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Einheit Leib – Seele und der metaphysische Dualismus Geist-Leben, Kritik Descartes; der naturalistischen Lehren; der Lehre L. Klages

Wir sind ein wenig hoch gestiegen. Kehren wir zurück zu dem der Erfahrung näher liegenden Problem der menschlichen Natur.

Für die Neuzeit hat die klassische Theorie des Menschen ihre wirksamste Form gefunden in der Lehre des Descartes, die wir eigentlich erst in jüngster Zeit abzuschütteln begriffen sind. Dadurch, daß er alle Substanzen in »denkende« oder »ausgedehnte« einteilte und lehrte, daß der Mensch allein von allen Wesen aus diesen beiden in Wechselwirkung stehenden Substanzen bestehe, hat Descartes in das abendländische Bewußtsein ein ganzes Heer von Irrtümern schwerster Art über die menschliche Natur eingeführt. Mußte er doch auf Grund dieser Einteilung selbst den Un-Sinn in Kauf nehmen, allen Pflanzen und Tieren die psychische Natur abzusprechen und den »Schein« der Beseelung von Tier und Pflanze, den die ganze Zeit vor ihm für Wirklichkeit genommen hatte, durch anthropopathische »Einfühlung« unserer Lebensgefühle in die äußeren Bilder der organischen Natur erklären und alles, was nicht menschliches Bewußtsein und Denken ist, rein mechanisch erklären. Nicht nur die widersinnigste Übersteigerung der »Sonderstellung« des Menschen, seine Herausreißung aus den Mutterarmen der Natur war die Folge, auch die Grundkategorie des Lebens und seiner Urphänomene wurde dadurch mit einem Federstrich einfach aus der Welt herausgeworfen: die Welt besteht für Descartes aus nichts als aus »denkenden« Punkten und einem gewaltigen mathematisch zu erforschenden Mechanismus. Wertvoll an der Lehre Descartes ist nur Eines: die neue Autonomie und Souveränität des Geistes (allerdings bei ihm auf Ratio reduziert und diese mit Intelligenz vermischt) – die Erkenntnis der Überlegenheit des Geistes über alles Organische und Nur-Lebendige, die er bei der mittelalterlichen Identifizierung der forma corporeitatis mit der Geistseele nicht besaß. Alles andere ist größte Verkehrtheit.

Daß es eine örtlich bestimmte Seelensubstanz, wie sie Descartes annimmt (Zirbeldrüse), nicht gibt, ist schon aus dem Grunde selbstverständlich, daß es weder im Gehirn noch sonstwo im menschlichen Leibe eine Zentralstelle gibt, in der alle sensiblen Nervenfasern zusammenlaufen und sich alle nervösen Prozesse treffen. Auch das ist grundfalsch an der Descartes'schen Lehre, daß das Psychische nur in »Bewußtsein« bestehe und ausschließlich an die Großhirnrinde gebunden sei. Eingehende psychiatrische Forschungen haben gezeigt, daß die für die Grundlage des menschlichen »Charakters« ausschlaggebenden psychischen Funktionen, insbesondere alles, was zur Affektivität und zum Triebleben, gehört (das wir ja als Grund- und Urform des Psychischen erkannt haben), seine physiologischen Parallelprozesse überhaupt nicht im Großhirn, sondern in der Hirnstammgegend hat, teils im zentralen Höhlengrau des dritten Ventrikels, teils im Thalamus, der als zentrale Schaltung zwischen den Sensationen und dem Triebleben vermittelt. Ferner hat sich das System der Blutdrüsen ohne Ausgang (Schilddrüse, Keimdrüse, Hypophyse, Nebenniere), deren Funktionsart das menschliche Triebleben und die Affektivität, ferner Höhen- und Breitenwuchs, Riesen- und Zwergwuchs, wahrscheinlich auch die Rassencharaktere determiniert, als die eigentliche Vermittlungsstelle zwischen dem ganzen Organismus samt seiner Gestaltungsform und jenem kleinen anhängenden Teil des Seelenlebens erwiesen, den wir »Wachbewußtsein« nennen. Es ist der ganze Körper, der heute wieder das physiologische Parallelfeld der seelischen Geschehnisse geworden ist, keineswegs nur das Gehirn. Von einer so äußerlichen Zusammenbindung einer Seelensubstanz mit einer Körpersubstanz, wie sie Descartes annahm, kann gar nicht mehr ernstlich die Rede sein.

Die Philosophen, Mediziner, Naturforscher, die sich heute mit dem Problem von Leib und Seele beschäftigen, konvergieren immer mehr zur Einheit einer Grundanschauung. Ein und dasselbe Leben ist es, das in seinem Innesein psychische, in seinem Sein für Andere leibliche Formgestaltung besitzt. Man führe gegen diese Einheit nicht als Argument an, daß das »Ich« »einfach« und eins sei, der Körper aber ein verwickelter »Zellenstaat.« Die heutige Physiologie hat die Zellenstaatvorstellung vollständig abgebaut, wie sie auch mit der Grundanschauung gebrochen hat, daß die Funktionen des Nervensystems nur summativ, also nicht-ganzheitlich zusammenträfen und jeweilig streng örtlich und morphologisch in ihrem Ausgangspunkte bestimmt seien. Hält man freilich wie Descartes den physischen Organismus für eine Art Maschine, und zwar in dem starren Sinne der alten, heute schon von der theoretischen Physik und Chemie selber überwundenen und zum alten Eisen geworfenen mechanischen Naturlehre des Galilei-Newton-Zeitalters, übersieht man andererseits wie Descartes und alle, die ihm folgten, auf der psychischen Seite die Selbständigkeit und (sicher nachgewiesene) Priorität des gesamten Trieb- und Affektlebens vor allen »bewußten« Vorstellungsbildern; schränkt man alles Seelenleben auf das Wachbewußtsein ein, die gewaltigen Abspaltungen ganzer zusammenhängender Funktionsgruppen des seelischen Geschehens vom Bewußtseins-Ich, vom einheitlichen Ichganzen übersehend, leugnet man ferner die Affektverdrängung und übersieht man die für ganze Lebensphasen möglichen Amnesien – dann kommt man allerdings auf den falschen Gegensatz: hier Einheit und Einfachheit ursprünglicher Art – dort nur Vielheit erst sekundär verbundener Körperteile und in ihnen erst fundierter Prozesse; hier eine Seelensubstanz – dort unendlich viele körperliche Einzelsubstanzen. Dieses überzentralistische Seelenbild ist genau so irrig wie das übermechanistische Bild des physiologischen Geschehens, das sich die ältere Physiologie gemacht hat.

Im äußersten Gegensatz zu all diesen Theorien dürfen wir sagen: Der physiologische und psychische Lebensprozeß sind ontologisch streng identisch (wie es schon Kant vermutet hatte). Sie sind nur phänomenal verschieden, aber auch phänomenal streng identisch in den Strukturgesetzen und in der Rhythmik ihres Ablaufs: Beide Prozesse sind amechanisch, die physiologischen sowohl wie die psychischen, beide sind teleoklin und auf Ganzheit eingestellt. Die physiologischen Prozesse sind es um so mehr, je niedriger, nicht also je höher die Segmente des Nervensystems sind, in denen sie ablaufen; die psychischen Prozesse sind gleichfalls um so ganzheitlicher und zielhafter, je primitiver sie sind. Beide Prozesse sind nur zwei Seiten des nach seiner Gestaltung und nach dem Zusammenspiel seiner Funktionen einen übermechanischen Lebensvorganges.

Was wir also »physiologisch« und »psychologisch« nennen, sind nur zwei Seiten der Betrachtung eines und desselben Lebensvorganges. Es gibt eine »Biologie von innen« und eine »Biologie von außen«. Die Biologie von außen schreitet in der Erkenntnis von der Formstruktur des Organismus zu den eigentlichen Lebensprozessen fort, darf aber nie vergessen, daß jede lebendige Form von den letztunterscheidbaren Zellelementen an über Zellen, Gewebe, Organe bis zum ganzen Organismus hinauf in jedem Augenblick dynamisch getragen und neu geformt ist durch den Lebensprozeß, und daß in der Entwicklung die von den Betriebsfunktionen der Organe scharf zu scheidenden »gestaltenden Funktionen« es sind, welche die statischen (anatomischen) Formen des organischen Stoffes unter Mitwirkung der chemisch-physikalischen »Situation« erst hervorbringen. Mit Recht haben der Heidelberger Anatom Braus und von der Physiologie her E. Tschermack diesen Gedanken in den Mittelpunkt ihrer Forschungen gestellt. Man darf sagen, daß sich diese Auffassung in allen Wissenschaften durchsetzt, die es mit dem berühmten Problem zu tun haben. Der alte »psychomechanische Parallelismus« von »Leib und Seele« gehört heute genau so zum alten Eisen wie die durch Lotze aufgefrischte »Wechselwirkungslehre« oder die scholastische Lehre von der Seele als »forma corporeitatis.«

Die Kluft, die Descartes durch seinen Dualismus von Ausdehnung und Bewußtsein als Substanzen zwischen Körper und Seele aufgerichtet hatte, hat sich heute fast bis zur Greifbarkeit der Einheit des Lebens geschlossen. Wenn ein Hund ein Stück Fleisch sieht und derweil bestimmte Magensäfte sich in seinem Magen bilden, so ist das für Descartes, der aus der Seele das gesamte Trieb- und Affektleben herauswarf und gleichzeitig eine rein chemisch-physikalische Erklärung der Lebenserscheinungen auch ihren Strukturgesetzen nach forderte, ein absolutes Wunder. Warum? Weil er auf der seelischen Seite den Triebimpuls des Appetites ausschaltet, der im selben Sinne eine Bedingung für das Zustandekommen der optischen Wahrnehmung des Fressens durch das Tier ist, wie es auch der äußere Reiz ist (der überdies niemals, wie Descartes glaubt, Bedingung des Inhalts der Wahrnehmung, sondern nur der Jetzt-Hier-Wahrnehmung dieses Inhalts ist, der als Teil des Körper-»bildes« von allem »Bewußtsein« ganz unabhängig besteht) – und weil er auf der anderen, physiologischen Seite die Magensaftbildung, die dem Appetit entspricht, nicht für einen echten, in der physiologischen Funktionseinheit und ihrer Struktur verwurzelten Lebensvorgang hält, sondern für einen Vorgang, der ganz unabhängig vom zentralen Nervensystem rein chemikalisch im Magen abläuft, sobald nur die Speise in den Magen gelangt ist. Was aber würde Descartes dazu sagen, wenn man ihm Heyders Feststellung vor Augen führte, daß sogar die bloße Suggestion des Essens einer Speise die gleiche Wirkung nach sich ziehen kann wie das wirkliche Essen?! Man sieht den Fehler – Descartes' Grundfehler: das Triebsystem in Mensch und Tier (trotz seiner Schrift über die »Passiones«) völlig zu übersehen, das eben die Einheit ausmacht und die Vermittlung bildet zwischen jeder echten Lebensbewegung und den Inhalten des Bewußtseins. Er und alle ältere Physiologie hält die physiologische Funktionseinheit für ein Punkt für Punkt im Sinne eines formal-mechanischen Nahewirkungsprinzips von irgendwelchen morphologisch schon vollständig bestimmten starren Teilen des organischen Körpers je ausgehendes und so gut wie völlig mechanisch determiniertes Geschehen. Das aber ist sie eben nicht. Die physiologische »Funktion« ist ihrem Grundbegriff nach eine selbständige rhythmisierte Ablaufsgestalt, eine dynamische Zeitgestalt, die keineswegs von Hause aus örtlich starr gebunden ist, die sich vielmehr weitgehend an den vorhandenen Zellsubstraten ihr Funktionsfeld aussondern, ja allererst gestalten kann. Eine summative Organreaktion bestimmter und starrer Art besteht auch bei denjenigen physiologischen Funktionen nicht, die keinerlei Bewußtseinskorrelat besitzen; ja sie besteht, wie man neuerdings gezeigt hat, nicht einmal für so einfache Reflexe wie den Patellarreflex (Kniescheibenreflex). Auch physiologisch kann der Organismus dieselben Ziele erreichen bei weitgehender Auswechslung der körperlichen Strukturen und Substrate, mit denen er arbeitet, auch bei Ablenkung durch eine neue Ursache. Phänomenologisch ist das physiologische Verfahren genau so »sinngemäß« wie das psychische bzw. die bewußten Abläufe, und diese oft genau so »dumm« wie die organischen Abläufe. Wenn z. B. bei Regenerationsvorgängen des Organismus an der Wundstelle zwei Köpfe anstatt eines entstehen, so finden wir das selbe in Fällen der Wiederherstellung eines psychischen Komplexes nach Gegebenheit eines Teiles, in dem blinden Wiederholungstrieb, z. B. analoge Szenen immer wieder herzustellen (der stets »Betrogene«, das ewige »Opfer« usw.).

Nach meiner Meinung ist der Forschung heute geradezu das methodische Ziel zu stellen, im weitesten Maße zu prüfen, wie weit die gleichen Verhaltungsweisen des Organismus einmal durch physikalisch-chemische Reize von außen her, ein andermal durch psychische Reizung, Suggestion, Hypnose, alle Art von Psychotherapie, Veränderung der gesellschaftlichen Umgebung (von der viel mehr Krankheiten abhängen, als man ahnt), herbeigeführt und abgeändert werden können. Hüten wir uns also gar sehr vor einer falschen Übersteigerung ausschließlich physiologischer Erklärungen. Es kann ein Magengeschwür nach unserer heutigen Erfahrung ebensowohl psychisch bedingt sein wie durch einen gewissen chemisch-physikalischen Prozeß – und nicht nur Nervenkrankheiten, sondern auch organische Erkrankungen haben je ganz bestimmte psychische Korrelate. Auch quantitativ können wir beide Arten unseres Einflusses auf den eigentlichen einheitlichen Lebensprozeß – den durch den Korridor des Bewußtseins und den durch den Korridor der äußeren Reizung (P. Schilder) – so abwägen, daß wir in dem selben Maße mit der einen Reizung sparen, als wir die andere mehr verwenden. Sexuelle Erregung kann durch Einnahme gewisser Mittel ebensowohl herbeigeführt werden wie durch unzüchtige Bilder und Lektüre. Selbst der fundamentale Lebensvorgang, der »Tod« heißt, kann durch einen plötzlichen Affektschock ebensowohl herbeigeführt werden wie durch einen Pistolenschuß. Das alles sind nur verschiedene Zugangsweisen, die wir in unserer Erfahrung und Lenkung zu ein und demselben ontisch einheitlichen Lebensprozeß haben. Auch die höchsten psychischen Funktionen wie das sogenannte beziehende Denken entziehen sich einer strengen physiologischen Parallelisierung nicht. Endlich müssen nach unserer Lehre auch die geistigen Akte, da und sofern sie ihre ganze Tätigkeitsenergie aus der lebendigen Triebsphäre beziehen und ohne irgendeine »Energie« sich für unsere Erfahrung, auch für die eigene, nicht manifestieren können, stets ein physiologisches und psychisches Parallelglied besitzen. Daß sich die abendländische Wissenschaft vom Menschen als Naturwissenschaft und Medizin vor allem mit der Körperseite des Menschen beschäftigt, die Lebensvorgänge in erster Linie durch den Korridor von außen her zu beeinflußen gesucht hat, ist eine Teilerscheinung des überaus einseitigen Interesses, das der abendländischen Technik überhaupt eigen ist. Wenn uns die Lebensvorgänge von außen her um so viel zugänglicher erscheinen als über den Korridor des Bewußtseins, so braucht das eben nicht auf dem tatsächlichen Verhältnis zwischen Psyche und Physis zu beruhen, sondern kann in einem jahrhundertelang einseitig eingestellten Interesse begründet sein. Die indische Medizin etwa zeigt die entgegengesetzte, nicht minder einseitige psychische Einstellung.

Das psychophysische Leben ist eins – und diese Einheit ist eine Tatsache, die für alle Lebewesen gilt, also auch für den Menschen. Den Menschen seinem Seelenleben nach mehr als gradweise vom Tier zu trennen, seiner Leibseele eine besondere Art von Herkunft und künftigem Schicksal zuzuschreiben, wie es der theistische Kreatianismus und die herkömmliche Lehre von der Unsterblichkeit tut, dazu besteht nicht der mindeste Grund. Die Mendelschen Gesetze bestehen für den Aufbau des psychischen Charakter in dem selben Maße wie für irgend welche körperlichen Merkmale. Die vorhandenen Verschiedenheiten zwischen Mensch und Tier im Ablauf der psychischen Funktionen sind allerdings sehr erheblich – aber sehr erheblich, und zwar weit erheblicher als die morphologischen Unterschiede zwischen Tier und Mensch, sind auch die physiologischen Unterschiede. Es wird beim Menschen im Verhältnis zum Tier ein unverhältnismäßig großer Mehrteil des gesamten Assimilationsmaterials zur Bildung nervöser Substanz verbraucht; die Ausbeute aber dieses Materials für Form- und Strukturbildung anatomisch sichtbarer Einheiten ist dabei auffällig gering: ein im Verhältnis zum Tier sehr großer Teil dieses Materials wandelt sich in rein funktionelle Gehirnenergie um. Dieser Vorgang stellt aber nur das physiologische Korrelat für eben den Vorgang im Menschen dar, den wir in psychologischer Sprache »Verdrängung« und »Sublimierung« nennen. Während der menschliche Organismus in seinen sensomotorischen Funktionen dem Tiere nicht wesentlich überlegen ist, ist die Energieverteilung zwischen seinem Großhirn und allen sonstigen Organsystemen eine vollständig andere. Das menschliche Gehirn genießt den unbedingten Vorzug in der Ernährung in einem viel ausgedehnteren Maße als das tierische Gehirn – genießt ihn, da es die intensivsten und vielseitigsten Energiegefälle besitzt und eine Verlaufsform seiner Erregungen, die rein örtlich viel weniger starr umgrenzt ist (Goldstein.) Bei allgemeiner Assimilationshemmung wird das Gehirn zuletzt gehemmt und, verglichen mit anderen Organen, am wenigsten. Die Rinde des menschlichen Großhirns bewahrt und konzentriert die ganze Lebensgeschichte des Organismus und seine Vorgeschichte. Da jeder Sonderablauf der Erregungen im Gehirn je die ganze Erregungsstruktur wandelt, kann nie »derselbe« Verlauf physiologisch wiederkehren, ein Tatbestand, der genau dem Grundgesetz psychischer Kausalität entspricht, daß nur die ganze Erlebniskette in der Vergangenheit, niemals nur der zeitlich vorangehende Einzelvorgang das folgende psychische Geschehen erklärt. Da die Erregungen in der Rinde nie aufhören, auch im Schlafe nicht, und die Strukturelemente in jedem Augenblick neu auferbaut werden, so ist ein mächtiger Phantasieüberschuß – der auch ohne äußere Reize weiterströmt, bei Abbau des Wachbewußtseins und seiner Zensur (Freud) sofort hervortritt und als durchaus ursprünglich anzusehen ist, und der durch die Sinneswahrnehmung nur zunehmend eingeschränkt, nicht aber hervorgebracht wird – auch psychologisch zu erwarten: der seelische Strom läuft ebenso kontinuierlich (nicht unterbrochen wie das Wachbewußtsein) wie die physiologische Erregungskette durch den Rhythmus von Schlaf- und Wachzuständen hindurch. Das Gehirn scheint beim Menschen auch in höherem Maße als beim Tiere das eigentliche Todesorgan zu sein, wie es bei der viel stärkeren Zentralisierung und Gebundenheit aller seiner Lebensvorgänge an die Gehirntätigkeit auch zu erwarten ist. Wissen wir doch durch eine Reihe von Untersuchungen, daß der künstlich großhirnlose Hund oder das großhirnlose Pferd noch eine Fülle von Leistungen vollziehen kann, die beim Menschen in diesem Zustande ausfallen. Diese und ähnliche Tatsachen sind voll genügend erklärt durch die gesteigerte Einheit des menschlichen Seelenlebens gegenüber dem tierischen, ohne daß man dafür eine besondere Seelensubstanz beim Menschen anzunehmen hätte.

Nicht also Leib und Seele oder Körper und Seele oder Gehirn und Seele im Menschen sind es, die irgend einen ontischen Gegensatz bilden. Wir dürfen heute sagen, daß das Problem von Leib und Seele, das so viele Jahrhunderte in Atem gehalten hat, für uns seinen metaphysischen Rang verloren hat. Der Gegensatz, den wir im Menschen antreffen und der auch subjektiv als solcher erlebt wird, ist von viel höherer und tiefergreifender Ordnung: es ist der Gegensatz von Geist und Leben. Dieser Gegensatz dürfte auch viel tiefer in den Grund aller Dinge hineinreichen als der Gegensatz von Leben und Anorganischem, den in neuerer Zeit besonders H. Driesch in falscher Weise übersteigert hat.

Wenn wir Psychisches und Physisches nur als zwei Seiten ein und desselben Lebensvorganges nehmen, denen zwei Betrachtungsweisen desselben Vorganges entsprechen, dann muß das X, das eben diese beiden Betrachtungsweisen selbst vollzieht, dem Gegensatz von Leib und Seele überlegen sein. Dieses X ist nichts anderes als der, wie wir sahen, selber nie gegenständlich werdende, alles »vergegenständlichende« Geist. Ist schon das Leben unräumliches Sein, wohl aber zeitliches Sein – »der Organismus ist ein Vorgang«, bemerkt Jennings treffend, und alle scheinbar ruhende Form des Körpers ist von diesem Lebensvorgang in jedem Augenblick getragen und unterhalten –, so ist das, was wir »Geist« nennen, nicht nur überräumlich, sondern auch überzeitlich. Die Intentionen des Geistes schneiden sozusagen den Zeitablauf des Lebens. Nur indirekt ist der geistige Akt, sofern er Tätigkeit beansprucht, auch abhängig von einem zeitlichen Lebensvorgang und gleichsam in ihn eingebettet.

So wesensverschieden auch »Leben« und »Geist« sind, so sind doch beide Prinzipien im Menschen aufeinander angewiesen: der Geist ideiert das Leben – den Geist aber von seiner einfachsten Aktregung an bis zur Leistung eines Werkes, dem wir geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und zu verwirklichen, vermag das Leben allein.

*

Das Verhältnis von Geist und Leben, wie wir es soeben umschrieben haben, ist von einer ganzen Gruppe philosophischer Grundauffassungen des Menschen verfehlt und mißachtet worden. Hier seien zunächst alle jene Theorien des Menschen andeutungsmäßig charakterisiert, die man als » naturalistische« Theorien bezeichnen kann. Innerhalb dieser lassen sich zwei Grundarten unterscheiden: eine einseitig formal-mechanische Auffassung des menschlichen Verhaltens und eine einseitig vitalistische.

Die formal-mechanischen Auffassungen des Verhältnisses von Geist und Leben übersehen an erster Stelle die Eigenart der Lebenskategorie und müssen daher auch den Geist mißverstehen. Sie treten in der abendländischen Geschichte in zwei Formen auf: Die eine kommt aus dem Altertum, aus den Lehren eines Demokrit, Epikur und Lucretius Carus, und hat ihre vollkommenste Darstellung wohl in Lamettries »L'homme machine« gefunden, in dem, wie schon der Name des Buches sagt, versucht wird, die psychischen Erscheinungen, ohne sie vom Geistigen zu scheiden, auf Begleiterscheinungen der im Organismus waltenden physikalisch-chemischen Gesetzlichkeit zurückzuführen. Die andere Form ist im englischen Sensualismus am schärfsten ausgebildet: der »Traktat über die menschliche Natur« von David Hume stellt ihre vollkommenste Ausprägung dar. In neuester Zeit ist Ernst Mach einer solchen Auffassung des Menschen am nächsten gekommen, wenn er das Ich als einen Knotenpunkt auffaßt, in welchem die sensualen Weltelemente in besonderer Dichte zusammenhängen. In beiden Lehren, hier wie dort, wird das formal-mechanische Prinzip bis auf die äußerste Spitze getrieben, nur mit dem Unterschied, daß das eine Mal die Empfindungsvorgänge aus Vorgängen verstanden werden sollen, die nach den Prinzipien der physikalischen Mechanik verlaufen, während das andere Mal die Grundbegriffe der anorganischen Naturwissenschaft aus den als letzte Gegebenheiten geltenden Empfindungsdaten und aus den Gesetzen der Vorstellungsassoziation (mit Einschluß aller Substanz- und Kausalbegriffe) allererst hergeleitet werden. Der Fehler beider Typen der mechanistischen Theorie aber ist es, das Wesen des Lebens in seiner Eigenart und Eigengesetzlichkeit zu übersehen.

Die zweite Abart der naturalistischen Theorie, die vitalistische, macht im Gegensatz zum formal-mechanischen Typus die Kategorie des »Lebens« zur Urkategorie der Gesamtauffassung des Menschen und damit auch des Geistes – die Tragweite des Lebensprinzips weit überschätzend. Der menschliche Geist soll sich in letzter Linie aus dem menschlichen Triebleben als dessen spätes »Entwicklungsprodukt« vollständig verstehen lassen. So will der englisch-amerikanische Pragmatismus (erst Pierce, dann William James, F. C. Schiller und Dewey) die Denkformen und Denkgesetze aus den jeweiligen Arbeitsformen des Menschen ableiten. So will Nietzsche in seinem »Willen zur Macht« die Denkformen als notwendige lebenswichtige Funktionen aus dem Machttrieb des Lebens verständlich machen; in etwas veränderter Weise ist ihm hierin neuerdings Hans Vaihinger gefolgt. Ebenda. Überblickt man die Gesamtheit der hierher gehörigen Auffassungen, so findet man drei Untertypen dieser naturalistisch-vitalistischen Menschenidee, je nachdem das System der Nahrungstriebe, das der Fortpflanzungs- und Geschlechtstriebe oder das der Machttriebe für das ursprüngliche und leitende System des menschlichen Trieblebens überhaupt gehalten wird. »Der Mensch ist, was er ißt« hat Vogt grob erklärt. Unvergleichlich vertieft und in die Hegel'sche Geschichtslehre hineingearbeitet, hat insbesondere Karl Marx die analoge Auffassung vertreten, daß der Mensch nicht sowohl die Geschichte mache, als vielmehr die Geschichte den Menschen jeweilig verschieden gestalte, und zwar an erster Stelle die Wirtschaftsgeschichte, die Geschichte der »materiellen Produktionsverhältnisse«. Nach dieser Auffassung kommt der Geschichte der geistigen Hervorbringungen in Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Recht usw. eine innere Eigenlogik und Kontinuität überhaupt nicht zu. Diese Kontinuität und eigentliche Kausalität ist ganz und gar in den Ablauf der Wirschaftsformen verlegt, von denen nach Marx jede ausgeprägte historische Form eine eigentümliche geistige Welt als den bekannten »Überbau« zur Folge hat. Vgl. zur Kritik des historischen Materialismus »Probleme einer Soziologie des Wissens« a. a. O. Die Auffassung des Menschen als eines primär vom Machttrieb und Geltungstrieb beherrschten Wesens ist geschichtlich besonders von Machiavelli, Thomas Hobbes und den großen Politikern des absoluten Staates ausgegangen und hat in Neuzeit und Gegenwart ihre Fortsetzung in der Machtlehre Friedrich Nietzsches und, mehr nach der medizinisch-psychologischen Seite hin, in Alfred Adlers Lehre vom Primat des Geltungstriebes gefunden. Die dritte mögliche naturalistische Auffassung ist diejenige, die das geistige Leben als Form sublimierter Libido auffaßt, als deren Symbolik und luftigen Überbau, und damit die ganze menschliche Kultur und ihre Erzeugnisse als Produkt verdrängter und sublimierter Libido ansieht. Hatte schon Schopenhauer die Geschlechtsliebe als den »Brennpunkt des Willen zum Leben« bezeichnet, ohne indeß dem Naturalismus vollständig zu verfallen – daran hinderte ihn seine negative Theorie des Menschen –, so hat der frühe Freud, der noch keinen selbständigen Todestrieb annahm, diese Auffassung des Menschen bis in die äußersten Konsequenzen ausgebaut. Vgl. die Kritik der Freud'schen Liebestheorie in »Wesen und Formen der Sympathie«.

Alle diese naturalistischen Lehren, seien sie des mechanischen oder des vitalistischen Typus, müssen wir vollständig zurückweisen. Zwar kommt dem vitalistischen Typus das hohe Verdienst zu, zur Einsicht gebracht zu haben, daß das, was im Menschen im eigentlichen Sinne schöpferisch mächtig ist, nicht das ist, was wir »Geist« (und die höheren Bewußtseinsformen) nennen, sondern die dunklen unterbewußten Triebmächte der Seele, und daß die menschliche Schicksalsbildung des Einzelwesens wie die der Gruppe vor allem von der Kontinuität dieser Vorgänge und ihrer symbolischen Bildkorrelate abhängt – wie auch der dunkle Mythos nicht sowohl ein Produkt der Geschichte ist, als vielmehr er den Gang der Geschichte weitgehend bestimmt. Alle diese Theorien jedoch haben darin geirrt, daß sie nicht nur die Tätigkeit, die Kraftgewinnung des Geistes und seiner Ideen und Werte, sondern auch diese Ideen selbst nach ihrem inhaltlichen Sinnbestande, ferner die Gesetze des Geistes und sein inneres Wachstum aus diesen Triebmächten herleiten wollten. Wenn der Irrtum des abendländischen Idealismus der »klassischen« Theorie mit seiner mächtigen Überschätzung des Geistes die tiefe Wahrheit Spinozas übersah, daß die Vernunft unfähig ist, die Leidenschaften zu regeln, es sei denn, daß sie – kraft Sublimierung, wie wir es heute nennen würden – selbst zu einer »Leidenschaft« werde, so hat der sog. Naturalismus seinerseits die Ursprünglichkeit und Selbständigkeit des Geistes vollständig mißachtet.

Im Gegensatz zu all diesen Theorien hat ein neuerer Schriftsteller, der eigenwillig, aber nicht ohne Tiefe ist, den Menschen ähnlich wie wir selbst Die Scheidung von »Geist und Leben« liegt schon meiner Erstlingsschrift »Die transzendentale und die psychologische Methode«, ferner meiner »Ethik« zu Grunde. Mit den Begriffen von Klages deckt sie sich nicht, da Klages Geist = »Intelligenz«, »Ich«, »Wollen« setzt. unter den beiden irreduziblen Grundkategorien von »Leben und Geist« zu verstehen gesucht – ich meine Ludwig Klages. Er ist es vor allem, der in Deutschland jene panromantische Denkart über das Wesen des Menschen philosophisch fundiert hat, die wir heute bei so vielen Forschern verschiedenster Wissenschaften antreffen, z. B. bei Edgar Dacqué, Leo Frobenius, Jung, Prinzhorn, Theodor Lessing Th. Lessing bringt im Buche »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« den Grundgedanken der Theorie auf den Ausdruck: »So verfestigte sich immer mehr mein Grundgedanke, daß die Welt des Geistes und seiner Norm nur die unentbehrliche Ersatzwelt eines am Menschen erkrankten Lebens sei, nur das Mittel zur Errettung einer in sich fragwürdig gewordenen, nach kurzem Wachbewußtsein spurlos wieder versinkenden Gattung durch Wissenschaft größenwahnsinnig gewordener Raubaffen«., in einer gewissen Richtung auch bei Oswald Spengler. Die Eigenart dieser Auffassung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, besteht vor allem in zwei Punkten: Der Geist wird zwar als ursprünglich angenommen, aber durchaus wie bei den Positivisten und Pragmatisten mit Intelligenz und Wahlfähigkeit gleichgesetzt. Daß der Geist primär nicht nur vergegenständlicht, sondern auch Schau von Ideen und Wesenheiten auf Grund von Entwirklichung ist, wird von Klages nicht anerkannt. Der so seines eigentlichen Wesens und Kernes beraubte Geist wird sodann völlig bei ihm entwertet: Er befindet sich nach Klages mit, allem Leben und was zu ihm gehört, mit allem Seelenleben schlichten automatischen »Ausdrucks«, in einem ursprünglichen und grundsätzlichen Kampfzustand – nicht in einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung. In diesem Kampfzustande erscheint der Geist als das im Ablauf der menschlichen Geschichte Leben und Seele immer tiefer zerstörende Prinzip, sodaß die menschliche Geschichte als eine décadence, ja als eine fortschreitende Erkrankungserscheinung des im Menschen sich darstellenden Lebens erscheint. Wäre Klages ganz konsequent – was er nicht ist, da er seltsamer Weise den Geist erst nach der Menschwerdung an einer bestimmten Stelle der Geschichte »hereinbrechen« läßt, sodaß der Geschichte des homo sapiens schon eine gewaltige Vorgeschichte vorhergeht, die mit Bachofen'schen Augen gesehen wird –, so müßte er den Beginn dieser »Tragödie« des Lebens, die nach ihm der Mensch ist, schon in die Menschwerdung selbst hineinlegen.

Einen solchen dynamischen und feindlichen Gegensatz zwischen Leben und Geist anzunehmen verbietet uns schon die eine Tatsache, daß dem Geist als solchem überhaupt keinerlei Kraft und Macht, keine ursprüngliche Tätigkeitsenergie zukommt, durch die er diese »Zerstörung« allererst vollziehen könnte. Was Klages in seinen an feinen Beobachtungen reichen Schriften an wirklich beklagenswerten Erscheinungen geschichtlicher Spätkultur anführt, ist nicht dem »Geiste« zur Last zu legen, sondern in Wirklichkeit auf einen Vorgang zurückzuführen, den ich » Übersublimierung« nenne Vgl. zu den Problemen der Resublimierung und Übersublimierung »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs« a. a. O. – auf einen Zustand so übermäßiger Vergehirnlichung des Menschen, daß auf Grund seiner und als Reaktion auf ihn jeweilig eine bewußt romantische Flucht in einen (vermeintlich meist in der Geschichte gefundenen) Zustand einsetzt, in welchem diese Übersublimierung, insbesondere das Übermaß der diskursiven intellektuellen Tätigkeit noch nicht vorliegt. Eine solche Fluchtbewegung war schon die dionysische Bewegung in Griechenland, war ferner die hellenistische Dogmatik, die das klassische Griechentum mit ähnlichen Augen sah, wie die deutsche Romantik das Mittelalter gesehen hat. Daß solche Geschichtsbilder weitestgehend auf einer durch die eigene Überintellektualisierung geborenen Sehnsucht nach Jugend und Primitivität beruhen, daß sie mit der geschichtlichen Wirklichkeit nie übereinstimmen, das scheint mir Klages nicht genug zu würdigen. Auch verkennt er, daß überall da, wo das Dionysische und die dionysische Form des menschlichen Daseins ursprünglich und naiv ist – und das ist sie vollständig niemals, da, wir sahen es, die ausdrückliche Triebenthemmung ebensosehr vom Geiste aus eingeleitet ist wie die rationale Triebaskese (das Tier kennt einen solch enthemmten Zustand nicht) –, der dionysische Zustand selber auf einer komplizierten bewußten Willenstechnik beruht, d. h. mit demselben »Geiste« arbeitet, der ausgeschaltet werden soll.

Eine andere Gruppe von Erscheinungen, die Klages als Folgen der zerstörerischen Macht des Geistes ansieht, besteht darin, daß überall, wo gegenüber gemeinhin automatisch ablaufenden Tätigkeiten der Vitalseele geistige Tätigkeiten eingesetzt werden, erstere in der Tat weitgehend gestört werden. Einfache Grundsymptome solcher Art sind z. B. die Störung des Herzschlags, des Atems und anderer ganz oder halb automatischer Tätigkeiten durch die Aufmerksamkeit; ferner Störungen, die entstehen, wenn sich der Wille direkt gegen die Triebimpulse richtet, anstatt sich je neuen wertbetonten Inhalten zuzuwenden. Das aber, was Klages hier »Geist« nennt, das ist in Wirklichkeit nicht der Geist, sondern nur die komplizierte technische »Intelligenz« (im Sinne unserer vorhergehenden Ausführungen). Gerade er, der schärfste Gegner aller positivistischen Menschenauffassung, aller Auffassung des Menschen als »homo faber«, wird in diesem fundamentalen Punkte ein unkritischer Schüler der Grundanschauung, die er im übrigen so scharf bekämpft. Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet – es ist ein Grundirrtum, sie in eine ursprüngliche Feindschaft, in einen ursprünglichen Kampf zustand zu bringen:

» Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste


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