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Die Sonderstellung des Menschen kann uns erst deutlich werden, wenn wir den gesamten Aufbau der biopsychischen Welt in Augenschein nehmen. Ich gehe dabei aus von einer Stufenfolge der psychischen Kräfte und Fähigkeiten, wie sie die Wissenschaft langsam herausgestellt hat. Was die Grenze des Psychischen betrifft, so fällt sie mit der Grenze des Lebendigen überhaupt zusammen. Neben den objektiven wesensphänomenalen Eigenschaften der Dinge, die wir »lebendig« nennen, wie Selbstbewegung, Selbstformung, Selbstdifferenzierung, Selbstbegrenzung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht (auf die hier nicht eingegangen werden soll), ist die Tatsache, daß Lebewesen nicht nur Gegenstände für äußere Beobachter sind, sondern auch ein Fürsich- und Innesein besitzen, in dem sie sich selber inne werden, ein für sie wesentliches Merkmal – ein Merkmal, von dem man zeigen kann, daß es mit den objektiven Phänomenen des Lebens an Struktur und Ablaufsform die innigste Seinsgemeinschaft besitzt. Es ist die psychische Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt – das psychische Urphänomen des Lebens.
Die unterste Stufe des Psychischen – zugleich der Dampf, der bis in die lichtesten Höhen geistiger Tätigkeit alles treibt, auch noch den reinsten Denkakten und zartesten Akten lichter Güte die Tätigkeitsenergie liefert – bildet der bewußtlose, empfindungs- und vorstellungslose » Gefühlsdrang.« In ihm ist »Gefühl« und »Trieb« (der als solcher stets bereits eine spezifische Richtung und Zielhaftigkeit »nach« etwas, z. B. Nahrung, Sexualbefriedigung hat) noch nicht geschieden. Ein bloßes »Hinzu«, z. B. zum Licht, und »Vonweg«, eine objektlose Lust und ein objektloses Leiden sind seine zwei einzigen Zuständlichkeiten. Scharf geschieden ist der Gefühlsdrang aber bereits von den Kraftzentren und -Feldern, die den transbewußten Bildern zugrunde liegen, die wir »anorganische« Körper nennen; diesen kann ein Innesein in keinem Sinne zugesprochen werden.
Diese erste Stufe des seelischen Werdeseins, wie sie sich im Gefühlsdrang darstellt, müssen und dürfen wir schon der Pflanze zuweisen. Der Eindruck, der Pflanze mangele ein Innenzustand, rührt nur von der Langsamkeit ihrer Lebensvorgänge her; vor der Zeitlupe verschwindet dieser Eindruck vollkommen. Keineswegs aber geht es an, wie dies Fechner getan hat, der Pflanze auch bereits »Empfindung« und »Bewußtsein« zuzueignen. Wer wie Fechner Empfindung und Bewußtsein als die elementarsten Grundbestandteile des Psychischen ansieht – es geschieht dies mit Unrecht –, der müßte der Pflanze die Beseeltheit absprechen. Zwar ist der Gefühlsdrang der Pflanze bereits auf ihr Medium, auf ein Hineinwachsen in es nach den Grundrichtungen »oben« und »unten«, dem Lichte und der Erde zu, hingeordnet, aber doch nur auf das unspezifizierte Ganze dieser medialen Richtungen, auf mögliche Widerstände und Wirklichkeiten – wichtig für das Leben des pflanzlichen Organismus – in ihnen, nicht aber auf bestimmte Umweltbestandteile und -Reize, denen besondere Sinnesqualitäten und Bildelemente entsprächen. Die Pflanze reagiert z. B. spezifisch auf die Intensität der Lichtstrahlen, nicht aber different auf Farben und Strahlrichtungen. Nach eingehenden neueren Untersuchungen des holländischen Botanikers Blaauw kann man der Pflanze keine spezifischen Tropismen, keine Empfindung, auch nicht die kleinsten Anfänge eines Reflexbogens, keine Assoziationen und bedingten Reflexe zuschreiben, und eben darum auch keinerlei »Sinnesorgane«, wie sie Haberlandt zu umgrenzen gesucht hat. Die durch Reize ausgelösten Bewegungserscheinungen, die man früher auf solche Dinge bezog, haben sich als Bestandteile jener allgemeinen Wachstumserscheinungen der Pflanze erwiesen. Fragen wir, was der allgemeinste Begriff der » Empfindung« ist – bei höheren Tieren dürften die durch die Blutdrüsen auf das Gehirn ausgeübten Reize die primitivsten Empfindungen darstellen und sowohl den Organempfindungen als den von Außenvorgängen zugehenden Empfindungen zu Grunde liegen –, so ist es der Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegungen kraft dieser Rückmeldung. Im Sinne dieser Begriffsbestimmung besitzt die Pflanze keine Empfindung, kein über die Abhängigkeit ihrer Lebenszustände vom Ganzen ihrer Vorgeschichte hinausgehendes spezifisches »Gedächtnis« und keine eigentliche Lernfähigkeit, wie solche auch die einfachsten Infusorien an den Tag legen. Untersuchungen, die vermeintlich bei Pflanzen bedingte Reflexe und eine gewisse Dressierbarkeit feststellten, dürften in die Irre gegangen sein.
Von dem, was wir bei Tieren »Triebleben« nennen, ist in der Pflanze nur der allgemeine Drang zu Wachstum und Fortpflanzung in den Gefühlsdrang eingeschlossen. Daß Leben nicht wesentlich »Wille zur Macht« ist, sondern der Drang zu Fortpflanzung und Tod der Urdrang alles Lebens, beweist daher die Pflanze am klarsten. Weder wählt sie spontan ihre Nahrung, noch verhält sie sich in der Befruchtung aktiv: sie wird durch Wind, Vögel und Insekten passiv befruchtet, und da sie die Nahrung, deren sie bedarf, im allgemeinen aus anorganischem Material selbst bereitet, das überall in gewissem Maße vorhanden ist, hat sie es ja auch nicht nötig, sich wie das Tier an bestimmte Orte zu begeben, um Nahrung zu finden. Daß die Pflanze nicht den Spielraum der spontanen Ortsbewegung des Tieres hat, daß sie keine spezifische Empfindung, keinen spezifischen Trieb, keine Assoziation, keinen bedingten Reflex, kein eigentliches Macht- und Nervensystem besitzt, ist ein Ganzes von Mängeln, das vollständig klar und eindeutig aus ihrer Seins-Struktur zu begreifen ist. Man kann zeigen: hätte die Pflanze nur eines von diesen Dingen, so müßte sie auch das andere und alle anderen haben. Da es keine Empfindung ohne Triebimpuls und Mitanheben einer motorischen Aktion gibt, muß da, wo das Machtsystem fehlt, auch ein System von Empfindungen fehlen. Die Mannigfaltigkeit der Sinnesqualitäten, die ein tierischer Organismus besitzt, ist nie größer als die Mannigfaltigkeit seiner spontanen Beweglichkeit – und eine Funktion der letzteren.
Die wesenhafte Richtung des Lebens, die das Wort »pflanzlich«, »vegetativ« bezeichnet – daß wir es hier nicht mit empirischen Begriffen zu tun haben, beweisen die mannigfachen Übergangserscheinungen zwischen Pflanze und Tier, die schon Aristoteles kannte –, ist ein ganz nach außen gerichteter Drang. Daher spreche ich bei der Pflanze von » ekstatischem« Gefühlsdrang, um dieses totale Fehlen einer dem tierischen Leben eigenen Rückmeldung von Organzuständen an ein Zentrum, dieses völlige Fehlen einer Rückwendung des Lebens in sich selbst, einer noch so primitiven re-flexio, eines noch so schwach »bewußten« Innenzustandes zu bezeichnen. Denn Bewußtsein wird erst in der primitiven re-flexio der Empfindung, und zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände – alles Bewußtsein gründet in Leiden und alle höheren Stufen des Bewußtseins in steigendem Leiden – gegenüber der ursprünglichen spontanen Bewegung. Mit dem Bewußtsein, mit der Empfindung fehlt der Pflanze alle Lebens»wachheit«, die ja aus der Wächterfunktion der Empfindung erst herauswächst. Empfindungen zu entbehren aber vermag die Pflanze wie gesagt nur darum, weil sie – der größte Chemiker unter den Lebewesen – ihr organisches Aufbaumaterial aus den anorganischen Substanzen selber bereitet. So geht in Ernährung und Wachstum, Fortpflanzung und Tod (ohne artspezifizierte Lebensdauer) ihr Dasein auf.
Jedoch findet sich bereits im pflanzlichen Dasein das Urphänomen des Ausdrucks, eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Innenseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm. Der »Ausdruck« ist eben ein Urphänomen des Lebens – keineswegs, wie Darwin meinte, ein Inbegriff atavistischer Zweckhandlungen. Was dagegen der Pflanze ganz fehlt, das sind die Kundgabefunktionen, die wir bei allen Tieren finden, die allen Verkehr der Tiere miteinander bestimmen, und die das Tier bereits weitgehend unabhängig machen von der unmittelbaren Anwesenheit der Dinge, die für es lebenswichtig sind. Erst beim Menschen baut sich auf Ausdrucks- und Kundgabefunktionen die Darstellungs- und Nennfunktion der Zeichen auf. Das für alle Tiere, die in Gruppen leben, wesentliche Doppelprinzip von Pionier und Gefolgschaft, Vormachen und Nachmachen, finden wir in der pflanzlichen Welt nicht.
Auf Grund der mangelnden Zentralisierung des pflanzlichen Lebens, besonders des Fehlens eines Nervensystems, ist die Abhängigkeit der Organe und Organfunktionen bei der Pflanze von Hause aus inniger als bei dem Tiere. Jeder Reiz ändert auf Grund des reizleitenden Gewebesystemes der Pflanze in höherem Maße den ganzen Lebenszustand, als es beim Tiere der Fall ist. Einer mechanischen Lebenserklärung ist die Pflanze daher schwerer, nicht leichter zugänglich als das Tier (im allgemeinen). Denn erst mit der Zunahme der Zentralisierung des Nervensystems im Tiere wächst auch die Unabhängigkeit seiner Teilreaktionen – und damit eine gewisse Annäherung des tierischen Körpers an die Maschinenstruktur.
Da die Pflanze keiner aktiven Anpassung an die tote und lebendige Umwelt fähig ist, darf man bei den gleichwohl bestehenden teleoklinen Beziehungen, die sie zur anorganischen Zusammensetzung ihres Milieus, ferner zu Insekten, Vögeln etc. hat, sagen, daß die Pflanze für die hinter allen morphologischen Bilderscheinungen stehende Einheit des Lebens im metaphysischen Sinne und für den allmählichen Werdecharakter aller Arten von Formbildungen des Lebens an geschlossenen Stoff- und Energiekomplexen in höherem Maße bürge als das Tier. Ganz und gar versagt für ihre Formen wie für ihre Verhaltungsweisen das von den Darwinisten wie den Theisten so maßlos überschätzte Nützlichkeitsprinzip – als sei in einem objektiv-teleologischen Sinne die Pflanze »für« das Tier, das Tier »für« den Menschen da, als sei ein zweckhaftes Streben in der Natur auf den Menschen hin –, ganz und gar auch der Lamarckismus. Die überaus reichen Formen ihrer blättrigen Teile weisen in ihrer Fülle noch eindringlicher als die Formen- und Farbenfülle der Tiere auf ein phantasievoll spielendes, aber ästhetisch geregeltes Prinzip in der unbekannten Wurzel des Lebens hin.
Diese erste Stufe der Innenseite des Lebens, der Gefühlsdrang, ist nicht nur in allen Tieren, sondern auch im Menschen noch vorhanden: Es gibt keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung, hinter der nicht der dunkle Drang stünde, die er mit seinem die Schlaf- und Wachzeiten kontinuierlich durchschneidenden Feuer nicht unterhielte – selbst die einfachste Empfindung ist nie bloß Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit. Gleichzeitig stellt der Drang die Einheit aller reich gegliederten Triebe und Affekte des Menschen dar. Nach neueren Forschern dürfte er im Gehirnstamm des Menschen, der wahrscheinlich auch Zentralstelle für die die leiblichen und seelischen Vorgänge vermittelnden endokrinen Drüsenfunktionen ist, lokalisiert sein. Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles Habens von »Realität«, von »Wirklichkeit« ist, insbesondere auch der Einheit und des allen vorstellenden Funktionen vorangängigen Eindrucks der Wirklichkeit. Vorstellen und mittelbares Denken (Schließen) können uns nie etwas Anderes als das »Sosein« und »Anderssein« dieser Wirklichkeit indizieren. Sie selbst als »Wirklichsein« des Wirklichen ist uns nur in einem mit Angst verbundenem allgemeinen Widerstande, bzw. einem Erlebnis des Widerstandes gegeben. Vgl. die Abhandlung »Erkenntnis und Arbeit« in dem Buche »Die Wissensformen und die Gesellschaft«, und »Idealismus – Realismus« im »Philosophischen Anzeiger«, 2. Jahrgang, Heft 3, Bonn 1927.
Organologisch stellt das vor allem die Nahrungsverteilung regelnde vegetative Nervensystem, wie schon sein Name sagt, im Menschen die noch in ihm vorhandene Pflanzlichkeit dar. Eine periodische Energieentziehung am animalischen, das äußere Machtverhalten regelnden System zu Gunsten des vegetativen ist wahrscheinlich die Grundbedingung der Rhythmik der Schlaf- und Wachzustände. Insofern ist der Schlaf ein relativ pflanzlicher Zustand des Menschen. Im Weibe, bei ausgeprägten Ackerbaustämmen (im Gegensatz zu Tierzüchtern und Nomaden), in dem ganzen (nichtjüdischen) Asien scheint das pflanzliche Prinzip (wie schon Fechner bemerkt) im Menschen zu überwiegen.
Als die zweite seelische Wesensform, die dem undifferenzierten ekstatischen Gefühlsdrang in der objektiven Stufenordnung des seelischen Lebens folgt, haben wir das anzusehen, was wir als » Instinkt« bezeichnen – ein seiner Deutung und seinem Sinne nach sehr umstrittenes dunkles Wort. Wir entgehen dieser Dunkelheit dadurch, daß wir uns aller Definition mit psychologischen Begriffen zunächst enthalten und den Instinkt (wie auch die folgenden Wesensstufen) ausschließlich vom sogenannten Verhalten des Lebewesens aus definieren. Das »Verhalten« eines Lebewesens ist immer Gegenstand äußerer Beobachtung und möglicher Beschreibung. Es ist unabhängig von den physiologischen Bewegungseinheiten, die es tragen, feststellbar, und ebenso feststellbar, ohne daß (physikalische oder chemische) Reizbegriffe bei seiner Charakteristik eingeführt werden. Wir vermögen unabhängig und vor aller sei es physiologischen, sei es psychologischen kausalen Erklärung Einheiten und Veränderungen des Verhaltens eines Lebewesens bei veränderlichen Umgebungsbestandteilen festzustellen und gewinnen damit gesetzliche Beziehungen, die insofern bereits sinnerfüllt sind, als sie ganzheitlichen teleoklinen Charakter tragen. Es ist ein Irrtum der »Behaviouristen«, wenn sie in den Begriff des Verhaltens bereits den physiologischen Hergang seines Zustandekommens aufnehmen. Wertvoll an dem Begriff ist gerade dies, daß es ein psychophysisch indifferenter Begriff ist. D. h. jedes Verhalten ist immer auch Ausdruck von Innenzuständen; denn es gibt kein Innerseelisches, das sich nicht im Verhalten unmittelbar oder mittelbar »ausdrückt«. Es kann und muß daher immer doppelt erklärt werden, psychologisch und physiologisch zugleich; es ist gleich falsch, die psychologische Erklärung der physiologischen wie die letztere der ersteren vorzuziehen. Das »Verhalten« ist das deskriptiv »mittlere« Beobachtungsfeld, von dem wir auszugehen haben.
In diesem Sinne nennen wir »instinktiv« ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muß erstens sinngemäß sein, d. h. es muß so sein, daß es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger teleoklin, d. h. eigendienlich oder fremddienlich ist. Und es muß nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen. Auf den festen Rhythmus kommt es an, nicht etwa auf die Organe, die zu diesem Verhalten benutzt werden und die bei Wegnahme dieses oder jenes Organs wechseln können; auch nicht auf die Kombination einzelner Bewegungen, die je nach der Ausgangslage des tierischen Körpers bei gleicher Aufgabe und Leistung wechseln können. Die amechanische Natur des Instinktes, die Unmöglichkeit, ihn auf kombinierte Einzel- oder Kettenreflexe (wie Loeb auf »Tropismen«) zurückzuführen, ist dadurch gesichert. Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung, Gewöhnung – nach dem Prinzip, das Jennings das von »Versuch und Irrtum« genannt hat – erworbenen gleichfalls sinnvollen Bewegungen nicht. Die Sinnbewegung braucht nicht auf gegenwärtige Situationen zu gehen, sondern kann auch auf zeitlich und räumlich weit entfernte abzielen. Ein Tier bereitet z. B. für den Winter oder für die Eiablage etwas sinnvoll vor, obgleich man nachweisen kann, daß es als Individuum ähnliche Situationen noch nie erlebte, und daß auch Kundgabe, Tradition, Nachahmung von Artgenossen dabei ausgeschaltet ist; es verhält sich so, wie sich nach der Quantentheorie schon das Elektron verhält: »als ob« es einen künftigen Zustand vorhersähe. Ein weiteres Merkmal des instinktiven Verhaltens ist es, daß es nur auf solche typisch wiederkehrende Situationen anspricht, die für das Art leben als solches, nicht für die Sondererfahrung des Individuums bedeutsam sind. Der Instinkt ist stets artdienlich, sei es der eigenen, sei es der fremden Art, mit der die eigene Art in einer wichtigen Lebensbeziehung steht (Ameisen und Gäste; Gallenbildungen der Pflanzen; Insekten und Vögel, die die Pflanzen befruchten). Dieses Merkmal scheidet das instinktive Verhalten erstens scharf von »Selbstdressur« durch »Versuch und Irrtum« und allem »Lernen«, zweitens von allem »Verstandes«gebrauch, die beide, wie wir sehen werden, primär individual- und nicht artdienlich sind. Das instinktive Verhalten ist daher niemals eine Reaktion auf die von Individuum zu Individuum wechselnden speziellen Inhalte der Umwelt, sondern je nur auf eine ganz besondere Struktur, eine arttypische Anordnung der möglichen Umweltteile. Während die speziellen Inhalte weitgehendst ausgewechselt werden können, ohne daß der Instinkt beirrt wird und zu Fehlhandlungen führt, wird die kleinste Änderung der Struktur Beirrungen zur Folge haben. Das ist es, was man als »Starrheit« des Instinktes bezeichnet, im Unterschied zu den überaus plastischen Verhaltungsweisen, die auf Dressur, Selbstdressur und auf Intelligenz beruhen. In seinem gewaltigen Werke »Souvenirs Entomologiques« hat Jules Fabre eine überwältigende Mannigfaltigkeit solch instinktiven Verhaltens mit größter Präzision gegeben. Dieser Artdienlichkeit entspricht es, daß der Instinkt in seinen Grundzügen angeboren und erblich ist, und zwar als spezifiziertes Verhaltungsvermögen selbst, nicht nur als allgemeines Erwerbungsvermögen von Verhaltungsweisen, wie es natürlich auch Gewöhnbarkeit, Dressierbarkeit und Verständigkeit sind. Die Angeborenheit besagt indessen nicht, daß das instinktiv zu nennende Verhalten sich sogleich nach der Geburt abspielen müßte, sondern bedeutet nur, daß es bestimmten Wachstums- und Reifeperioden, evtl. sogar verschiedenen Formen der Tiere (bei Polymorphismus) zugeordnet ist. Sehr wichtig als Merkmal des Instinktes ist endlich, daß er ein Verhalten darstellt, das von der Zahl der Versuche, die ein Tier macht, um einer Situation zu begegnen, unabhängig ist: in diesem Sinne kann er als von vornherein » fertig« bezeichnet werden. So wenig wie die eigentliche Organisation des Tieres durch kleine differentielle Variationsschritte entstanden gedacht werden kann, ebensowenig der Instinkt durch Addition erfolgreicher Teilbewegungen. Wohl ist der Instinkt durch Erfahrung und Lernen spezialisierbar, wie man z. B. an den Instinkten der Jagdtiere sieht, denen zwar das Jagen auf ein bestimmtes Wild, nicht aber die Kunst, es erfolgreich auszuüben, angeboren ist. Das aber, was Übung und Erfahrung hier leistet, entspricht immer nur gleichsam den Variationen einer Melodie, nicht der Erwerbung einer neuen. Der Instinkt ist also schon der Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert und im engsten Zusammenhang mit den gestaltenden physiologischen Funktionen tätig, welche die Strukturformen des Tierkörpers erst bilden.
Sehr wichtig ist das Verhältnis des Instinktes zu den Empfindungen, zur Tätigkeit der Sinnesfunktionen und -Organe, auch zum Gedächtnis. Daß Instinkte erst durch äußere Sinneserfahrungen entstehen (Sensualismus), ist ausgeschlossen. Der Empfindungsreiz löst den rhythmisch festen Ablauf der instinktiven Tätigkeit nur aus, ohne seinen So-Ablauf zu determinieren. Geruchsempfindungsreize, optische Empfindungsreize können dabei dieselbe Tätigkeit auslösen – es müssen also nicht einmal Empfindungen derselben Modalität, geschweige denn derselben Qualität sein, die diese Auslösung besorgen. Wohl aber gilt der umgekehrte Satz: Was ein Tier vorstellen und empfinden kann, ist durch den Bezug seiner angeborenen Instinkte zur Umweltstruktur apriori beherrscht und bestimmt. Dasselbe gilt von seinen Gedächtnisreproduktionen: sie erfolgen stets im Sinne und im Rahmen seiner vorherrschenden Instinktaufgaben, ihrer Oberdetermination, und erst in sekundärer Weise ist die Häufigkeit der assoziativen Verknüpfungen der bedingten Reflexe und der Übungen von Bedeutung. Das Tier, das sehen und hören kann, sieht und hört nur das, was für sein instinktives Verhalten bedeutsam ist – auch bei gleichen Reizen und sensorischen Bedingungen der Empfindung. Alle afferenten Nervenbahnen und Rezeptionsorgane für Reize haben sich auch entwicklungsgeschichtlich erst nach der Anlage von efferenten Nervenbahnen und Erfolgsorganen gebildet. Noch im Menschen liegt dem Sehen der Trieb zum Sehen und diesem der allgemeine Wachtrieb zu Grunde; der Schlaftrieb sperrt Sinnesorgane und -Funktionen zu. So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom Instinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sogenannten »Trieb«handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlung, daß sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (z. B. die Sucht nach Rauschgift). Jede Ableitung instinktiver Verhaltungsweisen aus mechanisch gedachten Tropismen und Taxen (Loeb) – die selbst vielmehr einfachste Instinkte sind –, jede Rückführung auf kombinierte Einzelreflexe motorischer Bahnen (die es nach neueren Forschungen überhaupt nicht gibt; nicht einmal der Patellar- oder der Augenlidschlußreflex ist ein solch rein mechanischer Reflex) und auf Kettenreflexe hat sich als unmöglich erwiesen (Jennings – Alverdes). Ebensowenig aber ist es möglich, den Instinkt auf Vererbung von Verhaltungsweisen zurückzuführen, die auf »Gewohnheit« und »Selbstdressur« beruhen (Spencer), d. h. in letzter Linie auf assoziative Gesetzlichkeit und bedingten Reflex, oder ihn als nachträgliche Automatisierung verständigen, »intelligenten« Verhaltens anzusehen (Wundt). Das Werden des Instinktes einer Art ist durchaus ein Teilprodukt der Artbildung selbst; in »reinen Linien« ist der Instinkt ganz unveränderlich. Teilschritte, wie es solche der Gewöhnung und Übung sind, können ihn nicht verändern, so wenig wie den »Bauplan« eines Tieres. Der Instinkt ist ohne Zweifel eine primitivere Form des Seins und Geschehens als die durch Assoziationen bestimmten seelischen Komplexbildungen. Wir sind in der Lage zu zeigen, daß die psychischen Abläufe, die der assoziativen (gewohnheitsmäßigen) Gesetzmäßigkeit folgen, im Nervensystem erheblich höher lokalisiert, also genetisch später sind als die instinktiven Verhaltungsweisen. Gerade die sinneinheitlichen Verhaltungsweisen (Greifen nach einem Ding, Singen einer Melodie) können in pathologischen Ausfallserscheinungen noch stattfinden, wo weniger Sinngegliedertes (Einzelbewegungen, wie das Bewegen eines einzelnen Fingers; oder das Singen der Tonleiter) nicht mehr hervorzubringen ist. Diese festgegliederten Sinneinheitlichkeiten des Verhaltens sind wesentlich subcortikal bedingt. Die Großhirnrinde ist wesentlich ein Dissoziationsorgan gegenüber den biologisch einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen, nicht ein Assoziationsorgan.
Wir dürfen sagen, daß das Heraustreten relativer Einzelempfindungen und -vorstellungen aus diffusen Komplexen und die assoziative Verknüpfung zwischen diesen Einzelgebilden, desgleichen das Heraustreten eines bestimmten nach Befriedigung verlangenden »Triebes« aus dem instinktiven Sinnverband des Verhaltens, wie andererseits die Anfänge der »Intelligenz«, die den nun erst sinnentleerten Automatismus wieder »künstlich« sinnvoll zu machen sucht, beiderseits genetisch gesehen g1eich ursprüngliche Entwicklungsprodukte (Zerfallsprodukte – nicht im Wertsinne) des instinktiven Verhaltens sind. Sie gehen im allgemeinen streng gleichen Schritt sowohl miteinander wie mit der Individuierung der Lebewesen, dem Herausfallen des Einzelwesens aus der Artgebundenheit; halten ferner gleichen Schritt mit der Mannigfaltigkeit der individuellen Sondersituationen, in die das Lebewesen gelangen kann. Schöpferische Dissoziation, nicht Assoziation oder »Synthese« (Wundt) einzelner Stücke, ist also der Grundvorgang der psychischen Entwicklung. Und dasselbe gilt auch physiologisch: Der Organismus gleicht auch physisch umso weniger einem Mechanismus, je einfacher er organisiert ist, bringt aber bis zum Eintritt des Todes und der Zytomorphose der Organe immer mehr phänomenal mechanismenartige Gebilde und Verhaltungsweisen selbst hervor. Es dürfte wohl nachweisbar sein, daß die Intelligenz keineswegs erst auf einer höheren Stufe des Lebens, wie z. B. Karl Bühler meint, zum assoziativen Seelenleben (und seinem physiologischen Analogon, dem bedingten Reflex) hinzutritt; sie bildet sich vielmehr streng gleichmäßig und parallel zum assoziativen Seelenleben aus, und sie ist, wie jüngst Alverdes und Buytendyk gezeigt haben, keineswegs erst bei den höchsten Säugetieren, sondern schon im Infusorium vorhanden. Es ist, als ob das, was im Instinkt sinnvoll, aber starr und artgebunden ist, in der Intelligenz beweglich und individuell-bezogen würde, das aber, was im Instinkt automatisch ist, in der Assoziation und dem bedingten Reflex mechanisch, also relativ sinnfrei erst würde, gleichzeitig aber auch mannigfaltiger kombinierbar. Daß also die Instinkte keine automatisch gewordenen Verstandes- und Willkürhandlungen sind, das läßt auch verstehen, daß die Gliedertiere, welche auch morphologisch eine ganz andere und viel starrere Grundlage ihrer Organisation besitzen als die höheren Tiere, die Instinkte am vollkommensten besitzen, kaum aber Zeichen eines verständigen (intelligenten) Verhaltens von sich geben, dagegen der Mensch als plastischer Säugetiertypus, bei dem die Intelligenz und nicht minder das assoziative Gedächtnis am höchsten entwickelt ist, stark zurückgebildete Instinkte besitzt. Auf alle Fälle ist die seelische Grundform des Instinktes an die tierische und in atavistischen Resten an die menschliche Form des Lebens geknüpft.
Versucht man das instinktive Verhalten psychisch zu deuten, so stellt es eine untrennbare Einheit von Vor-Wissen und Handlung dar, sodaß niemals mehr Wissen gegeben ist, als in den nächsten Schritt der Handlung gleichzeitig eingeht. Zwar liegt schon der Anfang der Trennung von Sensation und Reaktion vor (Reflexbogen), aber es besteht noch der engste Zusammenhang beider in der Funktion. Ferner ist das Wissen, das im Instinkte liegt, nicht sowohl ein Wissen durch Vorstellungen und Bilder oder gar durch Gedanken, sondern ein Fühlen wertbetonter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und abstoßender Widerstände. Von eingeborenen »Vorstellungen« bei Instinkten zu reden, wie es Reimarus getan hat, hat also keinen Sinn.
Im Verhältnis zum Gefühlsdrang ist der Instinkt zwar bereits auf artmäßig häufig wiederkehrende, aber doch spezifische – inhaltlich verschiedene, daher nicht ohne Wahrnehmung gegebene – Bestandteile der Umwelt gerichtet. Er stellt als solcher eine zunehmende Spezialisierung des Gefühlsdrangs und seiner Qualitäten dar.
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Unter den zwei Verhaltungsweisen, die, wie wir sahen, beide ursprünglich aus dem instinktiven Verhalten hervorgehen, das »gewohnheitsmäßige« und das »intelligente« Verhalten, stellt das »gewohnheitsmäßige« – die dritte psychische Form, die wir unterscheiden – den Inbegriff der Tatsachen der Assoziation, Reproduktion, des bedingten Reflexes, d. h. jene Fähigkeit dar, die wir als » assoziatives Gedächtnis« (Mneme) bezeichnen. Diese Fähigkeit kommt keineswegs allen Lebewesen zu; sie fehlt den Pflanzen, wie schon Aristoteles gesehen hat. Zusprechen müssen wir sie jedem Lebewesen, dessen Verhalten sich auf Grund früheren Verhaltens gleicher Art in einer lebensdienlichen, also sinnvollen Weise langsam und stetig abändert, d. h. so, daß das jeweilige Maß, in welchem sein Verhalten sinnvoller wird, in strenger Abhängigkeit steht von der Zahl der Versuche oder der sog. Probierbewegungen. Daß ein Tier überhaupt spontan Probierbewegungen macht (auch die spontanen Spielbewegungen z. B. der jungen Hunde und Pferde lassen sich dazu rechnen), daß es ferner diese Bewegungen zu wiederholen tendiert, gleichgültig, ob sie Lust oder Unlust im Gefolge haben, beruht nicht auf dem Gedächtnis, sondern ist aller Reproduktion Voraussetzung – ein selbst eingeborener Trieb (Wiederholungstrieb). Daß es aber diejenigen Bewegungen, die hierbei Erfolg hatten für irgend eine positive Triebbefriedigung, später häufiger zu wiederholen sucht – sodaß sie sich in ihm »fixieren« – als diejenigen, die Mißerfolg hatten, ist eben die Grundtatsache, die wir mit dem Prinzip von »Erfolg und Irrtum« bezeichnen. Wo wir solche Tatsachen finden, sprechen wir von »Übung«, wo es sich nur um das Quantitative handelt, von »Erwerbung« von Gewohnheiten in qualitativer Hinsicht, je nachdem von Selbstdressur oder, wenn der Mensch eingreift, von Fremddressur.
Diese psychische und physiologische Fähigkeit allem organischen Leben zuzusprechen (wie Hering und Semon wollten), wäre richtig nur, wenn man damit sagen will, daß das Verhalten alles Lebendigen niemals nur von dem zeitlich unmittelbar vorgehenden Zustand des Organismus, sondern von seiner ganzen Vorgeschichte abhängig ist, daß Lebendiges – im Unterschied vom (phänomenal) Toten – keine streng soseinsidentischen Zustände besitzt, daß also gleiche Ursachen und gleiche Wirkungen hier nicht vorkämen. Es ist aber falsch, wenn man damit meint, daß spezielle sensomotorische Verhaltungsweisen bei allem Lebendigen einen bestimmenden Einfluß auf den jeweilig leichteren Ablauf ähnlicher Verhaltungsweisen besitzen. Denn in diesem Sinne besitzt das gesamte pflanzliche Leben keine obiger Tatsachen, und kann es auch nicht, da es, ganz nach außen ergossen, jene Rückmeldung von jeweiligen Organzuständen an ein Zentrum (= Empfindung) und ein Motorium nicht hat. Die Grundlage des assoziativen Gedächtnisses ist der von Pawlow so benannte »bedingte Reflex«: Ein Hund z. B. sondert nicht nur bestimmte Magensäfte ab, wenn das Fressen in seinen Magen gelangt, sondern auch schon, wenn er das Fressen sieht, oder sogar, wenn er nur die Schritte des Mannes hört, der ihm das Fressen zu bringen pflegt; der Mensch sondert die Verdauungssäfte sogar schon dann ab, wenn ihm im Schlaf suggeriert wird, daß er die betreffende Nahrung einnehme. Läßt man bei einem solchen Verhalten, das durch einen Reiz ausgelöst wird, gleichzeitig mehrmals ein Signal erklingen, so kann auch ohne den adäquaten Reiz bei Auslösen des Signals das betreffende Verhalten eintreten. Solche und ähnliche Tatsachen nennt man »bedingten Reflex«. Nur die psychische Analogie dazu ist die sog. »assoziative Gesetzlichkeit«, nach der ein erlebter Gesamtkomplex von Vorstellungen sich wiederherzustellen und seine fehlenden Glieder zu ergänzen strebt, wenn ein Teil dieses Komplexes, z. B. ein Teil der Umwelt, sensorisch oder motorisch wiedererlebt wird. Zerfällt ein Komplex in mehrere Teilstücke, so können sich auch diese Einzelvorstellungen wieder verbinden nach dem Gesetz von »Berührung und Ähnlichkeit«. Die sog. Assoziationsgesetze für die Reproduktion von Vorstellungen resultieren hieraus. So sicher hier eine eigentümliche Gesetzlichkeit des psychischen Lebens vorliegt, die bei einigen höheren Tierarten, besonders den Wirbel- und Säugetieren, eine sehr große Rolle spielt, so hat doch die Forschung gewiß gemacht: vollständig strenge Assoziationen von Einzelvorstellungen, die nur dieser Gesetzmäßigkeit von »Berührung und Ähnlichkeit«, d. h. partieller Identität der Ausgangsvorstellungen mit früheren Komplexen unterliegen, dürften niemals vorkommen, so wenig wie ein völlig isolierter immer gleicher Reflex eines einzelnen örtlich bestimmten Organs, so wenig auch wie eine streng reizproportionale »reine« Empfindung unabhängig von allen wechselnden determinierenden Triebeinstellungen und allem Gedächtnismaterial. (Jede Empfindung ist immer eine Funktion des Reizes und der triebhaften Aufmerksamkeit.) So wenig es eine »reine« isolierte streng reizproportionale Empfindung gibt, so wenig eine »reine« Assoziation. Alles assoziative Gedächtnis steht unter der determinierenden Kraft von Trieben, Bedürfnissen und deren Aufgaben, die diese selbst (oder der Zwang des Dresseurs) setzen. Es handelt sich bei allen Assoziationsgesetzen – genau so wie bei den Naturgesetzen der Physik, die Gesamtvorgänge betreffen – nur um statistische Regelmäßigkeiten, nicht um Elementargesetze des Seelenlebens (wie Loke, Hume, Mill, die gesamte Assoziationspsychologie meinten). Alle Begriffe wie »reine« Empfindung, assoziativer Reflex, haben daher den Charakter von Grenzbegriffen, die nur die Richtung einer gewissen Art von psychischen respektive physischen Veränderungen andeuten. Annähernd reine Assoziationen finden sich wohl nur bei ganz bestimmten Ausfallserscheinungen gedanklicher Oberdeterminanten, z. B. bei äußeren Klangassoziationen der Sprachworte im Zustande der Ideenflucht. So wenig ist diese Verknüpfungsweise genetisch elementar, daß erst im Alter der seelische Vorstellungsverlauf (als Folge der Stärkeminderung und der Differenzierungsabnahme des Trieblebens) sich dem Assoziationsmodell mehr und mehr annähert, wie die Veränderungen der Schrift, des Zeichnens, der Malerei, der Sprache im hohen Alter bezeugen: sie erhalten alle einen zunehmend additiven, nichtganzheitlichen Charakter (d. h. die Assoziationsgesetze gelten angenähert für den senilen Schwachsinn). Analog nähert sich im Altern die Empfindung der Reizproportionalität der »reinen« Empfindung. Gerade so wie der leibliche Organismus im Laufe des Lebens immer mehr einen relativen Mechanismus hervorbringt, bis er im Tode ganz in einen solchen versinkt, so bringt auch unser psychisches Leben immer mehr rein gewohnheitsmäßige Verbindungen von Vorstellungen und Verhaltungsweisen hervor: der Mensch wird im Altern immer mehr der Sklave der Gewohnheit. Genau so wie die nüchterne Wahrnehmung von Tatbeständen ohne Phantasieüberschuß bzw. ohne mythische Verarbeitung ein Spätphänomen der seelischen Entwicklung ist für den Einzelnen bzw. für ganze Völker – das ganze Leben der Völker in ihrer mythologischen Jugendperiode, nicht minder das seelische Leben des Kindes ist überwuchert und zugedeckt von der spontanen ursprünglichen Trieb- und Wunsch phantasie –, so ist auch die (gehirnphysiologisch, sehr hoch lokalisierte) assoziative Verbindung ein solches Spätphänomen. Vgl. die Abhandlung »Probleme einer Soziologie des Wissens« und »Erkenntnis und Arbeit«, beide in dem Bande »Die Wissensformen und die Gesellschaft«. Sie ist also nichts weniger als ein Elementarphänomen, zu dem später synthetisierende Bindungen durch ein sogenanntes »beziehendes Denken« oder eine »Oberseele« träten. Das assoziative Gedächtnis ist auch darin nie »rein«, daß es, wie sich gezeigt hat, fast keine Assoziation gibt, die ganz ohne intellektuellen Einschlag ist. Niemals findet sich der Fall, daß der Übergang von assoziativer Zufallsreaktion zu sinnmäßiger Reaktion streng stetig mit der Zahl der Versuche wächst. Die Kurven zeigen fast immer Unstetigkeit, und zwar in dem Sinne, daß die Wendung von Zufall zu Sinn schon etwas früher eintritt, als das reine Prinzip von »Versuch und Irrtum« nach den Wahrscheinlichkeitsregeln erwarten läßt – so, als sei durch die Zahl der Versuche so etwas wie »Einsicht« geweckt worden.
Das Prinzip des assoziativen Gedächtnisses ist in irgend einem Grade bereits bei allen Tieren tätig und stellt sich als unmittelbare Folge des Auftretens des Reflexbogens, der Scheidung des sensorischen vom motorischen Systeme dar. In der Größe seiner Verbreitung gibt es aber gewaltige Unterschiede. Die typischen Instinkttiere (Gliedertiere) mit kettenartig geschlossenem Bau zeigen es am wenigsten, die Tiere von plastischer, wenig starrer Organisation mit großer breiter Kombinierbarkeit immer neuer Bewegungen aus Teilbewegungen (Säuge- und Wirbeltiere) zeigen es am schärfsten. Im Menschen nimmt das Prinzip der Assoziation, Reproduktion, die größte Ausdehnung an. Eng verbindet sich das Prinzip vom ersten Augenblick seines Auftretens an mit der Handlungs- und Bewegungs nachahmung auf Grund des Affektausdruckes und der Signale der Artgenossen. »Nachahmung« und »Kopieren« sind nur Spezialisierungen jenes Wiederholungstriebes, angewandt auf fremdes Verhalten und Erleben, der zunächst eigenen Verhaltungsweisen und Erlebnissen gegenüber tätig ist und sozusagen den Dampf alles reproduktiven Gedächtnisses darstellt. Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der » Tradition«, die zu der biologischen »Vererbung« eine ganz neue Dimension der Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt, jedoch von aller freibewußten »Erinnerung« an Vergangenes (Anamnesis) und von aller Überlieferung auf Grund von Zeichen, Quellen, Dokumenten (allem Geschichtswissen) aufs allerschärfste geschieden werden muß. Während jene letzteren Formen nur dem Menschen eigentümlich sind, tritt die Tradition schon in den Horden, Rudeln und sonstigen Gesellschaftsformen der Tiere auf: auch hier »lernt« die Herde, was die Pioniere vormachen, und vermag es kommenden Generationen zu überliefern.
Ein gewisser »Fortschritt« ist daher schon durch die Tradition möglich. Doch beruht alle echte menschliche Entwicklung wesentlich auf einem zunehmenden Abbau der Tradition. Bewußte »Erinnerung« an individuelle, einmalig erlebte Geschehnisse und stetige Identifikation einer Mehrheit von Erinnerungsakten untereinander auf ein und dasselbe Vergangene hin ist nur dem Menschen eigen; sie stellt stets die Auflösung, ja die eigentliche Tötung der lebendigen Tradition dar. Die tradierten Inhalte sind uns ja gleichwohl stets als »gegenwärtige« gegeben, als zeitlich undatiert; sie erweisen sich als wirksam auf unser gegenwärtiges Tun, ohne aber selbst dabei in einer bestimmten Zeitdistanz gegenständlich zu werden: die Vergangenheit suggeriert uns mehr in der Tradition, als daß wir um sie »wissen«. Die Suggestion, nach P. Schilder wahrscheinlich auch die Hypnose, ist eine schon in der Tierwelt weit verbreitete Erscheinung; letztere dürfte als Hilfsfunktion der Begattung entstanden sein und diente wohl zuerst dem Ziele, das Weibchen in den Zustand der Lethargie zu versetzen. Die Suggestion ist eine primäre Erscheinung gegenüber der »Mitteilung« z. B. eines Urteils, dessen Sach-Sinnverhalt selbst im »Verstehen« erfaßt wird. Dieses letztere Verstehen von gemeinten Sachverhalten, die in einem sprachlichen Satz beurteilt werden, findet sich nur beim Menschen. Die Abtragung der Traditionsgewalt schreitet in der menschlichen Geschichte zunehmend fort: sie ist eine Leistung der Ratio, die stets in ein und demselben Akte einen tradierten Inhalt objektiviert und in die Vergangenheit, in die er gehört, gleichsam zurückwirft – damit den Boden freimachend für je neue Entdeckungen und Erfindungen. Die sehr langsame Abtragung der Wirksamkeit all dieser Mächte, welche »die Gewohnheit zur Amme des Menschen machen«, ist ein wesentlicher Teil aller Geschichte. Der Druck, den die Tradition auf unser Verhalten vorbewußt ausübt, nimmt in der Geschichte durch die fortschreitende Geschichts wissenschaft zunehmend ab. –
Die Wirksamkeit des assoziativen Prinzips bedeutet im Aufbau der psychischen Welt zugleich Zerfall des Instinktes und seiner Art von »Sinn« und Fortschritt der Zentralisierung und gleichzeitigen Mechanisierung des organischen Lebens, bedeutet ferner zunehmende Herauslösung des organischen Individuums aus der Artgebundenheit und der anpassungslosen Starrheit des Instinktes. Denn erst durch den Fortschritt dieses Prinzips vermag das Individuum sich je neuen, d. h. nicht-arttypischen Situationen anzupassen. Es hört damit auf, nichts weiter zu sein als ein Durchgangspunkt von Fortpflanzungsprozessen. Ist das Prinzip der Assoziation im Verhältnis zur praktischen Intelligenz (wie wir sehen werden) noch ein relatives Prinzip der Starrheit und Gewohnheit – ein »konservatives Prinzip« –, so ist es im Verhältnis zum Instinkt also bereits ein mächtiges Werkzeug der Befreiung. Es schafft eine ganz neue Dimension des Reicherwerdens des Lebens.
Das gilt auch für die Triebe, Gefühle, Affekte. Der vom Instinkt entbundene Trieb erscheint relativ schon bei den höheren Tieren – damit freilich auch der Horizont der Maßlosigkeit: er wird schon hier mögliche Lustquelle, unabhängig vom Ganzen der Lebenserfordernisse. Nur solange z. B. der Sexualimpuls eingebettet ist in die tiefe Rhythmik der mit dem Wandel der Natur einhergehenden Brunstzeiten, ist er ein unbestechlicher Diener des Lebens. Herausgelöst aus der instinktiven Rhythmik, wird er mehr und mehr selbständige Quelle der Lust – und kann schon bei höheren Tieren, insbesondere bei gezähmten, den biologischen Sinn seines Daseins weit überwuchern (z. B. Onanie bei Affen, Hunden). Wird das Triebleben, das ursprünglich durchaus auf Verhaltungsweisen und Güter, und keineswegs auf die Lust als Gefühl gerichtet ist, vom Menschen prinzipiell als Lustquelle benutzt, wie in allem Hedonismus, so haben wir es mit einer späten Dekadenzerscheinung des menschlichen Lebens zu tun. Vgl. zur Kritik des Hedonismus – Eudämonismus »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik«. Die rein auf die Lust gerichtete Lebenshaltung stellt eine ausgesprochene Alterserscheinung des individuellen wie des Völker-Lebens dar, wie etwa der alte »den Tropfen kostende« Trinker und analoge Erscheinungen im Erotischen bezeugen. Ebenso ist die Trennung der höheren und niederen seelischen Funktionsfreuden von der Zustandslust der Triebbefriedigung und das Überwuchern der Zustandslust über die vitalen und geistigen Funktionsfreuden eine Alterserscheinung. Das »Lustprinzip« ist also nichts Ursprüngliches, wie der Hedonismus, ein Bruder des Sensualismus, meint, sondern Folge erst gesteigerter assoziativer Intelligenz. Erst im Menschen nimmt diese Isolierbarkeit des Triebes aus dem instinktiven Verhalten und die Trennbarkeit von Funktions- und Zustandslust die ungeheuerlichsten Formen an, sodaß man mit Recht gesagt hat, der Mensch könne immer mehr oder weniger als ein Tier sein, niemals aber – ein Tier.
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Wo immer die Natur diese neue psychische Form des assoziativen Gedächtnisses aus sich hervorgehen ließ, hat sie, wie ich schon andeutete, zugleich das Korrektiv für ihre Gefahren schon in die ersten Anlagen dieser Fähigkeit mithineingelegt. Dieses Korrektiv ist nichts Anderes als die prinzipiell noch »organisch gebundene praktische Intelligenz«, wie wir sie nennen wollen – die vierte Wesensform des psychischen Lebens. Eng mit ihr einher geht die ebenso noch organisch gebundene Wahlfähigkeit und Wahlhandlung, die Vorzugsfähigkeit zwischen Gütern und die über den bloßen Geschlechtstrieb hinausgehende Vorzugsfähigkeit zwischen den Artgenossen im Prozeß der Fortpflanzung (Anfänge des Eros). Vgl. über Geschlechtstrieb und Geschlechtsliebe in »Wesen und Formen der Sympathie«; ferner in der Abhandlung »Über Scham und Schamgefühl«, Nachlaßband I 1933.
Auch das »intelligente« Verhalten können wir definieren zunächst ohne Hinblick auf die psychischen Vorgänge. Ein Lebewesen verhält sich »intelligent«, wenn es ohne Probierversuche oder je neu hinzutretende Probierversuche ein sinngemäßes – sei es »kluges«, sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merkbar anstrebendes, d. h. »törichtes« (»töricht« kann nur sein, wer intelligent ist) – Verhalten neuen, weder art- noch individualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhaft bestimmte Aufgabe zu lösen. Wir sprechen von »organisch gebundener« Intelligenz, solange als das innere und äußere Verfahren, welches das Lebewesen einschlägt, im Dienste einer Triebregung oder einer Bedürfnisstillung steht, und wir nennen diese Intelligenz auch »praktisch«, da ihr Endsinn immer ein Handeln ist, durch das der Organismus sein Triebziel erreicht (bzw. verfehlt). Die selbe Intelligenz kann beim Menschen in den Dienst spezifisch geistiger Ziele gestellt werden; erst dann erhebt sie sich über Schlauheit und List.
Gehen wir auf die psychische Seite hinüber, so können wir Intelligenz definieren als die plötzlich aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt, der weder direkt wahrnehmbar gegeben ist noch auch je vorher wahrgenommen wurde, d. h. reproduktiv verfügbar wäre. Positiv ausgedrückt: als Einsicht in einen Sachverhalt (seinem Dasein und zufälligen Sosein nach) auf Grund eines Beziehungsgefüges, dessen Fundamente zu einem Teil in der Erfahrung gegeben sind, zum anderen Teile antizipatorisch in der Vorstellung, z. B. auf einer bestimmten Stufe optischer Anschauung hinzu ergänzt werden. Für dieses nicht reproduktive, sondern produktive Denken ist also kennzeichnend immer die Antizipation, das Vorher-Haben eines neuen nie erlebten Tatbestandes (pro-videntia, prudentia, Klugheit, Schlauheit, List). Der Unterschied der Intelligenz gegenüber dem assoziativen Gedächtnis liegt klar zu Tage: Die zu erfassende Situation, der im Verhalten praktisch Rechnung zu tragen ist, ist nicht nur artneu und atypisch, sondern vor allem, auch dem Individuum »neu«. Ein solches objektiv sinnvolles Verhalten erfolgt plötzlich, und zeitlich vor neuen Probierversuchen und unabhängig von der Zahl der vorhergehenden Versuche. Schon im Ausdruck drückt sich diese Plötzlichkeit aus, z. B. im Aufleuchten des Auges des Tieres, was Wolfgang Köhler sehr plastisch als Ausdruck eines »Aha«-Erlebnisses deutet. Ferner: Nicht Verbindungen von Erlebnissen, die nur gleichzeitig gegeben waren oder in ihren Teilen partiell identisch d. h. ähnlich sind, rufen hier die neue Vorstellung hervor, die eine Lösung der Aufgabe enthält; auch nicht feste typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam ausgewählte Sachbeziehungen der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile zueinander, welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zur Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von Etwas, Ursache von Etwas.
Ob das Tier, insbesondere die höchstorganisierten Menschenaffen, die Schimpansen, die hier geschilderte Stufe des psychischen Lebens erreicht haben oder nicht, darüber herrscht heute ein verwickelter und unerledigter Streit, der hier nur oberflächlich berührt werden kann. Seit W. Köhler seine auf der deutschen Versuchsstation in Teneriffa mit erstaunlicher Geduld, Genauigkeit und Ingeniosität vorgenommenen langjährigen Versuche mit Schimpansen veröffentlicht hat, ist dieser Streit nicht verstummt, an dem sich fast alle Psychologen beteiligt haben. Vgl. Wolfgang Köhler, Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Mit vollem Recht spricht meines Erachtens Köhler seinen Versuchstieren einfachste Intelligenzhandlungen im oben definierten Sinne zu. Andere Forscher bestreiten sie – fast jeder sucht mit anderen Gründen die alte Lehre zu stützen, es komme den Tieren nichts weiter zu als assoziatives Gedächtnis und Instinkt, und es sei Intelligenz auch schon als primitive Schlußfolgerung (ohne Zeichen) ein, ja das Monopol des Menschen. Die Köhlerschen Versuche bestanden darin, daß zwischen Triebziel (z. B. eine Frucht) und Tier steigend verwickelte Umwege oder Hindernisse oder als mögliche »Werkzeuge« dienende Gegenstände (Kisten, Seile, Stöcke, mehrere ineinander schiebbare Stöcke, Stöcke, die erst herbeizuschaffen oder als solche zu präparieren waren) eingeschoben wurden und dann beobachtet wurde, ob, wie und mit welchen vermutlichen psychischen Funktionen das Tier nun sein Triebziel zu erreichen wisse und wo hier die genau bestimmbaren Grenzen seiner Leistungsfähigkeit liegen. Die Versuche erweisen nach meiner Ansicht klar, daß die Leistungen der Tiere nicht alle aus Instinkten und dazutretenden assoziativen Vorgängen (Gedächtniskomponenten vorhandener Vorstellungsverbindungen) abgeleitet werden können, daß vielmehr in einigen Fällen echte Intelligenzhandlungen vorliegen.
Was an solch praktisch-organisch gebundener Intelligenz vorzuliegen scheint, sei kurz skizziert: Indem das Triebziel, z. B. eine Frucht, dem Tiere optisch aufleuchtet und sich gegenüber dem optischen Umwelt-Felde scharf abhebt und verselbständigt, bilden sich alle Gegebenheiten, die die Umwelt des Tieres enthält, eigenartig um, insbesondere das ganze optische Feld zwischen Tier und Frucht. Es strukturiert sich in seinen Sachbezügen so, erhält ein derartiges relativ »abstraktes« Relief, daß Dinge, die, für sich wahrgenommen, dem Tier entweder gleichgültig oder als »etwas zum Beißen«, »etwas zum Spielen«, »etwas zum Schlafen« erscheinen (z. B. eine Decke, die das Tier aus seinem Schlafraum holt, um eine direkt nicht erreichbare, außerhalb des Käfigs liegende Frucht heranzuziehen), den abstrakten dynamischen Bezugscharakter »Ding zum Fruchtholen« erhalten; nicht also nur wirkliche Stöcke, die den Ästen ähnlich sind, an denen im normalen Baumleben des Tieres Früchte hängen – das könnte noch als Instinkt gedeutet werden –, sondern auch ein Stück Draht, Strohhalme, eine Strohhutkrempe, eine Decke, kurz alles, was die abstrakte Vorstellung »beweglich und langgestreckt« erfüllt. Die Triebdynamik im Tiere selbst ist es, die sich hier zu ver sachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu erweitern beginnt. Der betreffende Gegenstand, den das Tier gebraucht, erhält den (allerdings nur okkasionellen) dynamischen Funktionswert eines »Werkzeugs«, eines »Etwas zur Annäherung der Frucht«; er erhält den Charakter der sinnmäßigen Gerichtetheit auf das optisch gegebene stark aufleuchtende Ziel hin: das Seil, der Stock selbst scheint sich dem Tiere auf das Ziel hin zu »richten«, wenn nicht hinzubewegen. Bei der viel größeren Nachgiebigkeit des tierischen (auch des kindlichen und primitiv-menschlichen) optischen Komplexes für Begierden, Triebe, Wunschziele ist es nicht ausgeschlossen, daß diese Verlagerung gleichsam des Triebimpulses in die Umweltdinge hinein (als »wollten diese selber alle zur Frucht hin«, nicht nur das Tier) auch optische Bewegungserscheinungen des Stockes in die Richtung der Frucht auftreten läßt (eine Erscheinung, die E. R. Jaensch für die optischen Anschauungsbilder bei Kindern nachwies). Das Kausal- oder Wirkphänomen – ein dynamisches Phänomen, das keineswegs in ein regelmäßiges Nacheinander der Erscheinungen aufgeht, wie Hume vermeinte – dürften wir hier in seinem ersten Ursprung belauschen: als ein Phänomen, das in der Vergegenständlichung der erlebten Triebhandlungskausalität auf die Dinge der Umwelt beruht und hier mit »Mittel«sein noch vollständig zusammen fällt. Gewiß findet die beschriebene Umstrukturierung beim Tiere nicht durch bewußte reflexive Tätigkeit statt, sondern durch eine Art anschaulich-sachlicher Umstellung der Umweltgegebenheiten selbst. Aber es ist doch echte Intelligenz, Erfindung, und nicht nur Instinkt und Gewohnheit. Der große Unterschied der Begabung der Tiere zu solchem Verhalten bestätigt übrigens den intelligenten (nichtinstinktiven) Charakter dieser Handlungen.
Für Wahl und Wahlhandlung gilt Ähnliches. Es ist irrig, dem Tiere die Wahlhandlung abzusprechen, zu meinen, daß immer nur der je stärkere Einzeltrieb es (nach dem Resultantenprinzip) bewege. Das Tier ist kein Triebmechanismus, so wenig als es ein Instinktautomatismus und Assoziations- und Reflexmechanismus ist. Nicht nur sind seine Triebimpulse nach führenden Obertrieben und ausführenden Unter- und Hilfstrieben, ferner nach Trieben zu allgemeineren und spezielleren Leistungen bereits scharf gegliedert, es vermag darüber hinaus auch von seinem Trieb zentrum her, das es (im Gegensatz zur Pflanze) entsprechend dem Maß der Einheitsstruktur seines Nervensystems hat, spontan in seine Triebkonstellation einzugreifen und, bis zu einer gewissen Grenze, nahe winkende Vorteile zu meiden, um zeitlich entferntere und nur auf Umwegen zu gewinnende, aber größere Vorteile zu erreichen. Das, was das Tier sicher nicht hat, ist erst jenes Vorziehen zwischen Werten selbst – z. B. das Vorziehen des Nützlichen als Wert vor dem Angenehmen als Wert, unabhängig von den einzelnen konkreten Güterdingen, und die eng dazugehörige »Gesinnung« Vgl. über den Unterschied von »Wert« und »Gut« in »Der Formalismus in der Ethik etc«.. In allem Affektiven steht das Tier dem Menschen sogar noch viel näher als in Bezug auf Intelligenz. Geschenk, Hilfsbereitschaft, Versöhnung und Ähnliches kann man bereits bei Tieren finden.