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Vossische Zeitung. 31. Mai und 7. Juni 1896.
Wer aus den Beziehungen Voltaires zur Marquise du Châtelet einen Roman machen wollte, hätte nicht viel zu thun, denn alle Elemente dazu sind vorhanden. Die Geschichte spielt, wie die gute, alte Tradition es will, »in den höchsten Kreisen«, die handelnden Personen sind Könige, Fürsten, Barone, Marquisen und Edelleute; Voltaire ist so ziemlich die einzige, nicht adlige Persönlichkeit, der wir begegnen. Paläste und Schlösser, Brüssel, Lunéville, Berlin, das vielgestaltige Paris sind der Schauplatz der Handlung. Liebe und Leidenschaft, Eifersucht und Qualen, Ränkespiel und Verrat fehlen nicht; mehr als einmal muss der Held in schleuniger Flucht sein Heil suchen, während die Marquise, um ihn zu verteidigen, auf der Bresche bleibt. Philosophische und politische Interessen, die Ideengeschichte der Menschheit und die Diplomatie spielen mit hinein, und das Ganze endet unerwartet tragisch mit dem Tode der Heldin: ein bunter Stoff, der schon die Memoirenschreiber der Zeit gefesselt hat; zu unserem Glück; denn ohne ihre Indiskretionen ständen wir vor mehr als einem Rätsel, weil uns vom Standpunkt unserer Zeit aus das selbstverständliche Begreifen einer solchen Figur wie der Marquise abgeht.
1706 geboren, war sie ein hochbegabtes und sehr wissensdurstiges Kind gewesen, das Latein lernte und mit 15 Jahren Vergil übersetzte. Mit 19 Jahren wurde sie an den Marquis Florent-Claude du Châtelet-Lomont verheiratet, der, ebenso alt wie sie, schon Generallieutenant im königlichen Heere war. Florent-Claude spielt nur eine untergeordnete Rolle in dem folgenden Drama: er war ein sehr braver Mann. Die Marquise nennt ihn einmal in einem kritischen Augenblick »l'homme le plus respectable et le plus estimable que je connaisse«. Aber er war nur gerade auf dem Durchschnitt in Bezug auf Intelligenz und hatte das Unglück, an eine hochbegabte Frau geraten zu sein. Das war von den kurzsichtigen Ehestiftern übersehen, als sie die beiden jungen Leute verheirateten. Die Marquise hat wohl nicht lange Zeit gebraucht, um die Mängel ihres Gatten zu erkennen, und da sie ein sehr starkes Temperament war, wird sie bald ihr Recht auf Liebe anderswo gesucht haben.
Zuerst sprach man von ihr und einem Herrn von Guébriant; es war von Seiten der Marquise keine gute Wahl. Sie mit ihrem leidenschaftlichen Temperament und ihrem Charakter, der nichts halb thun konnte, betrachtete die Liebe als ein ernstes Ding, mit dem nicht zu spielen sei. Der Herr von Guébriant hingegen liebte die Veränderung; er wurde der Marquise untreu, sie nahm kurz entschlossen Gift, und es war ein Zufall, dass man sie noch retten konnte. Dieses gewaltsame Ein-Ende-machen-wollen, dies: Alles oder Nichts, ist ein bleibender Charakterzug der eben so gelehrten wie leidenschaftlichen Frau.
Aber wenn es der Marquise auf Beständigkeit ankam, so war auch ihre zweite Wahl nicht gut. Sie fiel auf den Herzog von Richelieu, dessen Dasein eine einzige Folge galanter Abenteuer, dessen Leichtsinn allbekannt waren. Aber hatte die Marquise für Guébriant bald nur noch Verachtung gehabt, so wurde diesmal die flüchtige Leidenschaft von einer lebenslänglichen Freundschaft überdauert. Die Marquise folgte hierin einem Zug ihrer Zeit, der direkt auf Ninon de l'Enclos und die Société du Temple zurückgeht: wenn die Liebe in jenem Kreise aufhörte, setzte man die Freundschaft dafür; statt in erbitterten Szenen etwas einzuklagen, was sich nicht einklagen lässt, weil es eben Geschenk der freien Neigung ist, bewahrte man sich das dankbare Andenken schöner Stunden, indem man mit vollem Vertrauen und grossem Diensteifer in den hundert Wechselfällen des Lebens für einander eintrat. Dieser Zug ist für das Verständnis der Marquise notwendig und um so wichtiger, als er sie von vornherein Voltaires Art annähert. Voltaire hatte, fast noch als Knabe, jene Société du Temple und die über 80jährige Ninon kennen gelernt; er hatte als Jüngling dort verkehrt und zwei unverwischbare Eindrücke empfangen: die Nichtachtung der bestehenden Kirche und die Hochachtung vor der Freundschaft. So machte die Marquise, ohne es zu wissen, mit Richelieu, der Voltaire ein wohlgeneigter Freund war, Vorstudien für ihre Beziehungen zu Voltaire selbst. Er und sie lernten sich aber erst 1733 kennen, wo sie einander von einem südfranzösischen Schriftsteller, Dumas d'Aigueberre vorgestellt wurden. Die Marquise war damals 27 Jahre alt, gross, mager und starkknochig, von dunklem Teint und dunklen Haaren, mit grosser, breiter Stirn und starken Augenbrauen; der Mund war nicht hübsch, aber die Augen schimmernd meergrün und das ganze Gesicht, auch nach den Kupferstichen zu urteilen, angenehm und klug. Obgleich eine gelehrte Frau, deren mathematische Fähigkeiten schon besprochen wurden, und die am Kartentisch der Königin gesucht war, weil sie vortrefflich unglaubliche Summen im Kopf zusammenrechnete und mit grosser Umsicht den Schiedsrichter in streitigen Fällen spielte; trotz ihrer gelehrten Neigungen, die sie in die Einsamkeit riefen, konnte sie doch mit dem grössten Vergnügen wochenlang das gesellige Treiben bei Hof und in Paris mitmachen. Sie war dann ganz Weltdame, gab ungemein viel auf Toilette, liebte Putz und Tand in einem Maße, dass sie sich selbst darüber lustig macht und trieb in diesem bunten Gewimmel umher, der Lebhaftesten, Ausgelassensten eine, als hätte sie niemals mathematische Formeln und lateinische Autoren kennen gelernt, bis es ihr dann wieder einfiel, dass sie noch einige Probleme zu lösen habe. Dann zog sie sich zurück, wurde schweigsam, zerstreut für andere und warf dieselbe Kraft, mit der sie der Welt gelebt hatte, in ihre Arbeit. Auch dies ist wieder ein Zug, der sie Voltaire nähert; vollendeter Höfling und Geselligkeitsmensch, war er zugleich auch der vollendete Arbeiter. Die Arbeit ist ihm in den gefährlichsten Augenblicken seines Daseins treu geblieben, und der Marquise hat sie das Geleit bis an ihr letztes, verhängnisvolles Wochenbett gegeben. Der Mann, der die Marquise und Voltaire mit einander bekannt machte, führte also, ohne es zu ahnen, zwei verwandte Seelen zusammen, die auf der Suche nach ihresgleichen waren.
Voltaire, damals 39 Jahre alt, klagte zwar fortwährend über seine Gesundheit und gab sich immer für einen Todeskandidaten aus; aber das hinderte ihn nicht, einer der lebhaftesten, geistreichsten und reizbarsten Sterblichen zu sein, der bedeutendste Dramatiker der Zeit, der boshafteste Gegner und der beste Freund.
Zuerst fesselten Voltaire und die Marquise sich nur geistig, bald aber liebten sie sich. Im November bereits besuchte die Marquise den Dichter in der Rue du Long-Pont. Mit ihr kamen die Herzogin von Saint Pierre und deren Freund, der gesellige Graf Louis von Brancas-Forcalquier. Das war hoher Besuch für Voltaires niedere Hütte, und er setzte des Dichters Köchin in einige Verlegenheit. Aber die hohen Herrschaften waren nachsichtig und gefielen sich bei einem Hühnerfrikassee und dürftiger Kerzenbeleuchtung in der Rue du Long-Pont besser als an der Tafel von Versailles. Für die beiden grossen Weltdamen war dies heimliche Zusammentreffen ein verbotenes und daher köstliches Vergnügen, und die beiden Männer liessen sich diese Laune, die allen ein ungestörtes Beisammensein ermöglichte, sehr gerne gefallen.
Im August 1733 waren in England und in englischer Übersetzung Voltaires »Lettres philosophiques« herausgekommen, die grossen Eindruck und bedeutendes Aufsehen machten. Voltaires kühnes Vorgehen in dieser Schrift, die heute noch zu Recht besteht, hat sicher nicht wenig dazu beigetragen, ihm die Liebe der gleichfalls wagemutigen Marquise zu gewinnen. Aber der Schlag traf nur halb, solange das Buch nicht auch in Frankreich und in französischer Sprache erschien. Voltaire betrieb den französischen Druck heimlich, bei dem Verleger Jore, der ihm schon bei einer anderen Publikation geholfen hatte. Er that inzwischen allerdings, als ob er an ganz andere Dinge dächte, liess für die Aufführung seiner »Adelaïde du Guesclin«, die am 1. Februar 1734 glänzend durchfiel, proben, und begab sich im Anfang April nach Monjeu, um der Hochzeit des Herzogs von Richelieu beizuwohnen.
Da kam dort mitten in den Hochzeitsjubel die Nachricht, dass die »Lettres philosophiques« am 25. April mit Voltaires Namen veröffentlicht seien. Das war ein Streich, wie er Voltaire sein ganzes Leben lang gespielt worden ist. Wenn er vielleicht dem Verleger im Grunde nicht gram war, dass er die Bombe zum Platzen gebracht und das von der Regierung beargwöhnte Buch auf den Markt geschleudert hatte, so musste er desto empörter über den Verrat sein, der es unter seinem Namen auf den Markt warf. Das war Voltaires Absicht nicht gewesen. Er war ganz bereit, Regierung, Verwaltung und Kirche die Wahrheit zu sagen, aber er musste sein eigenes Werk verleugnen und abstreiten können: so sehr er es liebte, sich die Füsse auf dem Kamineisen zu wärmen, wenn das Feuer brennen wollte, zog er sie rasch zurück. Auch die Mauern der Bastille, die er aus zweimaliger Erfahrung kannte, und die Verbannung, die ihn nach England geführt hatte, lockten ihn nicht, und als er erfuhr, welchen Sturm sein Buch heraufbeschwor, dass sein Verleger in der Bastille sei, dass die »Lettres philosophiques« öffentlich verbrannt werden sollten, da griff er zu seiner nimmermüden Feder, schrieb an alle Welt und suchte darauf das Weite. Die Häscher, die man ihm nach Monjeu nachschickte, fanden das Nest leer: Voltaire war verschwunden.
Und die Marquise? Bei ihrem leidenschaftlichen Temperament war sie in tausend Ängsten um den Freund; aber sie war nicht die Frau, um händeringend stillzusitzen; sie handelt für den Abwesenden und übernimmt damit die eine Rolle, die sie bis zu ihrem Ende bei Voltaire spielt, die des thätigen Anwalts. Noch dreimal während der sechzehn Jahre ihrer Freundschaft tritt sie für Voltaire, der das Weite suchen muss, ein, verwendet sich, bittet, überredet, setzt alles in Bewegung, um Gefahren abzuwenden und eine ehrenvolle Rückkehr zu ermöglichen. Da sie diesmal das Unmögliche nicht erreichen, d. h. Voltaire die Erlaubnis zur Rückkehr nicht sofort auswirken konnte, stellte sie dem Philosophen ihr einsames Schloss Cirey in der Champagne, dem heutigen Département der Haute-Marne, zur Verfügung.
In das alte, wacklige Cirey zog Voltaire also ein, und es scheint mir nicht übel, ihn mit dem schlauen Füchslein zu vergleichen, das, etwas mitgenommen, in sein Malepartus schleicht. Nur war Voltaire nicht gesonnen, dass es lange Malepartus bleiben solle. Zuerst waren es nur die nötigen Fenster und Fensterrahmen, die er herrichten liess, bald aber scheint ihm der Gedanke gekommen zu sein, dauernd in Cirey zu bleiben, und er macht sich mit dem Eifer, den er wie die Marquise stets entfalteten, ans Werk.
Die Nachrichten, die seine gute Freundin ihm aus Paris schickte, waren aber immer noch nicht sehr befriedigend. Endlich im November konnte die Marquise Paris verlassen und Voltaire in Cirey besuchen. Sie kam an, wie der heilige Christ; Voltaire spricht von zweihundert Paketen und Kisten; aber es war trotzdem noch immer eine etwas polnische Wirtschaft in Cirey. Man hatte Betten, aber keine Vorhänge, Zimmer, aber keine Fensterscheiben, chinesische Schränkchen, aber keine Stühle, Wagen, aber keine Pferde. Freilich: »Madame du Châtelet au milieu de tout ce désordre rit et est charmante«. Doch das Winteridyll in Cirey dauerte nicht lange. Im Dezember noch ging die Marquise nach Paris zurück; sie nahm ein neues Drama des rastlosen Voltaire, seine »Alzire«, mit, das in Paris den Freunden, besonders d'Argental vorgelesen werden sollte. Voltaire, den die Abreise der Marquise wieder als einzigen Schlossherrn zurückliess, haben wir uns nun wohl meist am Kaminfeuer zu denken, behaglich zusammengekauert, wie eine frostige Katze, mit grossen, glänzenden Augen in die Glut starrend und mit den leichten Versen und lockeren Scherzen seiner »Pucelle« beschäftigt. Dies, sein Lieblingskind, hatte er jetzt wieder vorgenommen und arbeitete daran mit der Freude, die jedes verbotene Vergnügen mit sich bringt. Denn Voltaire war nicht ein Charakter, sich durch Regierungsmassregeln ins Gängelband einfangen zu lassen; er spottete und lästerte ruhig weiter, weil er vor der Kirche seiner Zeit nicht die geringste Hochachtung hatte und in ihr nur ein schädliches, überlebtes, aber noch fest organisiertes und sehr mächtiges Vorurteil sah.
Da erhielt er im März 1735 die Nachricht, er dürfe nach Paris zurückkehren. Ein Dankgebet gegen seine guten Freunde auf den Lippen, packt er den Koffer und eilt nach der Hauptstadt, wo er, sein Leben zwischen der Welt und dem Studium teilend, in der Marquise zugleich einen erprobten Freund und eine Freundin wiederfindet. Nun liess sich das alles sehr schön an. Die Feinde beneideten und die Freunde bewunderten Voltaire mehr denn je; er war der Mann des Tages, und die Regierung schien besänftigt; hätte Voltaire nur dem Kitzel widerstehen können, aus der »Pucelle« vorzulesen.
So wurde es ruchbar, dass der Philosoph, unverbesserlich, neue Pfeile schärfte, und kaum wurde es ruchbar, so hörte man es oben im Regierungsolymp grollen, und Herr von Voltaire machte sich schleunigst aus dem Staube. Wohin nun diesesmal? Wieder nach dem gastlichen Lothringen und zwar nach Lunéville, an den Hof des Expolenkönigs Stanislaus Lesczinski, mit dem die Châtelets befreundet waren.
Voltaire fand das Leben an dem kleinen, nicht übermässig etikettensteifen Hofe ganz nach seinem Geschmack. Stanislaus gab nicht viel auf das Essen, er speiste womöglich jeden Tag etwas früher zu Mittag, so dass man bereits sagte, er werde noch einmal am Tage zuvor für heute essen; hingegen schwärmte er für Theater und Musik. In all diesem stimmte Voltaire mit ihm, und wenn die französische Regierung glaubte, den Philosophen ins Exil geschickt zu haben, so war es ein sehr vergnügliches Exil in Lunéville.
Frau von Châtelet blieb wieder auf dem Posten in Paris, und im Juni erhielt Voltaire die Nachricht, dass er sich jetzt auf französisches Gebiet wagen dürfe; er wünschte sich nichts Besseres, und da die Marquise um diese Zeit nach Cirey kam, ging auch er dorthin.
Cirey war inzwischen wohnlich und freundlich geworden, ja, es nahm in einigen Räumen sogar einen Anlauf zum Prächtigen. Die Beschreibung, die wir von den Wohnräumen in Cirey haben, datiert zwar vier Jahre später, aber lieber einen kleinen Anachronismus begehen, als uns Voltaire und die Marquise noch länger ohne ihre so ansprechende Umgebung denken.
Voltaire, der um diese Zeit bereits ein recht wohlhabender Mann war, hatte sich an das Schloss einen eigenen Flügel angebaut, der ein kleines Vorzimmer, ein Arbeits- und Schlafzimmer, endlich eine grosse Galerie enthielt, in der Bücherschränke, physikalische Instrumente und Kunstwerke aufgestellt waren. Eine Thür führte in den Garten, die andere auf die Haupttreppe des Schlosses. All dieses hatte Voltaire auf eigene Kosten aufführen lassen, (bei Auflösung seines Haushalts 1749 zahlte der Marquis an Voltaire die Summe von 40 000 Fr. für den Schlossumbau). Die innere Einrichtung war gleichfalls reich und kostbar im besten Stile der Zeit. Das Schlaf- und Arbeitszimmer waren mit karmoisinrotem Sammet und Goldfranzen ausgeschlagen; Voltaire hatte eine Vorliebe für Rot, und bis in sein Alter hinein trug er ein rotes Wamms als Sonntagsrock. Schöne Täfelungen und gewirkte Teppiche, reizende Gemälde und Spiegel, die in die Wände eingelassen waren, zierliche, chinesische Lackschränkchen und kostbares Porzellan – es war beides damals Mode – eine Menge hübscher und kostbarer Kleinigkeiten waren ringsum verstreut, und »alles«, fügt die Beschreiberin, Frau von Graffigny, hinzu, »gehalten wie ein Putzkästchen«.
Die Galerie in heller Täfelung war wohl das eigentliche Arbeitszimmer: eine Venus, ein Herkules und ein kleiner Amor mochten Voltaire in das Gebiet der Kunst locken; aber er brauchte nur die Bücherschränke und die physikalischen Gerätschaften anzusehen, um wieder auf Wissenschaft und Philosophie gelenkt zu werden. Ein Sopha, Tische und Schreibtische standen umher, nur bequeme Lehnstühle scheinen gefehlt zu haben, wenigstens beklagt Frau von Graffigny den Mangel, hingegen erwähnt sie die sehr gute Ventilation der Galerie.
Von den Räumen der Marquise erfahren wir, dass das Schlafzimmer ganz in Blau und Mattgelb gehalten war, »bis auf das Hundekörbchen«. An das Schlafzimmer schloss sich eine Bibliothek, »zierlich ausgeschnitzt wie eine Tabaksdose«; daran ein kleines Boudoir, das Heiligtum; Frau von Graffigny hat nur einen Ausdruck dafür: »zum Niederknieen schön«. Und was Frau von Graffigny so entzückend fand, waren Wände in Hellblau, gemalter Plafond, kleine Watteaux als Füllung der Täfelung und als ganzes Ameublement ein einziger grosser, weisser Atlassessel und zwei kleine, dazu passende Tabourets. Und dieses »boudoir divin«, wie Madame Graffigny sich ausdrückt, ging auf die Terrasse des Gartens.
Weiter erzählt sie noch von einer »garderobe divine« mit Marmortäfelung, aber wir wollen es genug sein lassen. Was wir wissen, lässt uns verstehen, dass Voltaire und die Marquise gern in Cirey lebten.
Der unermüdliche Dichter war aber auch in Lunéville thätig gewesen. Er hatte dort die »Ermordung Cäsars« zum Abschluss gebracht, von der er sich eine grosse Wirkung versprach.
Leider knüpfte sich an diesen Erfolg ein hässlicher Streit mit einem alten Gegner Voltaires, Desfontaines, den ein Handel mit einem Buchhändler nicht verbesserte, und den eine widerwärtige Zänkerei mit Voltaires Nebenbuhler, Jean Baptiste Rousseau, höchst unerquicklich beendete.
Damit gingen Herbst und Winter 1735 auf 36 hin, und das blaue Boudoir und die grosse Galerie mögen mehr als einen von Voltaires masslosen Wutausbrüchen, mehr als eine der fast mütterlichen Ermahnungen der Marquise gehört haben. Denn sie hatte Voltaire gegenüber in dieser Zeit das Übergewicht des ruhigen, hellsehenden Verstandes, und er schreibt von ihr: »Tief in ihren Studien über Locke und Newton, schaut sie einen Moment von ihren Büchern auf, wirft einen flüchtigen Blick auf diese Vergänglichkeiten und beurteilt sie, nach diesem einzigen Blick, als ob sie sie seit Jahren studiert und durchdacht hätte.«
Die Marquise dachte von Voltaire ebenso hoch, wie er von ihr. Sie hatten zusammen Arbeiten vorgenommen, die sie vollkommen ausfüllten: beide studierten Newton, und beide gaben den grössten Teil des Tages an ihre Arbeit. Da man sehr spät schlafen ging, standen die beiden Hauptpersonen in Cirey auch nicht vor zehn, elf Uhr auf, was übrigens allgemeine Sitte des Jahrhunderts war. Der Kaffee wurde gemeinsam, meist in Voltaires Galerie getrunken und war nicht nur eine Mahlzeit für den Körper, sondern auch für den Geist, weil es meist witzig oder gelehrt zuging und wohl eine Stunde dabei verplaudert wurde. Um 1 Uhr assen die anderen Hausbewohner, der Sohn und der Hofmeister, und, wenn er in Cirey war, auch der Marquis zu Mittag, wobei Voltaire und die Marquise manchmal anwesend waren. Dann gingen sie, die eine in ihre Bibliothek, der andere in seine Galerie, setzten sich an die Arbeit und wurden gemeinhin bis 9 Uhr abends nicht mehr gesehen. Manchmal, wenn die Stimmung sehr gut oder etwas Dringendes zu verhandeln war, fand man sich wohl um 4 Uhr zu einem leichten Vesper ein; doch war das Ausnahme, und erst das Souper um 9 Uhr sah die beiden Gelehrten wieder zu den gewöhnlichen Sterblichen niedersteigen. Dann aber gab es ein Brillantfeuerwerk von Witz und Wissen. Voltaire erzählte vollkommen, die Marquise sprach vortrefflich, Freunde und Freundinnen aus Paris bildeten oft und gern eine aufmerksame Tafelrunde; und in der abgelegenen Champagne brannte damals das hellste Feuer Frankreichs, von dem aus die moderne Weltanschauung sich verbreiten sollte.
Und alle diese weittragenden, gefährlichen Ideen wurden in Cirey unter Lachen und Scherzen ausgesprochen und behandelt. Derselbe Voltaire, der nicht Spott genug für Kirche und Staat hatte, zeigte den Gästen des Abends die bunten Bilder einer Laterna magica, spielte ihnen lustige Parodien auf dem Marionettentheater vor; dieselbe Frau, die tagsüber in abstrakten Formeln lebte, war des Abends die vollendete Sängerin, denn sie besass, wie so viele Mathematiker, eine grosse, musikalische Begabung und zeigte Vorliebe für die klangreiche, italienische Musik Lullys. An Unterhaltung fehlte es also in Cirey nicht, und um das herkömmliche Ideal der adligen Schlossherren ganz zu erfüllen, pflegte die Marquise noch auszureiten und Voltaire auf die Jagd zu gehen; doch ist von seinen Nimrodsthaten nichts bekannt geworden.
Um diese Zeit erhielt Voltaire den ersten Brief des jungen Kronprinzen von Preussen. Der Brief, vom 8. August 1736 datiert, schliesst mit den Worten: »Ich bin mit all der Bewunderung und Hochachtung, die den Aposteln der Wahrheit und den Arbeitern für das Gemeinwohl gebührt, mein Herr, Ihr ergebener Freund.«
Voltaire antwortet umgehend: Friedrichs Schreiben habe Voltaires Eigenliebe geschmeichelt, aber noch weit mehr seiner Menschenliebe; denn ein Prinz, der Mensch und Philosoph sei, welch' eine Segnung für das Menschengeschlecht! Auch Voltaires Werke sollen dem Prinzen demnächst zugehen. Dann kommt ein zarter Punkt: Friedrich hatte seinen Brief gleich als Einladung geschrieben, Voltaire sollte nach Rheinsberg kommen. Voltaire antwortet darauf: »Es wäre für mich ein unschätzbarer Vorzug, Eurer königlichen Hoheit meine Aufwartung machen zu dürfen ... ein solcher Fürst ist wohl eine Reise wert. Doch halten mich hier in meiner Einsamkeit die Bande einer Freundschaft fest, die ich nicht zu lösen vermag, und zweifelsohne denken Königliche Hoheit wie der vielgeschmähte Kaiser Julian, dass Freunde den Königen stets vorgehen.«
Diese Zeilen zerstörten einen Lieblingswunsch Friedrichs, einen Plan, den er jahrelang hartnäckig verfolgte, und den er bei Lebzeiten der Marquise nie dauernd erfüllen konnte. Denn die Marquise stand auf ihren Schein und wusste sehr genau, welche Gefahr ihrem Glück zuerst von Rheinsberg, dann von Potsdam und Berlin aus drohte. Sie und der Kronprinz waren die geborenen Gegner, denn sie stritten beide um den Alleinbesitz des grössten Genies ihrer Zeit.
Immerhin, die Marquise konnte nicht in die Zukunft blicken; sie kannte ihren leichtbegeisterten Freund Voltaire, sie konnte die Vorteile, die ihm aus diesem Briefwechsel erwachsen mochten, nicht leugnen; daher war mit jenem ersten Brief Friedrichs ein Schatten auf ihr Glück gefallen, und seit jener Zeit lebt sie mit dem Gedanken und manchmal mit der Angst, sie könne ihren Freund verlieren.
Und das nicht nur durch Friedrichs Werben, sondern durch Voltaires eigene Unvorsichtigkeit. Eben hatte er sich eine neue Pulvermine unter den Füssen angezündet: er hatte ein allerliebstes Gedicht »Le Mondain« geschrieben und seinen Freunden geschickt. Der geistreiche Scherz war sehr bald in Abschriften verbreitet worden, »denn,« schreibt Voltaire, »obgleich ich meine Kinder sorgsam einschliesse (er that es nicht einmal), so sind sie doch öfter auf die Strasse gehüpft.« Und das Evangelium des Geniessens, des Luxus, das Voltaire im »Mondain« predigte, die Art, wie er sich über die paradiesische Nacktheit und Unschuld unserer biblischen Stammeltern lustig machte, von Adams langen Nägeln und Evas ungekämmten Haaren sprach, das alles erregte die Behörden und den bigotten oder auch nur frommen Teil des Publikums von neuem gegen den spottlustigen Dichter.
Zuerst lachte Voltaire über die Wut in Paris; bald aber merkte er mit seiner feinen Nase, dass es in seiner Nähe nach Scheiterhaufen roch. Was blieb ihm also übrig, als wieder sein Bündel zu schnüren und diesmal nach Holland zu gehen?
Das war im Dezember 1736. Er reiste unter falschem Namen, berührte Brüssel und Antwerpen, ging dann nach Amsterdam, wo eine neue Ausgabe seiner Werke im Druck war, und wo er, trotz des Abratens der Marquise, die Frucht seiner Cireyer Musse, die »Eléments de la philosophie de Newton« in Druck gab. Dass er auf der Flucht noch weiter fortfuhr, den Aufklärer zu spielen, war nicht gerade ein Zeichen von Unterwürfigkeit. Aber er reiste auch nicht als Flüchtling in Holland; sein Inkognito war nutzlos, in Brüssel spielte man seine Dramen, huldigte ihm dabei, und in Leyden kam man scharenweise, ihn zu sehen. Holland, das in Pressfreiheit und Denkfreiheit von jeher vorangestanden hatte, feierte den gefährlichen Mann aufs eifrigste.
Damit gingen Januar und Februar 1737 hin, qualvolle Monate für die Marquise, weil sie die leidenschaftlichere von beiden war und in ihrer Einsamkeit, trotzdem sie arbeitete, trotzdem sie allen Einfluss aufbot, um, durch Richelieu und d'Argental, Voltaires Rückkehr zu bewirken, doch mehr Zeit hatte, an ihn zu denken, als er in seinem wechselreichen Reiseleben an sie. Die Marquise schreibt damals an den Grafen d'Argental:
»Ich werde mein Leben damit hinbringen, ihn gegen sich selbst und andere – leider vergeblich – zu verteidigen, werde seine Fehler oder seine Abwesenheit schmerzlich beweinen. Das ist nun einmal mein Loos, aber es thut nichts; so wie es ist, ziehe ich es den sonnigsten Geschicken doch noch vor ... Ich bin nicht für das Glück geschaffen, ... meine Phantasie malt sich gleich alles in so düsteren Farben, dass ich in vier Tagen daran zu Grunde gehen kann.«
Endlich, Ende Februar 1737 kehrte Voltaire zurück, und bei dieser Rückkehr nach Cirey ergriff ihn zuerst das Spekulationsfieber (fast die Hälfte seiner Korrespondenz dieses Jahres besteht aus eingehenden Geschäftsbriefen) und dann das dramatische Fieber.
Die Korrespondenz mit Friedrich wurde zugleich eifrig fortgesetzt: philosophische Probleme – die Unsterblichkeit der Seele, die Teilbarkeit der Materie, die Freiheit des Willens – kamen aufs Tapet, wurden in langen Schreiben erörtert, und Friedrich zeigt sich von vornherein härter und folgerichtiger in seinem Denken als Voltaire, der sich lange Jahre mit der Unfreiheit des Willens nicht abfinden konnte. Nebenbei fielen auch einige Komplimente für Venus-Newton, d. h. für die Marquise ab, die gleichfalls einige Artigkeiten sagte; aber das war nur für die Form und von Herzlichkeit auf beiden Seiten keine Spur.
Doch flossen in Cirey die Tage weiter arbeitsam, angeregt und befriedigt hin. Im Januar 1738 wurden Voltaire in Paris zwar einige Nadelstiche versetzt, und er hatte mehrere schlaflose Nächte, weil sein Nebenbuhler Alexis Piron, den Voltaire einst mit Absicht schlecht behandelt und gereizt hatte, einen bedeutenden, dramatischen Erfolg mit einem Stück davon trug, dem ein, wie jedermann wusste, Voltaire selbst widerfahrenes Abenteuer zu grunde lag. Aber Voltaire hatte bald an anderes zu denken und grössere Interessen zu wahren. Die halbfertige Ausgabe seiner »Eléments de la philosophie de Newton», die er im Winter 1737 in Amsterdam zurückgelassen hatte, erschien plötzlich im April 1738 im holländischen Buchhandel. Voltaire raste: ihm konnte das den Hals kosten. Das Buch war unfertig, und es war verstümmelt, denn der Verleger, der es sich nie verziehen hätte, ein Werk des berühmten Voltaire in seiner Druckerei verschimmeln zu lassen, hatte einen »savant du pays« damit beauftragt, das Werk, so gut er es verstand, zu Ende zu führen. Ein liebenswürdiges Verfahren, dem gegenüber Voltaire machtlos war. Doch diesmal lief die Sache ziemlich glimpflich ab: derjenige Teil der »Philosophie«, der ihn am meisten gefährdet hätte, die Metaphysik, in der Gott, Willensfreiheit, Unsterblichkeit usw. erörtert wurden, lag noch unberührt von Verlegerfingern in Cirey, und der naturwissenschaftliche Teil: Physik, Optik, Mechanik, war so geschrieben, dass die französischen Behörden nichts auszusetzen fanden. Das französische Publikum aber riss sich um das Buch, und die kritischen Zeitschriften waren des Lobes voll.
Voltaire war die grosse Gabe verliehen, die Ideen anderer mit leuchtender Klarheit dem grossen Publikum darzulegen. Nicht er hat die moderne, antikirchliche, naturwissenschaftliche Weltanschauung erdacht, die er auseinandersetzte, aber er hat ihre Bedeutung, ihre Notwendigkeit erkannt, sie mit klingendem Spiel, fliegenden Fahnen ins Treffen geführt. Was Wunder, dass er in seiner Ausnahmestellung nach jedem neuen Erfolg auch von neuem angegriffen wurde! Diesmal kam der Schlag wieder aus dem Feldlager Desfontaines, der in seinen »Observations« ein Blatt zur eigensten Verfügung hatte. »Herr von Voltaire,« schrieb er, »ist zweifelsohne ein Dichter; geht die Natur aber so verschwenderisch mit ihren Gaben um, diesen Dichter auch noch zum Philosophen zu machen? Wer sich ein neues Wissen aneignet, fühlt sich ja immer sehr erhoben. Man arbeitet so eifrig, studiert so fleissig, schreibt das Gelernte für sich selbst auf, und dann überredet man sich leicht, dass die neue Errungenschaft auch dem Publikum nützlich sein könnte. So hat wahrscheinlich Herr von Voltaire gedacht, als er über Newton schrieb und dann das Geschriebene veröffentlichte.«
Demnach war Voltaire also ein eitler Knabe, der heute Schüler, morgen Meister, mit seinem hastig aufgelesenen Wissen prahlen wollte. Die Anklage war hämisch, frech und unwahr zugleich. Voltaire, diesmal nicht nur in seiner Eitelkeit, sondern in seinem gerechten Selbstgefühl getroffen, schwor sich zu, dem Kritiker den Garaus zu machen. Zwölf Jahre lang, von 1726 etwa bis zum heutigen Tage, hatte er sich mit Newton und dessen Entdeckungen beschäftigt, hatte er ihn mit Gelehrten wie der Marquise und Maupertuis diskutiert, studiert und erläutert. Wenn er ihn nicht verstand, so war es nicht Mangel an gutem Willen, Geduld und Intelligenz, und all dies wagte die kühne Feder des frechen Desfontaines, der von Newton kaum den Namen kannte, ihm abzustreiten!
Durch all seine Studien in der Überzeugung seiner wissenschaftlichen Kompetenz und Ehrenhaftigkeit fest geworden, ging Voltaire daher entschlossen auf Desfontaines los. Im Herbst und Winter 1738 auf 1739 tobt der Kampf zwischen ihnen: Voltaire beginnt mit einem giftigen Angriff, dem »Préservatif«, das er aber von einem Anderen mit Namen decken lässt. Desfontaines antwortet mit der »Voltairomanie«, die an Voltaire kein gutes Haar lässt, gleichfalls anonym.
Als dieses Giftbüchlein, Dezember 1738, nach Cirey kam, war Voltaire ziemlich schwer erkrankt und die Marquise fest entschlossen, ihm das Libell vorzuenthalten. Unbeantwortet durfte es aber nicht bleiben, vor allem musste Desfontaines als Verfasser festgenagelt werden; und die energische Frau setzte sich sofort hin, um mit Hilfe von d'Argental und Voltaires Pariser Faktotum Thieriot ihr Ziel zu erreichen, wobei sich der sogenannte »Freund« Thieriot als ein schwankes Rohr erwies, und die Marquise sich plötzlich in zwei Händel statt in einen verwickelt sah. Wohl oder übel musste Voltaire nun in Kenntnis gesetzt werden, wobei sich herausstellte, dass er die »Voltairomanie« schon kannte, aber wiederum seinerseits die Marquise mit dem Schandblatt hatte verschonen wollen. Beide führten nun zusammen die Korrespondenz mit Paris, den Freunden, dem Polizeidirektor.
Voltaire gewann in diesem unerquicklichen Streit die feste Überzeugung von der unermüdlichen Freundschaft der Marquise. Sie hatte nicht nur seine Korrespondenz für ihn geführt, sondern ohne sein Wissen auch eine Verteidigungsschrift für ihn geschrieben. Eine gemeinsame Freundin und damals Hausgenossin in Cirey verriet ihm das. Die Marquise schreibt darüber an d'Argental: »Voltaire hat sich sehr darüber gefreut, und das giebt mir nun das Recht, einige Änderungen in seiner Streitschrift zu verlangen. Ich will sie von ihm umschreiben lassen; er schimpft mir zu viel darin; er hat mir denn auch versprochen, dass garnicht mehr geschimpft werden soll.« Ein hübsches Wort und ein vortrefflicher Zug der Marquise, die so oft Voltaire in die Zügel griff, ihn zurückhielt und, da sie selbst nie Bosheit gegen andere übte, auch ihren Freund daran verhindern wollte.
Alle diese Streitigkeiten und Aufregungen hätten den Beteiligten wohl die Laune verderben können. In Cirey aber war man weit davon entfernt, und wir haben gerade aus dieser Zeit den Bericht der Frau von Graffigny, die damals auf mehrere Wochen zum Besuch kam und getreulich tagebuchartige Briefe an ihre Freunde in Lunéville schrieb.
Die schönen Tage des dauernden Aufenthalts in Cirey sind aber im Frühjahr 1739 für Voltaire und die Marquise vorbei. Eine neue Phase ihrer Freundschaft beginnt. Sie umfasst ihr gemeinsames Wanderleben in Brüssel, Paris, Lunéville und den langen Prozess der Châtelets um eine Erbschaft, in dem Voltaire durch seine Zähigkeit und Geschäftskenntnis der Marquise einen Teil der guten Dienste vergilt, die sie ihm in seinen litterarischen Fehden geleistet hatte. Damit ist aber auch das intimste Glück dieser beiden Menschen vorbei.
Den 8. Mai verlassen Voltaire und die Marquise Cirey. Man begab sich nach Brüssel, wo in der Rue de la Grosse Tour die Wohnung aufgeschlagen wurde und zwar für lange, mit voller, neuer Einrichtung, so dass Voltaire klagt: »Es ist der Einzug der Kinder Israel, ich habe mich einfach ruiniert.« Entschlossen, einen gewissen Aufwand zu machen, ging man auch in die Welt, vergnügte sich, besuchte den Herzog von Aremberg in seinem Lustschloss, sechs Meilen von Brüssel, wo die Marquise und auch Voltaire die Tage auf dem Theater, die Nächte am Spieltisch verbrachten. Inzwischen arbeitete Voltaire an zwei neuen Dramen, und die Marquise verbiss sich in die Mathematik. Sie hatte bei ihrer letzten Arbeit ihre mathematischen Kenntnisse unzureichend gefunden und ihren Kollegen Maupertuis um einen Lehrmeister gebeten. Der war in der Person des Mathematikers König erschienen, und die Marquise schreibt darüber: »Wenn er nur etwas aus mir machen wollte, aber ich bin ihm wohl zu dumm – auf allen Seiten will man mich zerstreuen, ach, und meine beste Zerstreuung wären Herr König und meine Rechentafel, wenn ich nur hoffen dürfte, etwas zu erreichen.«
Plötzlich wirbelt die Marquise aus ihren Brüsseler Ellipsen und Kreisen nach Paris davon; anscheinend rief sie ihr Prozess dorthin. Voltaire schmollt, klagt über diese Unruhe, geht aber doch mit, und, eifrig bestrebt, seine »Zulime« und den gefährlichen »Mahomet« auf die Bühne zu bringen, treibt er mit der Marquise auf der Hochflut der Pariser Geselligkeit umher. »Man erstickt mich unter Blumen,« sagt er schon jetzt. Ein kurzer Aufenthalt in Cirey folgt im November, und das Jahr 1740 findet beide wieder in Brüssel bei ihren gewohnten Beschäftigungen: Prozesschikanen, Mathematik bei der Marquise, Geschichtsstudium bei Voltaire. Er arbeitet am »Siècle de Louis XIV« und überwacht ausserdem den Druck des »Anti-Machiavel« seines kronprinzlichen Freundes, den dieser im holländischen Buchhandel erscheinen lassen wollte.
Dort in Brüssel erhielt Voltaire im Juli eine grosse Neuigkeit: »Mein lieber Freund,« schrieb Friedrich, »ich habe einen König sterben sehen; dies Schauspiel war nicht nötig, um mir die Nichtigkeit aller irdischen Grösse klar zu machen.« Dieser Brief mag Voltaire langes Sinnen verursacht haben. Wie wertvoll konnte für ihn, der über die Kirche so moderne, man sagte damals »philosophische« Anschauungen hatte, die Freundschaft dieses anscheinend lenksamen, jungen Fürsten sein! Vielleicht liess sich in Preussen der Grundsatz der religiösen Duldung und der bürgerlichen Freiheit, den Voltaire einst in England bewunderte, durchführen. Vielleicht sollte sich ihm in Preussen jener politische und diplomatische Einfluss bieten, den er in Frankreich vergebens gesucht hatte. Vielleicht konnte er den fremden Fürsten gegen die eigene Regierung, die ihn so abschätzig behandelte, ausspielen. Voltaire antwortete verheissungsvoll auf den Brief; mit Korrespondenz gingen Juli und August 1740 hin. Im Herbst führte eine erste Inspektionsreise den jungen König nach dem Westen seines zerstückelten Gebiets. Im September war er im Clevischen, Voltaire in Brüssel; man musste sich sehen, und so fand die erste Unterredung in Schloss Moyland statt.
Die Marquise war aber inzwischen nach Paris und an den Hof in Fontainebleau gegangen. War es ein äusseres Muss, das sie dazu zwang, oder wollte sie Voltaire nur Gleiches mit Gleichem vergelten und ihm zeigen, dass auch sie noch anderswo als von ihm begehrt und gefeiert sei? Vielleicht; sie verfolgte aber gleichzeitig Voltaires Interessen bei Hof und versuchte, ihm die Rückkehr nach Paris auszuwirken, als sie die Nachricht erhielt, dass Voltaire, den dringenden Bitten Friedrichs folgend, Anfang November des Jahres auf kurze Zeit nach Berlin gehen werde. Die Marquise glaubte Voltaire bereits für sich verloren. Ein Blick auf Voltaires Korrespondenz mit Friedrich hätte sie beruhigen können. Voltaire schrieb am 25. November ausdrücklich, er käme nur für »einige Tage seine Aufwartung machen«, und es sei eine unerlässliche Notwendigkeit für ihn, bald wieder in Angelegenheiten des du Châtelet'schen Prozesses nach Brüssel zurückzukehren. Aber diese Zeilen las die Marquise nicht. Sie erfuhr nur, dass Voltaire Anfang November wirklich abreiste, dass er in Rheinsberg und Berlin gefeiert und bewundert wurde, dass er mit der Königin-Mutter, den Prinzessinnen und Prinzen aufs beste stand; und mag sie sich immerhin an Voltaires Triumphen gefreut haben, er hatte sie für Friedrich verlassen können; und so schrieb sie am 23. November an ihren Beichtvater d'Argental, der, weil er selbst einen Sprung im Herzen hatte, solche Schmerzensausbrüche verstehen konnte: »Ich werde gut für alles belohnt, was ich in Fontainebleau ausgewirkt habe ... in drei Wochen gewinne ich Voltairen das Wohlwollen der Minister, die Rückkehr in sein Vaterland, kurz alles wieder, was er seit sechs Jahren verspielt hat. Und er dafür? Er geht nach Preussen und teilt mir das ganz trocken mit ... das ist beispiellos ... Ich gehe nach Brüssel, um ein Leben abzuschliessen, das im Grunde ja doch noch mehr Glück als Unglück aufzuweisen hat, und das von selbst in dem Augenblick aufhört, wo ich es nicht mehr ertragen könnte.«
Voltaire war Anfang Dezember aber schon auf der Rückreise; er kam gerade noch zur Zeit, um seine leidenschaftliche Freundin wieder mit dem Leben auszusöhnen. Beide nahmen ihr halb weltliches, halb philosophisch-klösterliches Leben wieder auf. Voltaire überarbeitete seinen »Mahomet«, den er vorläufig der Zensur wegen nicht auf die Bühne bringen konnte, und die Marquise studierte Leibniz.
Denn sie war von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung Newtons in die spekulativ-konstruierende Leibnizens zurückgefallen. Voltaire hielt nach wie vor an Newton fest; er bekämpfte sogar die Marquise in einer besonderen Schrift; aber als sie in einen gelehrten Streit verwickelt wurde, da korrigierte er, obgleich anderer Ansicht als sie, die Druckbogen ihrer Entgegnung durch.
Damit ging das Jahr 1741 bis zum Herbste hin, und während dieser Zeit ist es, umgekehrt wie sonst, die Marquise, die die Kriegsfackel schwingt und Voltaire, der den Friedensengel spielt. Der Rest des Jahres vergeht in Paris, Cirey und auf Besuch.
Im Januar 1742 sind beide wieder in Paris, und Voltaire merkt, dass er bei Hofe nach wie vor schlecht angeschrieben ist; das war ein Grund mehr, um ihm seine Beziehungen zu Friedrich wert zu machen. Schon bei seinem letzten Besuch in Berlin hatte der König ihn dauernd halten wollen.
Seit Voltaire aber 1740 Berlin verlassen, war Friedrichs Bedeutung für Europas Geschicke sehr gestiegen: es zeigte sich, dass dieser »Friedensfürst« sehr entschlossen Krieg führen konnte. Obgleich Friedrichs schlesische Erfolge in Frankreich nicht ohne Besorgnis gesehen wurden, glaubte Voltaire im Juli 1742 dem König doch ruhig schreiben zu dürfen: »Ich denke in erster Linie an das Menschengeschlecht; habe ich ihm aber ... eine Thräne geweiht, so freue ich mich von ganzem Herzen Ihres Ruhmes, Sire. Der wird vollkommen sein, wenn Eure Königliche Hoheit die Königin von Ungarn zum Frieden und die Deutschen zu ihrem Glück gezwungen haben werden ... Nur soll trotzdem mein Alexander möglichst bald wieder Salomo werden.«
Diese Zeilen konnten in Preussen nur gerne gesehen werden; in Frankreich und von Voltaire kommend, dem man gerade jetzt wieder sehr aufpasste, weil er seinen »Mahomet« auf die Bühne bringen und mit diesem »Mahomet« beweisen wollte, dass die Religion Hass und Verbrechen säet – in Frankreich war dieses Schriftstück für ihn nicht unbedenklich. Aber wie sollte es nach Frankreich kommen? Nun, im Sommer 1742 war es in Paris bekannt, und es steht heute wohl ausser Zweifel, dass die Indiskretion von Friedrich selbst ausging, der, sehend, dass er Voltaire nicht im guten zu sich herüberlocken konnte, nun Gewalt brauchen und ihn bei Hofe als schlechten Patrioten rettungslos blossstellen wollte.
Voltaire war ein viel zu feiner Diplomat, um die Untreue seines königlichen Freundes nicht zu ahnen; aber er war vorläufig nicht in der Lage, den Empfindsamen zu spielen. Durch seinen »Mahomet«, der endlich im Sommer 1742 dreimal aufgeführt und dann als »gefährlich« von der Bildfläche verschwunden war – Piron und Desfontaines, die alten Freunde, hatten die öffentliche Moral bei dieser Gelegenheit verteidigt – war wieder Gewitterluft um Voltaire geschaffen. Er besuchte daher gern seinen Freund Friedrich am 2. September 1742 in Aachen und that, als ob zwischen ihnen nichts vorgefallen sei. Nur hatte er der Vorsicht halber sich von der französischen Regierung zu dieser Reise ermächtigen lassen, denn er wollte nicht wieder durch seine Beziehungen zu fremden Mächten als schlechter Patriot hingestellt werden.
Im Januar 1743 waren Voltaire und die Marquise wieder auf mehrere Monate in Paris, Voltaire führte einen bedeutenden Schlag im Schilde. Sein »Mahomet« war abgewiesen, aber seine »Mérope« trug am 20. Februar einen grossen Erfolg davon; inzwischen war ein Platz in der Akademie frei geworden – den wollte er haben. Nun sassen in der französischen Akademie aber sehr viele geistliche Herren, und diese erklärten, dass der Spötter nicht auf ihrer Bank oder sie nicht auf der Bank des Spötters sitzen würden. Ein Bischof wurde ihm als Gegner aufgestellt, und der grösste, lebende Schriftsteller Frankreichs fiel bei der Wahl ebenso glänzend durch wie heutzutage Emile Zola.
Bei dieser Gelegenheit treibt Friedrich aber wieder sein doppeltes Spiel mit Voltaire. Dieser hatte ihm die Vorgänge in der Akademie mit beissender Satire geschildert, wie man eben an einen vertrauten Freund schreibt. Hierauf schickt der König am 17. August 1743 seinem Gesandten in Paris folgende Weisung: »Anbei ein Brieffragment Voltaires, das ich Sie bitte, auf heimlichem Wege und ohne dass Sie oder ich dabei ins Spiel gezogen werden, dem Bischof von Mirepoix (über den Voltaire am grausamsten gespottet hatte) in die Hände zu spielen. Es ist meine Absicht, Voltaire in Frankreich so unmöglich zu machen, dass ihm nichts übrig bleibt, als wie zu uns zu kommen.«
Voltaire ahnte vorläufig nichts von diesem Vertrauensbruch, sondern dachte mehr als je daran, seinen preussischen Freund warm zu halten. Die fortwährenden Stürme, die jede seiner Publikationen in Frankreich erregte, liessen ihn ernstlich daran denken, in Preussen ein Asyl zu suchen, und nur seine Beziehungen zur Marquise hielten ihn von einem entscheidenden Schritte zurück. Aber eine neue Besuchsreise in Berlin, warum nicht? Friedrich, der mit der einen Hand streichelte und mit der anderen kratzte, lud so dringend ein, dass Voltaire Anfang August sich wirklich von neuem auf den Weg machte und am 30. des Monats in Berlin eintraf.
Er kam diesmal nicht allein als Freund und Apoll. Diplomatischen Ehrgeiz hatte er stets gehabt; durch eine günstige Fügung waren Freunde Voltaires gerade jetzt in Versailles am Ruder; Friedrich war ein Mann, den man nicht übersehen durfte; vielleicht war für die französische Regierung aus der Freundschaft des Königs und des Poeten Nutzen zu ziehen.
Aber in Berlin führt man Staatsgeschäfte nicht mit Poeten. Wohl war Voltaire wieder der Held des Tages, angebetet, gefeiert, bewundert in Berlin wie in Bayreuth; aber als er Friedrich über seine politischen Absichten ausholen wollte, erhielt er garkeine oder die lächerlichsten Antworten. Allerdings wurden ihm auch jetzt noch glänzende Anerbietungen, die Voltaire jedoch ablehnte, und man schied in anscheinender Feststimmung. Aber das Glas, aus dem die beiden Männer zuerst auf das Wohl ihrer Freundschaft getrunken, hatte einen Sprung bekommen. Voltaire war inzwischen von dem zweiten Verrat Friedrichs unterrichtet, Friedrich hatte in Voltaire einen diplomatischen Geschäftsträger gesehen – ein Misston war in das Verhältnis gekommen, und am 12. Oktober 1743 reiste Voltaire wieder ab.
Vielleicht hatte er die in guten wie in bösen Tagen stets verlässliche Freundschaft der Marquise jetzt doppelt schätzen gelernt. Wir dürfen es annehmen. Sie hatte zwar während Voltaires Abwesenheit wieder an allem ge- und verzweifelt, und besonders hatte Voltaires, wie sie meinte, ganz unnötiger Aufenthalt in Bayreuth, wo er mit den Prinzessinnen schäkerte, sie gereizt, so dass sie wieder ihre Zuflucht zu d'Argentals Sympathie nahm. Aber sie blieb in ihrer leidenschaftlichen Freundschaft für Voltaire dieselbe, und als er diesmal aus Preussen zurückkam, und sie sich in Brüssel trafen, musste Voltaire ihr versprechen, dass er sie nicht mehr verlassen werde. Alles, was sich in den letzten Jahren zwischen beide gedrängt hatte, weicht in diesem Moment zurück. Die Marquise, in rastlosem Erkenntnistrieb, greift wieder zu Newton, um mit sich ins Klare zu kommen; wohl treiben beide noch eine Zeit im Gewühl von Paris und Brüssel, dann aber gehen sie nach Cirey, und im April 1744 schreibt Voltaire von dort aus: »Cirey ist entzückend ... Cirey ist ein Kleinod« – und das Übrige kann man zwischen den Zeilen lesen.«
Dies Stückchen Idylle steht am Eingang einer der glänzendsten Epochen von Voltaires Leben, seinen guten Beziehungen zu dem französischen Hof. Sie beginnen im Herbst 1744 und dauern bis 1747. Seine zwar erfolglosen, diplomatischen Bemühungen am preussischen Hofe, die er jedoch geschickt zu drapieren verstand, hatten ihm in Frankreich genützt, er hatte einige einflussreiche Freunde bei Hofe, er benutzt einige vaterländische Ereignisse, wie die Hochzeit des Thronfolgers, die siegreiche Schlacht bei Fontenay, um gefällige Ballets und zündende Verse zu schreiben, wird dafür Hofhistoriograph und Hofherr; 1745 gewinnt er eine neue Stütze an der aufsteigenden Favoritin, Madame de Pompadour; 1746 wird er in die Akademie gewählt; und während der ganzen Zeit wühlt er in staubigen Archiven, um mit äusserster Gewissenhaftigkeit die Feldzüge Ludwigs XV. zu beschreiben.
Sicher glaubte Voltaire, damals am Ziel zu sein und am französischen Hofe als Historiograph und Kammerherr dauernd Fuss gefasst zu haben. Da wehte ein Hauch in sein Kartenhaus, und es fiel um; einer ersten Unvorsichtigkeit folgte eine ungewollte Taktlosigkeit, er hatte Frau von Pompadour so stark gelobt, dass er dadurch die Partei der Königin von neuem gegen sich aufbrachte. Da erkennt Voltaire, dass für ihn mit des Hofes Mächten kein ewiger Bund zu flechten ist, und nach kurzem Aufenthalte in Cirey geht er 1748 mit der Marquise nach Lunéville.
In Lunéville lernte die Marquise diesesmal den schönen und interessanten Kavallerieoffizier kennen, der ihre letzte grosse Leidenschaft sein sollte, den Marquis von Saint-Lambert. Zwischen ihr und Voltaire waren die Dinge etwas anders geworden; ihre gegenseitige Freundschaft war in nichts vermindert und hielt wirklich wie Stahl, bis an das Ende. Aber der starke, lyrische Auftakt, mit dem diese Freundschaft begonnen hatte, war dahin, und statt zwitschernder Mandolinen und schluchzender Geigen spielten jetzt ernste Celli und Bässe in ihrem Orchester. Die temperamentvolle Marquise jedoch war mit ihren 42 Jahren in Liebessachen noch eine sehr junge Frau, Voltaire hingegen schon ein alter Herr geworden. Die Marquise, die immer exakt ist, spricht sich darüber, wieder an d'Argental, wie folgt aus: »Alter, Krankheit, vielleicht auch Überdruss, liessen ihn gleichgiltiger werden; ich habe es zuerst nicht gemerkt, ich liebte für zwei. Ein solches Band zerreisst nicht an einem Tage, und es hat Kämpfe gekostet, ehe ich soweit kam; alles habe ich verziehen, weil ich mir sagte, dass diese Ausschliesslichkeit und Treue der Leidenschaft, wie ich sie verstehe, anderswo wohl nicht zu finden ist. Nachdem ich dann begriffen hatte, dass dies von Voltaire Unmögliches verlangen hiesse, bin ich zur einfachen Freundschaft gekommen, und bei meiner leidenschaftlichen Liebe für die Wissenschaft war ich auch mit diesem Gefühle ganz glücklich. Aber immer nur Freundschaft? Das konnte mein heisses Herz nicht ausfüllen.«
Und nun führte ihr das Schicksal Saint-Lambert entgegen, denjenigen Mann, der mit seiner lässigen Grazie und seinem egoistischen Herzen Voltaire bei der Marquise und später Rousseau bei Frau d'Houdetot ausstechen und so in Liebessachen den Sieg des Weltmanns über die beiden grössten, französischen Genies des 18. Jahrhunderts verkörpern sollte.
Voltaire ahnte nichts davon, und doch hätte er es erraten können. Denn nie hatte die Marquise ihn bis dahin freiwillig verlassen, stets war er es gewesen, der sie für längere Zeit aufgab. Jetzt begannen auf einmal die Trennungen von ihrer Seite zu kommen. Im Herbst 1748, als Voltaire und die Marquise sich in Commercy wiedersahen, erfuhr Voltaire durch eine Unvorsichtigkeit des weltvergessenen Liebespaares, wie die Sachen zwischen Saint-Lambert und der Marquise lagen. Er wollte sofort abreisen. Die Marquise, kurz entschlossen, ging zu ihm, und nachdem sie zuerst behauptet, er habe sich geirrt, sagte sie ihm alles, was sie später an d'Argental schrieb: Es musste sein und konnte nicht anders kommen.
Und nun beginnt der fünfte Akt des Dramas, der so unnachahmlich französisch ist, der nur in einem Lande, wo die Gesellschaft hoch entwickelt und der gesellschaftliche Anstand erstes Gesetz ist, so gespielt werden konnte.
Voltaire erfuhr die Wahrheit von der Marquise und erfuhr sie von ihr als einer Frau, die nichts weniger als eine büssende Magdalena sein wollte. Die Freundschaft hatte sie nicht verraten, und Liebe liess sich nicht kommandieren. Wer wusste das besser als Voltaire? Wer hatte diesen Grundsatz hundertfach in der Société du Temple wiederholt? Das hiess ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Voltaire brauchte nicht lange Zeit, um die Marquise zu verstehen; er blieb. Saint-Lambert, ein wenig verlegen, kommt ihm seine Entschuldigungen machen, Voltaire umarmt ihn und sagt: »Mein Kind, das ist alles schon vergessen, ich habe unrecht. Sie sind in dem glücklichen Alter, wo man gefällt und liebt; geniessen Sie die Zeit, sie geht so schnell von hinnen. Ich bin ein alter Herr und habe der Welt Valet gesagt.« Und er schickt ihm ein allerliebstes Gedicht.
Voltaire war hierbei völlig aufrichtig, und an seiner Freundschaft für die Marquise war nichts geändert. Das bewies er bei den folgenden Ereignissen, die alle Beteiligten in grosse Bestürzung versetzten. Geschäftliche Angelegenheiten riefen die Marquise im Dezember 1748 nach Cirey, wohin Voltaire sie begleitete. Beide waren wieder mit Arbeiten beschäftigt, Voltaire mit Dramen, die Marquise mit einer Übersetzung der »Principes« Newtons, die Zeugnis von ihrer Wiederbekehrung zum wahren Glauben ablegen sollten. Die nachdenkliche Miene der Marquise, die sonst bei vieler Arbeit immer sehr heiter war, fiel Voltaire auf; er fragte sie, und die Marquise sagte ihm schlankweg, dass sie sich infolge ihres Verhältnisses mit Saint-Lambert auf ein höchst unerwartetes Ereignis vorzubereiten hätte. Voltaire war fest entschlossen, seine Freundin mit Anstand aus der Affaire zu ziehen. Zuerst beorderte er Saint-Lambert nach Cirey, und obgleich Voltaire bei der folgenden Beratung vorschlug, den zu erwartenden Weltbürger einfach unter die »Gemischten Werke der Marquise du Châtelet« aufzunehmen, so war doch von Anfang an unter den Beteiligten kein Zweifel, dass vor der Welt der Marquis als der Vater gelten müsse, und dass man, um den bösen Zungen zuvorzukommen, sich selbst am meisten darüber lustig machen wolle, die Marquise in einem Alter Mutter werden zu sehen, wo die ihr gleichaltrigen Frauen bereits Grossmütter waren.
Kaum war Saint-Lambert verschwunden, so rief man, vorgeblich in einer dringenden Prozessangelegenheit, den Marquis du Châtelet herbei. Er ahnte nicht, was ihm bevorstand; hatte er doch in Cirey nie eine grosse Rolle gespielt. Jetzt war er plötzlich der Mann des Tages; man hörte ihm zu, man war aufmerksam gegen ihn; er hatte nie vorher gewusst, wie gescheit und liebenswert er eigentlich sei. Er kam, er sah, er siegte und – er glaubte. Seiner geistigen Beschränktheit verdankte er die schönsten Wochen seines Aufenthaltes in Cirey, das er nun entzückt mit der Aussicht auf einen neuen Erben verliess. Aber Voltaire und die Marquise muss das Unwürdige, das Lächerliche und das Tragische dieses Spiels zugleich tief ergriffen haben. Bei der Marquise wog das Tragische vor; sie hatte schon öfters die Ahnung eines frühen Todes gehabt. Wohl klammerte sie sich nach wie vor mit eiserner Kraft an ihre Arbeit und übersetzte Newton, als sollte dies wirklich ihr letztes Werk sein; wohl ging sie mit Voltaire im Februar wieder nach Paris, wo sie die Erfolge der »Sémiramis« teilt und trotz ihres Zustandes, ganz wie früher, das aufreibende Gesellschaftsleben mitmacht. Aber sie litt jetzt in ihrer ausschliesslichen, zu leidenschaftlichen Extremen geneigten Natur ebenso um Saint-Lambert, von dem sie fast andauernd getrennt war, wie früher um Voltaire. Sie fand ihn kalt, ihren hübschen Liebhaber, und sie hatte recht; er war ein trefflicher Egoist, den die Leidenschaft der Marquise fast in Verlegenheit setzte; er war so sehr achtzehntes Jahrhundert, auch in der Liebe, so Louis quinze auf weisslackierten, goldgeäderten Spindelbeinchen, dass das prächtige, vollwiegende Renaissancemöbel, dem die Marquise glich, gar nicht zu ihm passte.
Die Marquise wollte aber wenigstens den Trost haben, ihn bei ihrer Niederkunft in der Nähe zu wissen. Sie benutzte daher die Gelegenheit, den König Stanislaus in Trianon zu sehen, und bat ihn, für die Zeit nach Lunéville kommen zu dürfen, was liebenswürdig zugestanden wurde. Inzwischen trieb sie ihre Arbeit mit fieberhaftem Eifer, und schrieb darüber an Saint-Lambert: »Lieben kann ich nur, was wir miteinander teilen – ich liebe Newton nicht, ich will ihn aber aus Vernunft und um der Ehre willen zu Ende bringen, lieben thu' ich nur dich.«
Voltaire blieb trotzdem auf dem Posten bei der Marquise; er war es auch, der sie nach Lunéville begleitete, und der, als sie am 4. September 1749 ein Mädchen geboren hatte, die Nachricht in zierlichen und scherzenden Billets der Welt verkündete. Sehr wenige Eingeweihte oder Scharfblickende ahnten den wahren Sachverhalt; der Marquis, Saint-Lambert, Voltaire, alle drei waren in Lunéville zugegen. Die Marquise befand sich zuerst sehr wohl, beging dann eine Unvorsichtigkeit, und als man die Gefahr gehoben wähnte und ihre Freunde alle bei Tisch waren, trat der Tod rasch und unvermutet ein. Saint-Lambert ist der letzte gewesen, der mit ihr gesprochen hat.
Sie hat in der Pfarrkirche von Lunéville die Ruhe gefunden, die das Leben ihrem leidenschaftlichen Herzen versagte; sie hat ihre letzte Arbeit, die »Principes de Newton« zu Ende geführt. Ihr kühler Liebhaber tröstet sich, ihr guter Marquis beweint sie aufrichtig, die Zeitgenossen und Genossinnen lästern oder loben ein wenig hinter ihr her; untröstlich und im Lobe unerschöpflich ist nur ihr bester Freund, Voltaire, geblieben.