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Frankfurter Zeitung. 19. und 26. April 1896.
Ein widerwärtiges Wetter regnete seit acht Tagen auf Paris herab; die schöne Schmutzstadt an der Seine verdiente ihren Namen Lutetia vollauf; alle zwei Stunden keuchten die grossen Bürsten der Stadtverwaltung über die Strassen und Plätze, eine Unzahl Strassenkehrer schoben gelben und braunen Brei in Haufen vor sich her, die Trambahngeleise waren in gräuliche Wasserläufe verwandelt, der Sturm wirbelte Hüte und Regenschirme um, zerzauste Kleider und Frisuren, war indiskreter als erlaubt und schüttelte manchmal sogar noch eine Hand voll Schnee in den gelben Mischmasch da unten, gerade wie ein Konditor, die Zuckerbüchse in der Hand, eine Torte bestreut.
Wer auf Gummirädern rollte, der nahm dem Wetter diese Launen nicht gar so sehr übel. Kutscher und Bediente freilich schimpften bereits weidlich über das ewige Wagenputzen und Pferdestriegeln; auch wer im Omnibus ein Plätzchen erwischte, dankte seinem Schöpfer, dass er nicht wie jene anderen in Lutetiens gelben Wassern umherzuplätschern brauchte und ertrug geduldig seine triefenden, dampfenden und duftenden Mitmenschen. – Wer aber ganz gewaltig über das »Hundewetter« klagte, das waren erstens die Hausdiener in der Rue Richelieu, wo bei der Enge der Strasse Schaufenster und Thüren von den Wagen bis in das Hochparterre hinauf bespritzt wurden, und zweitens der Pförtner des öffentlichen Lesesaals auf der Bibliothèque Nationale.
Dieser letztere Würdenträger war – nun eben ein Würdenträger, ein Mann, der das Bewusstsein hatte, ein Staatsamt zu bekleiden, und der daher in seiner gläsernen Loge, den Dreimaster mit Goldschnur und Kokarde auf dem Kopf, stolz wie ein gespreizter Pfau thronte.
Es waren gerade noch fünf Minuten bis neun Uhr; die Hände über dem Bauch gefaltet, sass er da: sein Öfchen glühte, sein Kohlenkasten war gefüllt. Um zwölf Uhr erwartete er sein wohlbereitetes Frühstück – Kotelett, Eier, Käse, Brot, und Wein – Monsieur Grandpré schnalzte bereits in Gedanken mit der Zunge – da begann die Uhr neun zu schlagen, und die Thüren waren zu öffnen.
Eins, zwei drei, vier – Monsieur Grandpré rührte sich nicht; fünf, sechs, er hob das rechte Bein, sieben, acht, das linke, neun – er öffnete die Glashaustür und stiess den Schlüssel in das Schloss. Sofort gab die Tür unter dem Druck einer Menge, die aussen gestanden hatte, nach, und ein Zug triefender Gestalten drang in den Hausraum. – Der Pförtner trat etwas verächtlich bei Seite und liess den Strom der »Leser« an sich vorbei über die Treppe zum ersten Stockwerk, wo der öffentliche Lesesaal lag, hinauffluten. Unwillkürlich folgte er den Jammergestalten mit den Augen und konnte so das allmähliche Verschwinden all' dieser ausgefranzten Beinkleider, zerrissenen Hosenböden, durchgestossenen Ellenbogen und verwetterten Hüte in Musse beobachten. Er empfand aber durchaus keine Zärtlichkeit für seine »Pensionäre«, wie er sie spöttisch nannte; er hatte gar kein Mitleid für diese Strolche und Vagabunden übrig, die sich in dem öffentlichen Lesesaal auf Staatskosten wärmen und trocknen kamen. Er duldete sie, weil er musste, und sie fürchteten ihn, weil er der Stärkere war.
Die klägliche Prozession ging inzwischen fort: Monsieur Grandpré zählte leise für sich: »40, 41, 42, 43 – halt« rief er und klopfte an sein Glasfensterchen, »Sie da, Sie«. – Der Ruf galt einem verkommenen Blousenmann, der gerade den Fuss auf die erste Stufe gesetzt hatte. – Der Angerufene that, als höre er nicht, und einige Eingeweihte drängten sich vor, damit er Zeit hätte, in das obere Stockwerk hinaufzuspringen. Doch Grandpré war aufgestanden, aus dem Glashaus getreten und sagte ganz ruhig von oben herab: » Sie gehen nicht herauf. – Sie haben sich neulich unanständig betragen. Raus, weg.«
Der Blousenmann duckte sich zusammen wie ein geschlagener Hund und schob sich zögernd, schlapp wie eine verregnete Hutfeder, in die nasskalte Strasse hinaus, wo er in ausgetretenen Schuhen elend weiterschlurfte.
Der Zug der Pennbrüder aber ging indessen fort; wohl hatten einige die Faust geballt und andere gemurrt, aber den meisten machte die Herausbeförderung des allbekannten »Dietrich« nur die Füsse noch gelenkiger; sie stiessen sich auf der schmalen Holztreppe, um nur rasch den sicheren Hafen zu erreichen, und Monsieur Grandpré zählte: 60, 61, 62, 63 ... Zweihundert Plätze waren oben im Lesesaal; war er bei 180 angelangt, so liess er keine Lumpaci mehr hinauf: die letzten 20 Plätze waren für die »anständigen Leser« freizuhalten.
Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, und die Flut hatte etwas abgenommen, als die Treppe von neuem knarrte. »96, 97« zählend, hob Monsieur Grandpré sein Ehrenhaupt. Es war ein ungleiches Paar, das da vor ihm stand; ein langer Strolch in geflicktem, gelben Rock und Hut, genannt Gros-Guillaume, und eine kleine, wohlgekleidete Dame, die Monsieur Grandpré ihren Regenschirm hinhielt und zugleich fragte: »Das ist hier doch der öffentliche Lesesaal?« – Monsieur Grandpré, der ihr den zierlichen Schirm zuvorkommend abgenommen hatte, antwortete darauf: »Jawohl, Madame, ganz öffentlich,« und er machte eine Handbewegung nach dem »dicken Wilhelm« hin, der, grosse Wasserspuren hinter sich lassend, die Treppe hinaufstieg.
»Nous sommes en République, Monsieur«, antwortete die kleine Dame und stieg gleichfalls die Treppe hinauf. – Am Saaleingang traf sie auf »Gros-Guillaume«. Man hatte ihn sicher zum Spott den »dicken Wilhelm« genannt, denn er war dünn wie eine Fadennudel. Zusammenklappend wie ein Federmesser, schlug er jetzt die Eingangsthür auf und liess die Dame voran gehen; dabei trug sein quittengelbes Gesicht einen unfassbaren Ausdruck, und Niemand hätte sagen können, liess er sie aus Höflichkeit oder Spott vorangehen.
Im Saal merkte man »Gros-Guillaume« gleich an, dass er hier zu Hause sei. Dauernd Wasserspuren hinter sich lassend – denn seine Schuhe waren ein völliges Reservoir – ging er bis zum dritten Tisch rechts, dicht am Ofen, wo »sein Platz« freigeblieben war (und zwar aus wohlbegründeter Achtung vor seinen stahlharten Fäusten), markierte ihn als »sein« mit dem gelben Filz, ging dann an das Bureau, wo er mit schwerer, aber leserlicher Hand auf dem Bestellzettel »Les Mémoires de Saint-Simon« verlangte und setzte sich dann bequem auf seinem Strohstuhl zurecht. – Die Füsse, wie er gern gemocht, auf den Ofenrand zu setzen, erlaubte ihm der Saaldiener nicht; da hiess es denn sie anders trocknen. Kunstvoll brachte er sie daher in eine schiefe Lage, so dass das Wasser von der Spitze seiner Schuhe in die Hacken und aus dem zerrissenen Hackenleder auf den Boden laufen konnte. Nach einer halben Stunde hatte Gros-Guillaume dann die Freude, zwei kleine Seen zur rechten und linken zu sehen und etwas »Land« in seinen Schuhen zu fühlen. Zur gleichen Zeit merkte er auch, wie seine linke Seite unter der Ofenwärme zu dampfen und zu trocknen begann; seine Rockschösse thaten das gleiche unter ihm, und er verbarg auf diese Art noch eine aufgetrennte Naht, die heute morgen, als er sein Lager (unter der Jenabrücke) verlassen hatte, meuchlings geplatzt war und ihn nun der Gefahr aussetzte, fortgewiesen zu werden. Denn Martin, der Saaldiener, hielt sehr auf Anstand, und wer das Unglück hatte, dass sein Gewand allzu durchsichtig und à jour gearbeitet war, der bekam gemessene Weisung, das Lokal zu verlassen.
Nun, von seinen Rockschössen bedeckt, glaubte Gros-Guillaume der Wohlanständigkeit völlig zu genügen, und so vertiefte er sich denn in die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon. Es war ein vielgelesenes Exemplar, aber Gros-Guillaume beobachtete nichts desto weniger die gute Sitte, jedes Blatt mit seinem angefeuchteten Finger umzuwenden, wie er es vom Pfarrer seines Dorfs gesehen; er hielt das für eine gelehrte Gewohnheit. Und Guillaume war gelehrt. Seit drei Jahren holte er seine geistige Nahrung regelmässig auf der Bibliothèque Nationale – die Zeiten ausgenommen, wo er wegen einer kleinen Unternehmung oder aus anderen Geschäftsgründen glaubte, sich unsichtbar machen zu müssen. – In diesen drei Jahren nun war er ein Kenner der Litteratur geworden. Er hielt nichts von den Abenteurer- und Schelmenromanen eines Paul de Kock, Eugène Sue oder Alexandre Dumas. Aber er versagte seine Anerkennung den Memoirenschreibern, wie Saint-Simon, Retz, Ligne etc. nicht, und vor allem pflegte er Bücher wie Maxime du Camps: »Paris et ses organes« zu studieren. Dort fand er Aufklärung über die grosse Stadt, die ihn umgab, lernte ihre Verwaltung, vor allem ihren Sicherheitsdienst kennen und verdankte diesem trefflichen Buch, das so genaue Auskunft gab, mehr als eine seiner glücklichsten Ideen.
Denn Gros-Guillaume, der von allen möglichen, kleinen Handreichungen, Nebendiensten und Auskünften lebte, verschmähte auch von Zeit zu Zeit einen wohlüberlegten, fein geplanten Diebs- und Beutezug nicht, und so kam es, dass er – wenn man Nässe und Kälte abrechnet – eigentlich ein sehr freies und verhältnismässig behagliches Dasein führte. – So lange es Sommer war, wohnte er bei Mutter Grün, im Bois de Boulogne oder den Buttes Chaumont; am Tage trug er den Reisenden Koffer, aber nur wenn es nicht gar zu heiss war; in der grossen Hitze ging er auch nicht gerne lesen, sondern sammelte sich seine Lektüre auf den Promenaden und Plätzen auf. Sein täglich Brot gab ihm Gott auf diese Art auch ohne sein Gebet. Die Extraeinnahmen jedoch erlaubten ihm dann eine Zeitlang sogar als grosser Herr zu leben, er rauchte »eigene«, und nicht mehr die Stummel, die er sonst vor den Theatern aufsammelte; er trank, was der Wirt hergeben wollte; er hielt die Kameraden frei, und kam die böse Zeit heran, so suchte er wieder sein Nachtquartier in Kähnen, Wagen, unter Brücken, wenn es hoch kam, in Pennen – er liebte es nicht, sein Geld für das »Ausstrecken des Kadavers« zu verschleudern – trug von neuem Koffer, hielt Pferde, besorgte Gänge, und hatte er einen Franken in der Tasche, so folgte er seinen höheren Neigungen und befriedigte seinen geistigen Hunger auf der Bibliothèque Nationale.
Während übrigens Gros-Guillaume seine Schuhe trocknete und seine Memoiren las, hatte sich der Saal fast ganz gefüllt; der andauernde, kalte Regen trieb einen nach dem andern von der Strasse herein, und in der Wärme des Raumes erhoben sich von den nassen Röcken leichte Dämpfe und von den ungewaschenen Körpern die eigenartigsten Gerüche.
Die kleine Dame hatte das bald gemerkt, und sie sagte sich innerlich: »Wenn ich nicht durchaus gezwungen wäre, diese acht Tage, wo der Arbeitssaal wegen der Osterrevision geschlossen ist, hier zu lesen, ich thäte es nicht. Wir sind zwar in der Republik, aber es ist hier wirklich scheusslich.«
Und dabei hatte sie sich doch wahrlich nicht zu beklagen: am Bureau war man gleich für sie aufgesprungen und hatte ihr das Bücherpacket übergeben, das vom Arbeitssaal für sie heraufgeschickt war. – Der Saaldiener hatte ihr einen Eckplatz gesucht und ihr sogar noch ein Lesepult und einen Papierschneider gebracht. – Die Stammgäste am Tisch hatten diese Höflichkeiten sehr wohl gesehen und ihr verächtliches Urteil in Ellbogenstössen, schiefen Blicken, Grimassen und leisen Kommentaren kund gegeben, sofern nämlich der gestrenge Martin den Rücken drehte. Der schien aber etwas von der revolutionären Stimmung des Tisches zu ahnen, er schritt würdestrotzend davor auf und ab, und als einige der »Leser« über ihren Büchern einnicken und den versäumten Schlaf nachholen wollten, rüttelte er sie unsanft auf, und einen Rückfälligen schickte er hinaus. – Eilfertig erschien an seiner Stelle eine andere, zerlumpte Gestalt mit grosser, roter Nase und nahm den leer gewordenen Platz ein.
Die kleine Dame versuchte inzwischen ihren alten Texten aufmerksam zu folgen, aber sie konnte es nicht. Hatte sie ihr erstes Unbehagen über die schlechte Luft und die abgerissene Umgebung halbwegs überwunden, so war ihr nun eine unbesiegbare Neugierde geblieben: sie musste immer wieder auf diese Kollektion von armen Schnapsbrüdern und bedauernswerten Hungerleidern sehen, immer wieder die wunderbaren Formen dieser Kartoffelnasen oder unglaublich spitzen Kinnbacken, diese Wolfszähne und Hängeohren, diese unrasierten Kinne, wilden Haare, blassen oder roten, fahlen oder braunen Gesichter schauen, die sich auf alle diese Bücher herniederbeugten. Sie fragte sich immer wieder: was verstehen sie davon? was sind sie? wovon leben sie? was waren sie früher? wie viele davon sind heruntergekommene Existenzen – –
Darüber wurde es Mittag, und ein leises Knuspern erhob sich in dem Saale. Aus den Taschen der zerrissenen Jacken und Hosen kam ein Brötchen nach dem andern, eine Kruste, eine zweite, ein Hörnchen, ja wohl gar ein Stück Chokolade hervor und verschwand bald rasch, bald in langsamen, kostenden Bissen in dem geheimnisvollen Innern der »Ritter vom Strassenpflaster«. – Wer nichts hatte, zog sich den Schmachtriemen fester; das war überhaupt eine sehr angebrachte Prozedur, denn die oft mit Bindfaden zusammengebundene Kleidung der »Leser« liebte es, beim stundenlangen Sitzen herunter zu rutschen.
Um ein Uhr war das leise Knuspern bereits längst verstummt; alles las, schlief, dampfte und trocknete; der Saal war gänzlich voll, und die kleine Dame, von Reue über das Versäumte geplagt, arbeitete ohne aufzusehen. – Erst um vier Uhr ging wieder eine Bewegung durch die Reihen: wie verschlafene Vögel schüttelte alles die Federn; die Bücher mussten abgegeben und der Saal geräumt werden. – Der lange Zug der zerlumpten Gestalten begann von neuem, trübselig zogen sie davon: es hatte so wenig Verlockendes, jetzt wieder in die nasskalte Strasse hinauszugehen, ohne Obdach, ohne die Aussicht auf einen warmen Bissen ... Aber sie mussten eben gehen, und – so gingen sie.
Am Ausgang – war es Zufall oder Absicht? traf die kleine Dame wieder auf Gros-Guillaume, und als er ihr von neuem mit jenem unsagbaren Ausdruck die Thür öffnete, sagte sie freundlich: »Merci, Monsieur, Sie sind sehr liebenswürdig.« Worauf Gros-Guillaume noch unsagbarer lächelte und hinter ihr rasch die Treppe hinunterging.
Er wollte übrigens der kleinen Dame folgen, sie interessierte ihn. War's Gaunergelüst, war es Sympathie? Er liebte es überhaupt, von Zeit zu Zeit einem Gesicht, das ihn frappierte, auf lange Strecken nachzugehen ... – So stellte er sich denn unten an der Rue Colbert auf, that, als ob er die Strassenanzeigen lese und beobachtete dabei ganz genau, dass ein blonder, junger Mann die kleine Dame empfing, ihr die Mappe abnahm, ihren Arm in den seinen legte und mit ihr die Rue Richelieu hinunterging. Beide unter einem Regenschirm, eng aneinandergelehnt, plauderten lebhaft.
Gros-Guillaume folgte so dicht wie möglich und hörte etwa folgende, abgerissene Worte: »Geh doch nicht bei diesen Strolchen arbeiten ... – –« »Nicht so schlimm ...« »Schlechte Luft« – – »einer – – sogar ganz höflich.«
Dann rief ihn ein Gevatter vom Pont-neuf an, und er liess die jungen Leute ihrer Wege gehen, da er selbst besseres zu thun hatte. Aber dass die kleine Dame ihn »höflich« gefunden, machte ihm Spass, und er dachte sich einen ganzen Roman aus, den er den Kameraden beim Schenkwirt »Zur toten Ratte«, untermischt mit Erinnerungen aus Saint-Simon, des Abends zum besten gab. –
*
Die jungen Leute waren inzwischen die Rue Richelieu hinuntergegangen.
Der junge Mann wiederholte noch einmal: »Lass dir doch Zeit; warum willst du dich in die Atmosphäre dieser Pennbrüder hinsetzen; warte bis der Arbeitssaal wieder auf ist.«
Sie aber bestand auf ihrem Entschluss und sagte: »Ich habe nur noch zwei Wochen in Paris, ich brauche sie für meine Arbeit; wird die Arbeit nicht fertig, so kann ich mein Examen nicht machen, und du weisst – – –«
»Ich weiss, dass du geschworen hast, mich erst nach bestandenem Examen zu heiraten,« fiel der junge Mann ein.
Sie nickte, und ohne weiter zu sprechen gingen sie, aneinandergelehnt, durch das Gewühl auf den Opernplatz. –
So aber kam es, dass Gros-Guillaume acht Tage hintereinander die kleine Dame auf dem Lesesaal traf. Er hatte sie das »Doktorchen« genannt und beobachtete sie mit einer gewissen Neugier; er hatte sogar versucht, einige Worte mit ihr zu wechseln, und am letzten Tage vor Schluss des öffentlichen Lesesaals – die grosse Osterrevision sollte auch für ihn beginnen – wollte der Zufall, dass Gros-Guillaume seinen Stammsitz von einem dicken Rentner besetzt fand und sich vergebens nach einem freien Platz umsah.
Schon wollte er schweren Herzens wieder den Rückzug antreten, als das »Doktorchen«, das über zwei Stühle verfügte, einen, um darauf zu sitzen und einen, um seine Bücher und sein Portefeuille darauf zu legen, Gros-Guillaume einen Wink gab und ihn einlud, an seiner Seite Platz zu nehmen.
Dem »Dicken« wurde ganz eigentümlich zu Mute; er wollte eigentlich ablehnen und den Stolzen spielen, aber er konnte nicht. »Merci, Madame,« sagend, setzte er sich nieder, bestellte den endlosen Saint-Simon und sah dann mit einer gewissen Genugthuung, wie das hübsche Portefeuille aus schwarzem Leder mit verschlungenen Goldbuchstaben auf der Erde liegen und dem »Ritter vom Strassenpflaster« den Platz räumen musste.
Die zierliche Mappe fesselte überhaupt seinen Blick; er taxierte sie, er taxierte das »Doktorchen«: die Stiefel waren neu, das Kleid aus einem warmen Stoff, der Paletot gleichfalls, das Hütchen war vielleicht nicht viel wert – aber sie trug eine kleine, goldene Uhr ... und dann las Gros-Guillaume wieder weiter von den Intriguen am Hofe Ludwigs XIV., den Summen, die dort verausgabt wurden und brummte vor sich hin: »Sales cochons!« –
Als nach einer halben Stunde sein Blick wieder auf das Portefeuille fiel, sah er auf der Kante desselben ein blankes Zweifrankenstück liegen. Der Anblick fuhr ihm in die Glieder: wo kam es her? konnte er es in seine Tasche zaubern? Er starrte darauf hin und überlegte: Wenn er einen Fuss darauf setzte, so liess es sich vielleicht bis unter seinen Stuhl schieben. Doch gab er den Plan sofort wieder auf: seine Schuhe waren so unförmlich gross, dass sie durchaus des »Doktorchens« Aufmerksamkeit auf sich ziehen mussten; auch waren sie so morsch, dass er sich nicht getraute, in ihnen fest aufzutreten und stark nachzuziehen. Doch das Geldstück lockte und lockte. Da fasste er einen kühnen Entschluss, liess den Lumpen, der ihm als Taschentuch diente, auf die richtige Stelle am Boden fallen und mit raschem Griff fuhr er dahinter her, um Lümplein und Geldstück einzustecken.
Das Doktorchen rührte sich nicht. – Erst als Gros-Guillaume wieder seine ehrbare Lektüre vorgenommen, fragte sie ganz leise: »Gefunden?«
Und als Gros-Guillaume dann doch etwas erstaunt war, setzte sie hinzu: »C'est pour le tabac«, und dazu machte sie ein ebenso undefinierbares Gesicht wie Gros-Guillaume selbst, wenn er ihr die Tür öffnete. –
»C'est pour le tabac«, dachte er bei sich, »pour le tabac, na, er ist stark, der Tabak. Hat mir also einen Streich spielen wollen, der kleine Satan ...«
Aber er konnte nicht umhin, den Streich sehr gut zu finden.
*
Ein Jahr etwa war vergangen, der lieblichste Frühling schmückte Paris, sogar der Square des Batignolles, da draussen im Norden an den russigen Schienensträngen und den gottverlassenen Festungsmauern, war hübsch in dem goldenen Sonntagsvormittagssonnenschein. Unter anderen Spaziergängern kam auch ein junges Paar daher; es war das »Doktorchen«, das seinen Bibliothekar geheiratet hatte, und die nun beide, von einem Ausfluge zurückkehrend, ihrem jungen Ehenest an der äussersten Stadtgrenze von Paris zuschritten.
Sie waren beide so glückselig in einander vertieft, dass sie nicht viel auf die spielenden Kinder, die Hunde und die Sonnenbrüder achteten, die sich auf den Bänken wärmten.
Plötzlich jedoch drehte sich die junge Frau um: »Da ist ja mein Freund aus dem öffentlichen Lesesaal, wahrhaftig, es ist le tabac, ob er mich noch wiedererkennt ...?«
Und er erkannte sie wieder: ein Lächeln stahl sich über sein gelbes Gesicht, er führte die Finger an die Nase, als ob er schnupfen wolle, rückte mit der anderen Hand den Filz und sah den beiden noch nach, als – sie mit leichtem Kopfneigen – er mit rasch abgezogenem Hut – an ihm vorübergeschritten waren. – »Hast du noch mehr solche elegante Freunde?« fragte der junge Mann lachend.
»Du weisst, ich habe nie sehr aristokratische Neigungen gehabt,« entgegnete sie, »und der arme Tabac ist stets höflich zu mir gewesen.«
»Ja, er hat sogar dein Geld aus reiner Höflichkeit genommen.«
»Du irrst; ich hatte es für ihn dahin gelegt; ich konnte es ihm nicht, mir nichts, dir nichts anbieten, er hat mich ganz richtig verstanden.«
»Vielleicht, mein Herz,« sagte der junge Mann, »wenn man das Gute denkt, wird man dich immer recht verstehen.«
Damit waren sie in ihrem Heim angelangt.
Es war ja wirklich sehr hübsch, dies kleine Heim, aber zugleich auch sehr abgelegen, und da die beiden jungen Eheleute im Winter zweimal in der Woche spät abends in der Stadt Vorträge zu halten hatten und nicht vor ein Uhr nachts nach Hause kamen, so empfanden sie die Unsicherheit des Stadtteils bald recht unangenehm. Nach Sonnenuntergang war es wirklich nicht mehr geheuer in den schwarzen Strassen, an den langen, öden Umfassungsmauern.
Zuerst hatten sie zwar alle beide gelacht und einen Revolver in die Tasche gesteckt; aber es kamen bald in ihrer nächsten Nähe so viel ärgerliche Geschichten, ja mit der steigenden Kälte und Not so viele nächtliche Angriffe und Beraubungen vor, dass diese einsamen Nachhausewege für beide viel von ihrem anfänglichen Reiz verloren.
Das »Doktorchen« lachte zwar noch immer und erklärte: »Wenn mir jemand was thun will, kommt mein Freund Tabac und befreit mich,« aber der junge Bibliothekar war von der Allgegenwart und Ritterlichkeit des edlen Tabac durchaus nicht so überzeugt, und als er an einem der Vortragsabende wegen gänzlicher Stimmlosigkeit zu Hause bleiben musste, da hielt er dem »Doktorchen« folgende Rede: »Ich weiss zwar, dass du keine Angst hast, aber ich bitte dich, wenn du nun heute auch die Ehre der Familie allein wahren musst, doch nicht etwa um Mitternacht auch allein nach Hause zu kommen ...«
»So? Ich soll mich wohl von einem schönen, jungen Mann begleiten lassen ...?« lachte sie.
»Nein, aber du sollst dich einem Droschkenkutscher anvertrauen und rasch zu dem schönen, jungen Manne gefahren kommen, der dich hier sehr ungeduldig erwarten wird. Versprichst du das?«
»Ich verspreche,« sagte sie, wickelte sich in ihren Mantel, nahm ihr schönes Portefeuille unter den Arm, warf noch einen Blick auf ihr reizendes Heim, auf den blonden Lockenkopf am Kamin und eilte zur Thür hinaus.
Der junge Bibliothekar folgte ihr mit den Augen: wie stolz er war, dass seine junge Frau ihn so vertreten konnte! Dann blieb er lange Stunden behaglich am Kamin sitzen, trank gehorsam warmen Thee, versuchte etwas zu arbeiten, wurde aber schliesslich so müde, dass er sich auf den Divan warf und beschloss, dort auf das »Doktorchen« zu warten.
Er wartete auf sie, indem er einschlief.
Plötzlich fuhr er auf: die Lampe war erloschen, nur der rote Schein des Kaminfeuers glimmte noch im Zimmer. Er fühlte aber, dass er nicht allein sei.
»Doktorchen«, rief er.
»Ja – was ist?« kam die Antwort, aber mit einer so seltsamen Stimme, dass der junge Mann sofort aufsprang und Licht machte: er sah seine junge Frau in Hut und Mantel an dem verglimmenden Kamin sitzen, das rote Licht funkelte auf etwas Stählernem in ihrer Hand.
Der junge Mann kniete neben ihr nieder: »Was ist?«
»Tabac lässt grüssen,« sagte sie.
»Wie, ›Tabac?‹ Du bist zu Fuss gekommen?«
»Ja ... ich fand keinen Wagen mehr ...«
»Verdammt ...«
»Jawohl ... dann ... wurde ich angefallen ...«
»Wo?«
»Hier an der Gare des Batignolles.« Sie hielt ihm den Revolver hin; ein Schuss war heraus.
»Wie denn?« drängte er atemlos.
»Es waren drei – ich hatte sie schon kommen sehen – du weisst, ich gehe nie scharf um Ecken, sondern immer in der Strassenmitte – ich machte mich also bereit, auf fünf Schritte gab ich Feuer – – trotzdem – sie waren in der Übermacht, und ich wäre ... jetzt bereits in eine bessere Welt befördert, hätte ich nicht ... in meinem Ärger über diese Feigheit: Ihr gottverdammten Lümmel! geschrieen. Das wirkte Wunder ... Einer von ihnen, der mich bereits gefasst hatte ... schob die anderen ab, rief ihnen etwas zu – ich glaube ... so etwas wie: ich werde schon allein mit ihr fertig – und während ich gerade zu einer gewaltigen Ohrfeige ausholen wollte, um meinen Revolver frei zu bekommen, zerrte er mich an die nächste Laterne: Sie sind es doch, Madame? C'est pour le tabac. – Damit galoppierte er davon ... und ich ging langsam hinter ihm her ... bis nach Hause. Er war ja mein bester Schutz, denn von Polizeisoldaten oder Passanten keine Spur. – Und du wirst dich noch über meine Freunde von der Bibliothèque Nationale lustig machen?« – setzte sie hinzu.
Er war sehr weit davon, sich über irgend etwas lustig zu machen, der junge Bibliothekar. Er küsste dem »Doktorchen« die Hände, obgleich sie ihm immer wiederholte: »Lass das doch, da haben mich ja die Lumpaci angefasst ... Es half nichts, sie musste es über sich ergehen lassen. –
Die kleine, nächtliche Szene aber hatte dreifache Folgen: erstens, dass das junge Paar von Batignolles fortzog; zweitens, dass der junge Bibliothekar ein sehr eifriges Mitglied des socialen Reformklubs wurde und drittens endlich, dass Gros-Guillaume, genannt Tabac – auf Nimmerwiedersehen aus dem öffentlichen Lesesaal verschwand; und sicher war er so der am meisten und im Grunde noch für eine gute That Gestrafte.
*