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IV. Sociales Leben.
Frauenfrage.

Die französische Familie.

Danziger Zeitung. 27. Juli 1890.

Wir sassen zusammen in Fräulein Esthers Zimmer; die Lampe, welche mir zu Ehren den schönsten, rosenroten Schirm trug, erhellte den gemütlichen Raum, in dem alles geordnet, nichts aber steif war. Hier ein bequemes Sofa, dort ein zierlicher Korbstuhl, ein kleiner Nähtisch, einige Bücher, auf dem Kamin die Bilder von Familienmitgliedern und Bekannten; zu Füssen ein behaglicher Teppich, im Hintergrund der Alkoven mit dunklen Vorhängen. Durch das offene Fenster hörten wir das Brausen der grossen Stadt und das Rauschen der hohen Platanen auf dem Boulevard.

Es klopfte, und das Hausmädchen brachte den Thee. »Sie nehmen es nicht für ungut, es ist hier gemütlicher als im Salon«, sagte meine Gastfreundin. »Liebes Fräulein Esther,« antwortete ich, »es ist mir alles recht, denn es ist überall bei Ihnen gemütlich.« Das Fräulein lächelte und schenkte den Thee ein, während ich mich mit Behagen in dem Korbstuhl ausstreckte und nur bemerkte: »Was Sie für hübsche Tassen haben, und sehen Sie, um diesen kleinen Sahntopf würde meine Mutter Sie beneiden: Rosen und Vergissmeinnicht und zwei Schmetterlingsflügel als Henkel.« »Oh, ich habe eine ganze Sammlung Sahntöpfe,« erwiderte Fräulein Esther, »dieser ist das Geschenk einer alten Schülerin. Was haben Sie?« setzte sie hinzu, denn ich war in die Höhe gefahren. »Das ist ja Violine, wer spielt?« fragte ich, als aus dem oberen Stockwerk Musik zu uns drang. »Oh, das ist unser Nachbar, er spielt fast jeden Abend mit seiner Schwägerin, er Violine, sie Klavier.«

Während einiger Minuten schwiegen wir, dieweil oben ein Satz Mozart sehr schön und gediegen ausgeführt wurde. Zuletzt fragte ich mein Gegenüber: »Fräulein Esther, bin ich wirklich in Lyon, wirklich in Frankreich?« »Zweifeln Sie daran? Warum? Ist Ihnen irgend etwas wunderbar?« »Das will ich meinen. Seit drei Tagen bin ich wie im Traum; es geht bei Ihnen, in dem vielverschrieenen, sittenlosen Frankreich absolut so zu, wie bei uns im hochgepriesenen, sittenreinen Deutschland. Sie haben eine Häuslichkeit, wie meine Mutter sie nicht besser haben könnte. Als Sie mich neulich in Ihre Schränke gucken liessen, habe ich Dinge bemerkt, die jedes deutsche Hausfrauenherz erfreuen würden: feine Gläser, Porzellan, gemalte Teller. Die zierlichen Buchstaben auf dem Tischzeug haben Sie selbst gestickt; wer sorgt dafür, dass auf dem Kamin frische Blumen stehen? wer hat mich auf die hübsche Aussicht vom Esszimmer aus aufmerksam gemacht? wen fand ich jedesmal beim Nachhausekommen am Näh- oder Schreibtisch?« – »Sie sollen nicht so viel sprechen«, war die Antwort. »Um so schlimmer, ich muss es von der Seele haben. Sehen Sie, Fräulein Esther, von all diesen Haustugenden steht selten etwas in Ihrer Litteratur geschrieben, und doch sind sie da. Jeder Gegenstand in Ihrer Wohnung erzählt davon: die Klassiker im Bücherschrank und jener Band Gedichte mit Anmerkungen von Ihrer Hand; der Walter Scott und andere englische Romane, womit sich Ihre Schülerinnen unterhalten haben; das Bild Ihrer Mutter auf dem Ehrenplatz im Salon; tausend Kleinigkeiten, die alle dazu beitragen, diesen Zimmern jenen Charakter zu geben, den Sie selbst so gern mit unserem Wort ›heimlich‹ bezeichnen.« »Aber Kind«, sagte Fräulein Esther, »das ist doch alles so natürlich, es könnte garnicht anders sein, und ich finde auch nichts wunderbares darin.« – »Nein, Fräulein Esther, es ist auch garnicht wunderbar; der gesunde Menschenverstand genügt schon, um jedem klar zu machen, dass ein Volk garnicht ohne diese Haustugenden bestehen kann, ohne Ordnung und bescheidene Lebensführung; aber Sie wissen ja, nichts ist der Welt schwerer klar zu machen, als die einfache Wahrheit; die grössten Menschen sind bei solchem Bestreben gescheitert.«

»Und Sie wollen sich für uns in die Schanze schlagen?« fragte mein Gegenüber, aus schwarzen Augen lachend. – »Ja«, sagte ich. »Ich will zu Hause erzählen, dass ich eine echte Häuslichkeit in Frankreich mit leibhaftigen Augen gesehen habe, ja, darin gelebt. Will erzählen, dass Sie mich unbarmherzig und pflichtgetreu vor die Thür gesetzt haben, wenn Sie mit Ihren Schülern zu thun hatten; will erzählen, dass sich Ihr kleiner Neffe Polo ebenso vergnügt mit Clémentine, dem Dienstmädchen, jagt wie bei uns Kurt mit Rose. Und als wir neulich bei Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin Besuch machten, sie nicht fanden und wartend uns mit den Kindern die Zeit vertrieben, habe ich da nicht fortwährend an meine Neffen und Nichten denken müssen? Hatte die kleine Bande nicht wie bei uns ein eigenes Spielzimmer, so recht zum Toben? Musste ich nicht gleich Marthas Puppe betrachten, den kleinen Koffer mit eingraviertem Namen bewundern, aufschliessen, auspacken, so dass wir von allen Siebensachen umgeben, wie Trödler am Boden sassen? – Dann kamen die Eltern, es gab allgemeinen Jubel, und eine Familienpartie wurde verabredet, wie sie im Bilderbuch steht! Ihnen scheint das alles ganz natürlich, und so ist es auch. Neu ist nur für uns darin, dass alle diese einfachen und natürlichen Sachen in Frankreich geschehen. Ach, und das Aussergewöhnlichste habe ich noch nicht einmal genannt. Sie entsinnen sich, wir hörten gestern auf dem Marktplatz eine Abendmusik, und dazu fand sich auch Ihr violinspielender Nachbar mit seiner Familie ein.

Die drei Kinder waren dicht vor uns, Louis drückte seine Nase gegen das Geländer, wahrscheinlich um besser zu hören. Jean, der kleinste, der übrigens Wadenstrümpfchen trug und mit Wonne ein Stück Zucker verspeiste, das Grossmutter ihm mitgegeben, reckte sich auf Zehspitzen, wahrscheinlich auch, um besser zu hören. Marie, die älteste, aber trug eine Puppe auf dem Arm, so zärtlich wie nur je einer deutschen Hausfrau Kind dies thut, und als Jean des Stehens müde wurde, setzte sie sich, mit ihm und der Puppe auf dem Schoss, während Mama, die hinter uns sass, ihr beifällig zunickte. Sie müssen wissen, dass bei uns die Puppen lange nicht mehr so viel wie früher von den kleinen Müttern spazieren getragen werden, ich durfte also richtig erstaunt sein, noch so viel Einfalt in dem blasierten Fr ...« Fräulein Esther drohte mit dem Finger.

»Wissen Sie aber, dass ich mich dennoch wundere«, unterbrach sie mich dann. »Sie haben doch lange genug unter uns gelebt, um unser Familienleben zu kennen?«

»Verzeihen Sie«, war meine Antwort, »ich habe in Paris gelebt, d. h. in einer Grossstadt, wo der Kampf ums Dasein heftiger ist als in der Provinz; wo der Mann meist, die Frau sehr oft zu wenig Zeit haben, um ihre Häuslichkeit mit Musse und Behagen auszubauen; wo die Räumlichkeiten beschränkt sind, das Leben teuer und selbst gute, liebevolle Eltern den Kindern Entbehrungen an Freiheit, Luft, Bequemlichkeiten auferlegen müssen. Diese Seite des Pariser Lebens habe ich gründlich kennen gelernt, und Sie wissen sehr gut, dass ich mit dem Vorgesagten auf unsere gemeinsame Freundin anspiele, Madame Raimond. Die und ihr Mann sind unermüdlich thätig im Geschäft, das den grossen Magazinen gegenüber, trotz seiner Solidität, einen schweren Stand hat; beide haben stets den Kopf voll von Verbesserungen, Ankäufen, kaufmännischen Berechnungen. Beide nehmen lebhaften Anteil an Politik und allen sozialen Fragen; haben sie doch Zeit gefunden, in dem täglichen Gerassel ihrer geschäftigen Strasse eine Broschüre zu schreiben über die Centralisation und Übermacht des Kapitals in jenen grossen Handlungshäusern wie Louvre, Bon Marché, Allez Frères etc. – Dabei geht die Haushaltung allerdings wie am Schnürchen; wie gut bei Madame Raimond gekocht wird, wissen Sie selbst. Der Unterricht der beiden Knaben wird nie auf's geradewohl jemandem anvertraut, sie werden auch nicht unbeaufsichtigt laufen gelassen, sie sehen stets sauber und geschickt gekleidet aus. Freilich, sich mit ihnen hinsetzen und spielen, Geschichten erzählen und mit ihnen ausgehen, ausser an Festtagen, das kann Madame Raimond sich nicht leisten. Was aber, glauben Sie, verhindert unsere Freundin daran – Mangel an Zärtlichkeit für ihre Kinder oder die eiserne Notwendigkeit, welche im Geschäft die Frau neben dem Mann fordert, wenn nicht ihr ganzes Lebenswerk in die Brüche gehen soll? Und dieses Lebenswerk ist, die beiden Knaben vortrefflich zu erziehen und ihnen genug zu hinterlassen, um später ein etwas weniger aufreibendes Dasein zu führen. Wenn die beiden Jungen sich einmal verheiraten, so werden deren Frauen ein behagliches Familienleben führen, sich ihren Kindern ausgiebiger widmen und Leben und Haus mit all' den Kleinigkeiten schmücken können, welche Madame Raimond sich hat entziehen müssen, um der Aufgabe gerecht zu werden, die ihr Paris stellte.«

»Sie haben wohl recht«, sagte Fräulein Esther, »die tapfere Frau kann sich den Luxus grossen Gefühlslebens nicht gestatten. Aber ich glaube, es giebt noch andere Gründe, warum es in Paris schwerer als in der Provinz zum Familienleben kommt: Paris ist die Stadt des Vergnügens!« – »Gewiss«, sagte ich, »Paris hat seit Jahrhunderten das Amt gehabt, alle Vergnügungssüchtigen beider Halbkugeln zu belustigen; daher eine Unlast von Veranstaltungen und Plätzen zum Amüsieren, von der Oper bis zu den Vorstadtbällen; daher denn auch für jeden Ehegatten und Familienangehörigen, dem in den vier Pfählen nicht recht wohl ist, tausendfache Gelegenheit, sich zu zerstreuen, Unerquickliches zu vergessen, Ersatz zu suchen, kurz sich das Leben ausserhalb des Hauses so angenehm wie möglich zu machen und den Widerpart zu vergessen. Hand auf's Herz, wir müssten nicht die Menschen sein, die wir meist sind, um solche Gelegenheit vorübergehen zu lassen.«

»Das ist bei uns in der Provinz anders«, schaltete Fräulein Esther ein, »wir sind viel strenger in dieser Hinsicht, auch unsere unverheirateten Männer müssen sich in acht nehmen und es nicht gar zu toll treiben.« – »Und wissen Sie, warum ich glaube, dass die öffentliche Meinung in Paris in Fragen der Sittlichkeit so gänzlich vorurteilsfrei ist – bei uns nennt man es ›schamlos‹?« – Fräulein Esther schüttelte den Kopf. – »Weil Paris seit Urzeiten von Fremden überflutet worden, denke ich. Die französische Kultur war die höchste; von Nord und Süd und Ost und West kam man herangeflattert, wie die Motten ums Licht; man sah, man hörte, man genoss, zuerst schüchtern, dann dreister, sah auch die äusseren Formen ab, spielte bald mit eine Rolle. Euch nun lag die alte, klassische Kultur wirklich im Blut, in euren schlimmsten Stunden vergasst ihr eure Galanterie, euren guten Geschmack nicht. Anders bei den Fremden: sie hatten meist ein Stück Barbarei im Grunde ihres Koffers, und der Barbar kam früher oder später zum Vorschein. Dazu der Gedanke, dass man ja in der Stadt der Freude sei, dass man als Fremder wenig Rücksichten zu nehmen habe, dass einmal keinmal sei und Jugend austoben müsse. Malen Sie sich aus, welchen Einfluss besonders auf die weibliche Pariser Bevölkerung eine stetig wachsende Zahl von Fremden haben musste, die umhergingen wie das böse Tier aus der Bibel, das da sucht, wen es verschlinge.«

»Übertreiben Sie nicht?« fragte Fräulein Esther.

»Sie kennen Albert Wolf, den Mann, der für den ›Figaro‹ schreibt?« war meine Antwort. Fräulein Esther nickte. – »Und Sie glauben, dass der sein Paris kennt?« – Erneutes Nicken. – »Gut, seit Jahren hatte ich obenerwähnte Ideen in meinem Kopfe gerollt, ohne sie jedoch scharf zusammenzufassen; da bekomme ich vorige Woche Albert Wolf's Buch in die Hand: »La haute Noce«, – wenn Sie das Buch gelesen haben, werden Sie mich nicht mehr fragen, ob ich übertreibe.«

»Und was für Schlüsse ziehen Sie aus all' diesem?« fragte Fräulein Esther nachdenklich.

»Erstens, dass wahres Familienleben in Paris auf aussergewöhnliche Schwierigkeiten stösst, bestehend in Überarbeitung oder Übervergnügen. Zweitens, dass es aber nichts desto weniger bestehen kann und wirklich besteht, weil es überall Menschen giebt, die sich lieb genug haben, um einer Laune, selbst einer Leidenschaft zu widerstehen; weil es überall Männer und Frauen von Ehre giebt, die sich aus Selbstachtung verbieten, was man ihnen anstandslos zur Rechten und zur Linken zu gestatten bereit ist. Nicht immer ist der Geist willig und das Fleisch schwach. Aus diesen beiden Umständen ergiebt sich mein dritter Schluss, dahin lautend, dass der Fremde in Paris die französische Familie gemeinhin garnicht kennen lernt. Denn es ist selbstverständlich, dass bei obiger Sachlage eine glücklich und rein lebende Familie sich streng gegen jeden Unbekannten abschliessen wird. Ein oberflächlicher Verkehr wird wohl durch Empfehlungsschreiben in's Leben gerufen; ein Ball, ein Mittagessen bringt den Fremden wohl mit der Familie zusammen; nur ist sie dann nicht mehr die Familie. Ich halte es daher für ungemein selten, dass ein Fremder in ein französisches Haus gleichsam hineinwächst; dass er den Menschen wirklich in's Herz sieht, ihre Freuden und Sorgen teilen darf. Und weil Pariser uns ihre innersten Gefühle und wärmsten Neigungen nicht zeigen – sagen wir dann, sie seien deren bar, und ein Familienleben existiere nicht. Gehen Sie diesen fertigen Urteilern nun aber auf den Grund und fragen, ob sie sich denn wirklich bemüht haben, das Vertrauen einer guten Familie zu erwerben und ihr Leben kennen zu lernen, Sie werden oft seltsame Dinge hören. Die meisten kamen, um sich zu amüsieren, und nichts wäre ihnen peinlicher gewesen, als die Abende im Familienkreise bei einem knisternden Feuer in stiller Unterhaltung zu verbringen. Sie haben im Gegenteil den anderen, den familienlosen Pol der Gesellschaft gesucht; sie haben ganz natürlicherweise in Pensionen und Hotels gelebt, wo sie mit nichts als anderen Fremden zusammen kamen; sie haben vielleicht während ihres Aufenthalts nicht zehn echte Pariser gesehen, geschweige denn kennen gelernt. Auch darüber hat Herr Wolf ein sehr lehrreiches Kapitel geschrieben. – Andere haben wirklich ihr bestes gethan, um Zutritt zu französischen Familien zu erhalten, die oben angedeuteten, ungünstigen Verhältnisse haben ihre Bemühungen aber erfolglos gemacht. Sind die Betreffenden Menschen ohne Vorurteil, so werden sie trotzdem der französischen Nation, selbst in Paris, für einige hunderttausend ehrenhafter Familien Kredit geben, sich sagend, dass es sonst binnen kurzem zu allgemeinem Mord und Totschlag kommen müsste. Im anderen Falle kehren sie aber zurück und erhärten die Sage vom verderbten Frankreich, und das um so bestimmter, je mehr sie selbst mit dem Strome geschwommen sind. Was aber halten Sie, Fräulein Esther, von Leuten, die ihre schwarze Wäsche in Nachbars Wasser waschen und dann mit Stolz auf ihre weissen Kleider und den reinen Quell zu Hause weisen?«

»Jetzt lasse ich Sie kein Wort mehr sprechen«, sagte Fräulein Esther und zog mich neben sich auf das Sopha. »Hier ist ein Buch über Lyon mit hübschen Zeichnungen und alten Geschichten – –« – »Ich will schon, Fräulein Esther«, war meine Antwort, »aber erst müssen Sie mir erlauben, dass ich zu Hause von allem Gebrauch machen darf, was ich bei Ihnen gehört und gesehen.« – »Sie wollen davon erzählen?« wurde zurück gefragt. – »Sie wissen, Fräulein Esther, ich darf nicht sprechen.« – Fräulein Esther sah mich verständnisinnig an und sagte kurz: »Dann schreiben Sie, mein Kind.«


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