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Kurze Zeit vor dem eben geschilderten Erlebnisse, in den Nachmittagsstunden des 14. Januar 1897, bewegte sich eine kleine ermüdete Trägerkarawane, etwa 50 Mann stark, über die weite Ebene entgegen ihrem langersehnten Ziele, dem Nakurosee, der endlich in weiter Ferne sichtbar wurde. Das Aussehen und die abgerissene Kleidung der Träger ließ darauf schließen, daß die Karawane eine lange Reise vollbracht hatte. Und so war es. Ich kam vom Viktoria-Njanza, fiebergeschwächt, in der Hoffnung, in höher gelegenen Gegenden schneller zu gesunden. Nach Wochen harten Schmerzenslagers fast wider Erwarten meiner freundlichen Pfleger, englischer Offiziere, vom Fieber genesen, das die Sümpfe des Njanza, die Durchquerung der wilden, damals noch nicht oder kaum betretenen Länder Sotik und Nandi mir gebracht, schien mir nach Art der Rekonvaleszenten das Leben doppelt schön und begehrenswert. Die Märsche der letzten Tage waren wieder einmal durch feindliche Stämme, aufständische Wakamássia, gefährdet gewesen, aber mit dem Eintritt in das menschenleere Gebiet des Naturo-, Elmenteita- und Naiwashasees, in dem von den Masai mit En'aiposha bezeichneten Distrikt ihrer Provinz Olbruggo gelegen, war diese Gefährdung so ziemlich überwunden.
Endlose, wellenförmig sich dahinziehende Grasflächen, jedes Baumschmucks bar, hatten die letzten Märsche wenig anziehend gemacht; nun senkte sich die Grasebene merklich, ging allmählich in öde vulkanische Flächen über und gewährte dem Blick Ausschau über den in der Ferne schimmernden See.
Eingebettet in eine weit ausgedehnte Mulde, lag er verheißungsvoll, sich in der Ferne verlierend, zu unseren Füßen.
Am Ufer eines zu dieser Jahreszeit sich trüb und reißend in den See ergießenden Baches neben einigen dürftigen Msuăkibäumen wurde das Lager aufgeschlagen. Wenige Jahre vorher war der erste Europäer, Dr. Fischer, bis in die Nähe des Nakurosees, an den benachbarten Naiwashasee gelangt. Aber unter welch andern Umständen vollzog sich in jenen Jahren eine Reise ins unbekannte Masailand! Souverän beherrschte damals nach der Masaikrieger sein Land – war damals noch »ol open l'en gob«, Besitzer des Landes, im Sinne des Wortes. Und all die ritterliche Poesie, die uns das Schicksal der nordamerikanischen Indianer so menschlich nahegebracht hat, war auch seinem Kriegerdasein nicht fremd. Da kam der Augenblick, wo er mit den Feuerwaffen der Europäer zusammenstieß und ihm die Europäer die Rinderpest brachten. Sein Schicksal war besiegelt, wie das des Löwen und des Leoparden! ...
Damals aber galt es für die Karawanen freien, kampflosen Durchzugs halber allenthalben Tribut zu entrichten. Nicht nur einige kleine Häuptlinge in der Nähe der Küste, sondern auch die Masai mußten mit reichlichem Tribut abgefunden werden! so zahlte Dr. Fischer beispielsweise an den Häuptling Sedenga in Mkarámo am Paganifluß für die Erlaubnis zum Durchzug seiner 230köpfigen Karawane: 100 Stück Zeug à 6 Armlängen, ein Beil, 100 Bleikugeln, 1 Fäßchen Schießpulver von 10 Pfund, 2 große Ringe Messingdraht, sowie 8 Pfund Glasperlen! Die 1891 in Ostafrika wütende Rinderpest hat das Vieh der Masai vernichtet, ihn selbst dezimiert, seinen Stolz geknickt. Unsere Karawane hatte im vergangenen Jahre, 1896, zum ersten Male die Masaisteppe vom Kilimandscharo über den Nguasso-Nyiro bis zum Viktoriasee, und zwar wider Erwarten ohne große Kämpfe durchziehen können. Zwar hatte uns kein geringerer als Dr. Oskar Baumann, damals österreichischer Konsul in Zanzibar, ein hervorragender Erforscher des Masailandes den Untergang prophezeit, aber die Zeiten hatten sich geändert. Der Küstenmann dünkt sich heute himmelhoch erhaben über den »wilden« Masai, der Masaikrieger wieder verachtet allerdings die lastenschleppenden Küstenleute, die er zu den Barbaren rechnet und verächtlich mit »il' meek« bezeichnet. Aber die Herrschaft der Masai ist gebrochen. Sic transit gloria mundi! Es kommt sogar vor, daß sich auch meine Leute an dem Tanz beteiligen, der bis spät in die Nacht, von den Masai veranstaltet, dauert, Gesänge der Krieger und der Weiber – 'Singōliōitin loo – 'l – muran oo loo – 'ngorōyok – ertönen in die Nacht hinaus, und der Refrain findet ein vielfaches Echo mit seinem oft wiederholten Hó! He! Hōō! Ná! He! Hōō! – Es ist Lederstrumpfpoesie, und mir scheinen sie so ähnlich, die Rothäute der neuen Welt und die Masai hier im dunklen Afrika. Die einen mußten der Zivilisation weichen, den anderen steht dieses Schicksal noch bevor. ...
Niemand hegt die geringste Besorgnis für die Nacht. Ruhig wurde es den Moran gestattet, in der Nähe des Lagers zu nächtigen. Unser Zug durch die Masaisteppe, durch die wilden Bergländer der Wasotiko und Wanandi hatte uns gegen dergleichen Gefahren abgestumpft. Wir konnten nicht ahnen, welch erbitterte jahrelange Kämpfe den englischen Truppen mit diesen Völkerschaften noch bevorstanden, wie wehrkräftig und kriegerisch sie waren! Aber die Anwesenheit Hunderter speer- und keulenbewaffneter Krieger im Lager war etwas Alltägliches gewesen, und groß war später das Erstaunen der englischen Offiziere, als sie hörten, die große Karawane, der ich mich angeschlossen hatte, sei ohne Krieg glücklich durch diese Länder gelangt!
Die herben wilden Reize solch eines Reise- und Karawanenlebens waren mit einem Schlage für mich durch mein schweres Krankenlager unterbrochen worden: doppelt empfänglich war ich nun wieder geworden für das beglückende Wandern in Licht und Luft, Freiheit und unendlichen Weiten – doppelt empfänglich auch für wechselnde Eindrücke, denn wochenlang hatte mich mein Marsch durch einsame Urwälder, Bambuswaldungen und Grassteppen geführt, in denen, wie mein Freund Richard Kandt, der Entdecker der Nilquellen, dies so trefflich beschreibt, jede Pflanze, jeder Stein, mir nur immer wieder das eine Wort: Öde! Öde! in der großen Einsamkeit zugerufen hatte. Doch eine Welle flutenden herrlichen Tierlebens brandete tatsächlich wiederum um die Gestade dieses einsamen Gebirgssees.
Weithin spannt sich das Panorama des Nakurosees, der in seine Mulde eingebettet vor uns liegt, und zu dieser Jahreszeit unzähligen Wildrudeln an seinen Ufern frische Äsung, auf seinen Wassern aber zahllosen Mitgliedern der Ornis Herberge und Nahrung gewährt. Die Zahl des Steppenwildes Ostafrikas habe ich anderwärts kaum übertroffen gesehen! Die Ufersteppen dieses Sees waren tatsächlich bedeckt von Wild aller Art. Antilopen, Strauße, Giraffen, Nashörner zeigten sich dem Blicke des Wanderers, und die Luft war erfüllt von farbenprächtigen Flamingos und Wasservögeln aller Art. – – Die heiße Steppenluft duftete nach tierischem Leben, der Boden der Steppe war durchfurcht von Fährten und Wechseln des Wildes, und wo auch der Blick sich hinwandte, flutete eine große, warme, ursprüngliche Welle tierischen Lebens. Ich befand mich im tertiären Tierparadies. – – –
Aus der Fülle der vielen, mit starkem Zauber auf mich einwirkenden Erinnerungen jener Tage taucht eine einzige, höchst eigenartige in mir auf: »Eleléscho!«
Was ist »Eleléscho«? wird der Leser voller Erstaunen fragen ...
»Eleléscho« Der Singular des Wortes lautet: ol 'leléshwa. ist eine Charakterpflanze, richtiger vielleicht ein Charakterstrauch, der der Flora im eigentlichen Herzen des Masaigebietes vielfach seinen Stempel aufdrückt. Höhenzüge, mit silberblättrigem Eleléscho bestanden, würziger Eleléschoduft, nach Eleléscho riechendes Wasser am Lagerplatz – folgerichtig auch nach Eleléscho schmeckender Tee, Kaffee, Kakao – das ist eine fest im Gedächtnis haftende Erinnerung an diese Heimat der Wildrudel und der Masai, jener untergehenden Nomaden, die dem Strauche den schönen Namen schenkten ...
Vielleicht ist es nicht zuletzt der Wohlklang des Namens, der uns in der Erinnerung mit dem Strauche aussöhnt. Denn dieser selbst wirkt auf die Dauer eintönig, unsere Sinne nur wenig erfreuend, dafür um so stärker und eigenartiger. Aber seltsam, seine Eigenart verknüpft unsere Vorstellungen rückwirkend durch starke Bande mit den damaligen Erlebnissen, und der Klang seines Namens ruft schöne Erinnerungen – und in der Phantasie verschönte – wach. Ähnlich wie es dem Menschen nicht gegeben ist, sich intensiver, körperlicher Schmerzen genau zu entsinnen, so streicht auch die zurückblickende Phantasie wohltuenderweise vieles Harte und wenig Erfreuliche aus, das wir einst erlebten. So ist denn in der Erinnerung dieser seltsame Baumstrauch mit den silbergrauen und würzig stark duftenden Blättern geeignet, wie kaum etwas anderes, Heimweh, Heimweh nach der Wildnis in dem Gemüte des Wanderers wachzurufen, des Wanderers, der durch so viel Schönes und Schweres mit jener Steppe innerlich verknüpft ist. Wenig nur ist uns damit gedient, zu erfahren, daß der Botaniker unseren Strauch als Komposite kennt und Tarchonantus camphoratus Houtt. bezeichnet ... Auch in anderen Teilen Afrikas findet er sich, und der heute (1919) noch in jugendlicher Frische unter uns weilende Prof. Fritsch berichtet schon 1863, daß er ihn im damals noch wilden Griqualande unter dem Namen »Mohatla« fand. Es ist bedauerlich, daß nicht sein wohllautender Masainame der Nachwelt erhalten bleibt, und ich möchte das meinige tun, um »Eleléscho« vor dieser Vergessenheit zu bewahren ...
Man muß dieses Wort in wohllautender Aussprache aus dem Munde eines der schönen, stolzen, schlanken Masaikrieger gelernt haben, um zu begreifen, daß zu all den unendlich komplizierten Stimmungseindrücken in fernen Landen oft anscheinend nebensächliche Dinge beitragen können, Dinge, die zum Aufbau jener Stimmungswerte dennoch von großer Bedeutung sind ...
In der Region des Eleléscho aber herrscht dieser Strauchbaum etwa in der Art, wie in unserem Vaterlande Eiche, Buche und Föhre oder etwa Wacholder, Heidekraut und Ginster der Landschaft ihren Charakter aufdrücken. Größer aber und mächtiger in seiner Wirkung auf das Gemüt wirkt unsere Pflanze, weil sie in jenen Einöden so vorherrschend auftritt, daß mit dem Begriff des Eleléscho eben eine ganz bestimmte Vorstellung landschaftlichen Charakters in denen ausgelöst werden muß, die jene fernen Regionen lange Zeit bereist haben. Der starke Duft der Eleléschopflanze veranlaßte die Masai, die Blätter des Strauches ihres Wohlgeruches halber als Ohrschmuck zu tragen. Er gehört also zu den Baumsträuchern, die ihres Duftes wegen von den Kriegern und Mädchen als Schmuck verwandt werden: Il-käk ooitaa 'l muran oo 'n – doine 'I – orōpili. So treten uns mit Eleléscholaub, Eleléschozweigen geschmückte Masaimädchen und Masaikrieger vor Augen, mitleidig von dem Karawanenführer belächelt, der freilich im Gegensatz zu den Masai sehr gering von unserem Strauche denkt. Naiv ist das Verhältnis der Eingeborenen zur Natur; nur das Nächstliegende, Zweckmäßige kommt für sie in Betracht, und Eleléscho ruft jedenfalls bei meinen schwarzen Begleitern nur die Erinnerung an öde, dürftige Steppengegenden wach, Gegenden, in denen sie oft Hunger leiden und manches Ungemach erdulden mußten. Anders aber wirkte die Region des Eleléscho auf mein Gemüt. Ist mir doch dieser Strauch in der Erinnerung symbolisch verknüpft mit dem Untertauchen in menschenleeren Einöden, mit dem Sichloslösen vom Getriebe der Zivilisation, der modernen Menschheit und all ihrem Hasten und Drängen ...
Ich habe mich, dem Fiebertode kaum entronnen, voll und ganz in jener Nacht des Jahres 1897 an den Gestaden des Nakurosees, als die Gesänge der Masai mir im Mondschein ertönten, dem Zauber hingegeben, dem Zauber des Eleléschostrauches, dessen Duft ich nie vergessen kann. – –
So träumte ich einen wunderschönen Traum. – Als ich wieder erwachte, befand ich mich in meinem Lehnstuhl primitivster, eigener Konstruktion. Mein schwarzer Diener stand vor mir und fragte mich, ob ich nicht lieber mein Lager aufsuchen wolle. –
Ich rieb mir die Augen, alles war also nur ein Traum gewesen – der Zauber des Eleléscho mußte es mir angetan haben. – Wie töricht, sich diesem Zauber hinzugeben! Das darf doch erst geschehen, wenn alles dies »historisch« geworden und die Masai-Moran und ihr Leben und Treiben gleich den Rothäuten Amerikas ihren Cooper gefunden haben!
Dann mag der Eleléschozauber in sein Recht treten, mag den schlanken, sehnigen, vornehmen Masai ol morani verherrlichen, wie er im Kreise seiner Schönen, seiner »Doiye« Singular: en 'dito. den Reigen tanzt, wie er Kriege führt und die Steppe frei beherrscht. Heute aber schon trägt er an seiner Stirn den bedeutungsvollen Stempel eines unerbittlichen Schicksals – den des letzten Mohikaners ...
Der Zauber des Eleléscho ist vergangen am einst so weltfernen Nakurosee.
Der See ist nicht mehr weltfern.
Ein eiserner Schienenweg verbindet ihn mit den Wassern des Indischen Ozeans. Vergangen ist dort heute der Zauber, den ich damals noch wachend und träumend erlebte; vorbei die Poesie der Elefantenherden, der Masai, Wandorobbo und des Karawanenlebens alter Art; verschwunden vieles, was ich dort sah. Immer weiter abseits vom Wege in die Wildnis muß der Wanderer ziehen, will er ursprüngliches Leben und Treiben kennen lernen, so der Menschen wie der Tierwelt, ursprüngliche Harmonie, die in überwältigender, eigenartiger Sprache zu ihm redet. Sie, deren Eigenart täglich mehr verschwindet, täglich in steigendem Maße vernichtet wird, ist rettungslos dem Neuen, dem Kommenden, dem nicht Aufzuhaltenden preisgegeben, das man moderne Technik, moderne Kultur nennt.
Kürzlich tauschte ich alte Erinnerungen mit einem Reisegefährten, der vor mehr als 14 Jahren in der Wildnis mit mir geweilt und der nunmehr wiederum, die Eisenbahn benutzend, jene fernen Länder besucht hatte. Mein alter Freund Alfred Kaiser, ein weit gewanderter Mann, ein Kenner Arabiens unter anderem, wie wenig andere, erinnerte mich an das einst gemeinsam Erlebte, als europäischer Einfluß noch kaum unter den Binnenvölkern am Viktoriasee zu spüren war. Da sahen wir im Geiste die Bewohner der damals gefährlichen und noch kaum bekannten Sotiko- und Nándiländer Vergl. auch Theodore Roosevelt, »Afrikanische Wanderungen«, Seite 308-313, über die kriegerischen Wanándi. uns mißtrauisch zu Tausenden an ihrer Grenze empfangen. Ihre blitzenden Speere funkelten in der Morgensonne; – Herrscher, Minister und Hofdamen der Wakawiróndo erschienen in urwüchsigster Tracht im Lager, keulenbewehrte Krieger betrachteten uns mit äußerstem Mißtrauen, Kaurimuscheln und Glasperlen bildeten ihre einzige Kleidung, ihr Zahlungsmittel; Überfälle und Krieg waren an der Tagesordnung.
Und jetzt, nur zehn Jahre später, fand Kaiser viele Masai bereits als englisch sprechende Kulturfexe am »Bahnhof Nakurosee« ...
Etwas wie Groll erfaßt den Wanderer, der mit unzähligen Schweißtropfen seinen Weg damals hat bezahlen müssen, bei dem Gedanken, daß heute jedermann in wenigen Tagen von der Küste aus den Nakurosee erreichen kann. Allzu zahlreiche neugierige Globetrotter hält freilich die nur zu berechtigte Angst vor der tückischen Malaria und der neuerdings so erschreckend auftretenden furchtbaren »Schlafkrankheit« im Schach, sonst würde die Eisenbahnfahrt von Mombassa zum Viktoria-Njanza und den Nil herab nach Kairo eine viel benutzte Reiseroute werden. –
Ich habe es versucht, in kurzen Umrissen den unheimlich schnellen Wandel der Zeit zu schildern, wie ihn die eindringende Kultur des Europäers ins Rollen bringt. Ich habe am Nakuro noch von ursprünglicher, wilder Schönheit geträumt, als sie dort kurze Zeit darauf verschwinden mußte.
Heute kann man den alten Eleléschozauber dort und überall, wo der weiße Mann eindringt, nicht mehr finden.
Der Reisende sieht vielleicht einen baumartigen Strauch.
Er bedeckt manche Höhenzüge und die einsamen Gelände der Steppe und entsendet weithin einen würzigen Duft. » Tarchonantus camphoratus Houtt.« nennen ihn die Botaniker. Sie rechnen ihn zu den Kompositen ...
Aber seinen Zauber kann er hier nicht mehr ausüben. –
Der ist weit, weit ins Innere entflohen. Dorthin, wo der weiße Mann noch nicht war, dort fristet er noch sein Dasein.
Wie lange noch und er ist ganz verschwunden! ...