall; die Hirten singen auch wohl und jodeln eins. Zwischendrein tönt das Klappern der schweren Holzschuhe auf dem Pflaster; der grosse Kupferkessel füllt sich nach und nach mit frischer Milch, es riecht nach Tannen, denn die Hirten stecken stets einen grünen Tannenbusch in das Sieb, damit keine Unreinigkeiten mit unterlaufen.

Man fühlt sich in dieser Waldeinsamkeit, zwischen den einfachen Geräten, den Steinen, dem Reisig und Holz, dem Tier- und Tannengeruch, der Natur so nah; man lebt zugleich ein solches Stück primitiven Lebens; man sieht so deutlich, wie diese Umgebung ihre Menschen geformt hat; man ist unbewusst befriedigt, eine Sache gefunden zu haben, die gerade ist, wie sie sein soll, dass man darüber in allerlei Gedanken versinkt, während die Flamme knistert.

Und die Senner fühlen für ihr Herdfeuer denselben Reiz. Wenn sie bei Hitze oder Regen ihrer Herde nachgelaufen sind, beschmutzt und müde heimkommen, das Tagewerk beschickt haben, dann können sie stundenlang in der warmen Asche des niedrigen Herdes sitzen, die Pfeife zwischen den Zähnen. Manchmal wird erzählt, alte Geschichten, in denen die Kantonsschule mit Märchen kämpft; diese und jene sollen sich bis zum Kartenspiele versteigen. Meist aber sitzen sie einsilbig da. Manche von ihnen haben Gedanken, die sie aber nicht immer auszudrücken wissen; andere schnitzen, was ihnen so einfällt; viele brüten nur vor sich hin.

Wer aber viele Sennhütten besucht, der wird sich davon überzeugen, dass auch dort die moderne Erziehung anfängt, die Geister und die Zungen zu lösen. Man trifft dort gerade unter den jungen Sennern solche, die sich rasch zum fromageur hinaufarbeiten und neben ihrer mechanischen Arbeit ein ganz bewusstes geistiges Leben führen; deren Gedanken dann wiederum auf ihr Benehmen wirken und so einen Kulturmenschen des vierten Standes hervorbringen, der trotz anscheinend grober, schmutziger Arbeit ein ganz menschenwürdiges Dasein führt und sich der grossen Natur, darin er lebt, nicht zu schämen braucht.


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