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Wollen wir uns die Besonderheit, die Eigenartigkeit dessen, was wir »Geist« nennen, im Einzelnen klarer machen, so knüpfen wir am besten an einen spezifisch geistigen Akt an, den Akt der Ideierung. Es ist ein von aller technischen Intelligenz, allem mittelbaren schlußfolgernden »Denken«, dessen erste Anfänge wir schon dem Tiere zuwiesen, völlig verschiedener Akt. Ein Problem der Intelligenz wäre beispielsweise folgendes: Ich habe jetzt-hier Schmerz im Arm – wie ist er entstanden, wie kann er beseitigt werden? Das festzustellen, wäre eine Aufgabe der positiven Wissenschaft, der Physiologie, der Psychologie, der Medizin. Ich kann aber denselben Schmerz in einer distanteren, besinnlichen, kontemplativen Haltung zu diesem selben Erlebnis auch als »Beispiel« fassen für den höchst seltsamen und höchst verwunderlichen Wesensverhalt, daß diese Welt überhaupt schmerz-, übel- und leidbefleckt ist; dann werde ich anders fragen: was ist denn eigentlich »der Schmerz selbst« – abgesehen davon, daß ich ihn jetzt hier habe? und wie muß der Grund der Dinge beschaffen sein, daß so etwas wie »Schmerz überhaupt« möglich ist? Ein großartiges Beispiel für solch einen ideierenden Akt gibt die bekannte Bekehrungsgeschichte Buddhas: Der Prinz sieht einen Armen, einen Kranken, einen Toten, nachdem er im Palaste des Vaters jahrelang allen negativen Eindrücken ferngehalten ward; er erfaßt aber jene drei zufälligen »jetzt-hier-so-seienden« Tatsachen sofort als bloße Beispiele für eine an ihnen erfaßbare essentielle Weltbeschaffenheit. Descartes suchte sich die essentia des Körpers und seinen Wesensaufbau an einem Stück Wachs klar zu machen – das ist eine andere Frage, als wenn z. B. ein Chemiker einen bestimmten Körper auf seine Bestandteile hin untersucht. Eindringliche Beispiele für Fragen essentieller Art bietet die gesamte Mathematik. Das Tier hat vage Mengenvorstellungen, die aber ganz an den wahrgenommenen Dingen, ihrer Gestalt, Gruppierung etc. haften bleiben. Der Mensch erst vermag die Dreiheit als »Anzahl« von drei Dingen von diesen Dingen loszulösen und mit der »Zahl« 3 als einem selbständigen Gegenstand nach dem inneren Erzeugungsgesetz der Reihe solcher Gegenstände zu operieren. Was so die Mathematik findet an Sätzen über die Beziehungen der unsinnlichen Mannigfaltigkeiten, die sie untersucht, das ist – wenn heute nicht, so morgen – seltsamer Weise der strengsten Anwendung fähig auf alle realen Dinge, die in der (in Axiomen definierten) Mannigfaltigkeit stehen. Das alles sind Fragen, wie sie der Geist als solcher stellt, nicht die schlußfolgernde Intelligenz, die nur Mittel geben kann, sie zu lösen. Nichts dergleichen vermag das Tier.
Ideieren heißt also, unabhängig von der Größe und Zahl der Beobachtungen, die wir machen, und von induktiven Schlußfolgerungen, wie sie die Intelligenz anstellt, die essentiellen Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt an je einem Beispiel der betreffenden Wesenregion miterfassen. Das Wissen aber, das wir so gewinnen, gilt, obschon an einem Beispiel gewonnen, in unendlicher Allgemeinheit von allen möglichen Dingen, die dieses Wesens sind, und ganz unabhängig von unseren menschlichen Zufalissinnen und der Art und dem Maße ihrer Erregbarkeit für alle möglichen geistigen Subjekte, die über dasselbe Material denken. Einsichten, die wir so gewinnen, gelten also hinaus über die Grenzen unserer sinnlichen Erfahrungen, sie gelten nicht nur für diese wirklich daseiende Welt, sondern für alle möglichen Welten. Wir nennen sie in der Schulsprache » a priori«.
Zwei verschiedene Funktionen erfüllen solche Wesenserkenntnisse: Für die positiven Wissenschaften, deren Feld durch die Prüfbarkeit ihrer reduzierten Sätze vermittels Beobachtung und Messung streng umgrenzt ist, bilden sie die obersten Voraussetzungen, die Axiome, die in den Grenzen der allgemeinsten Gegenstandslogik für alle Gebiete je besondere Gruppen ausmachen und die Richtung einer fruchtbaren Beobachtung, Induktion und Deduktion durch Intelligenz und diskursives Denken allererst weisen. Für die philosophische Metaphysik aber, deren Endziel die Erkenntnis des absolut seienden Seins ist, bilden die Wesenserkenntnisse die »Fenster ins Absolute«, wie Hegel treffend und bildhaft sagt. Denn jedes echte Wesen, das die Vernunft in der Welt findet, kann weder selbst, noch kann das Dasein von »etwas« solchen Wesens auf empirische Ursachen endlicher Art zurückgeführt werden: es kann nur, soweit es Wesen ist, dem einen übersingulären Geiste als dem Attribut des übersingulären seienden Ens a se zugeschrieben werden, und alles Dasein eines solchen Wesens überhaupt als eine Setzung des ewigen Dranges als seines zweiten Attributs aufgefaßt werden.
Diese Fähigkeit der Trennung von Wesen und Dasein macht das Grundmerkmal des menschlichen Geistes aus, das alle anderen Merkmale erst fundiert. Nicht daß er Wissen hat, ist dem Menschen wesentlich, wie schon Leibniz sagte, sondern daß er apriori-Wesen hat oder es zu erwerben fähig ist. Eine »konstante« Vernunftorganisation, wie sie Kant angenommen hat, gibt es dabei keineswegs; sie unterliegt vielmehr prinzipiell dem geschichtlichen Wandel. Nur die Vernunft selbst als Anlage und Fähigkeit, durch Funktionalisierung neuer Wesenseinsichten – welche führende Pioniere der Menschheit an den erfahrbaren Tatsachen finden und von der Menge nach- und mitvollzogen werden – auch immer neue Denk- und Anschauungs-, Liebens- und Wertungs formen zu bilden und zu gestalten, ist konstant.
Wollen wir von hier aus tiefer in das Wesen des Menschen dringen, so haben wir uns das Gefüge der Akte vorzustellen, die zum Akt der Ideierung führen. Bewußt oder unbewußt vollzieht der Mensch dabei eine Technik, die man als (versuchsweise) Aufhebung des Wirklichkeitscharakters der Dinge, der Welt bezeichnen kann. In diesem Versuch, in dieser Technik der Wesenserfassung, schält sich der Logos der Wesenheiten aus der konkreten, sinnfälligen Dingwelt – sofern sie schon »Gegenstand« geworden – heraus. Das Tier, wir sahen es, lebt ganz im Konkreten und in der Wirklichkeit. Mit aller Wirklichkeit ist jenachdem eine Stelle im Raum und eine Stelle in der Zeit, ein Jetzt und Hier, ferner ein zufälliges Sosein verbunden, wie es die sinnliche Wahrnehmung je von einem »Aspekt« aus gibt.
Mensch sein heißt: dieser Art Wirklichkeit ein kräftiges » Nein« entgegenschleudern. Das hat Buddha gewußt, wenn er sagt: »herrlich sei es, jedes Ding zu schauen, furchtbar es zu sein« und eine Technik der Entwirklichung der Welt und des Selbst entwickelte. Das hat Platon gewußt, wenn er die Ideenschau an eine Abwendung der Seele von dem sinnlichen Gehalt der Dinge knüpft und an eine Einkehr der Seele in sich selbst, um hier die »Ursprünge« der Dinge zu finden. Und nichts anderes meint auch Edmund Husserl, wenn er die Ideenerkenntnis an eine »phänomenologische Reduktion«, eine »Durchstreichung« oder eine »Einklammerung« des zufälligen Daseins-Koeffizienten der Weltdinge knüpft, um ihre »essentia« zu gewinnen. Freilich kann ich der Theorie dieser Reduktion bei Husserl im Einzelnen nicht zustimmen, wohl aber zugeben, daß in ihr der Akt gemeint ist, der den menschlichen Geist recht eigentlich definiert.
Will man wissen, wie dieser Akt der Reduktion erfolgt, so muß man zunächst wissen, worin unser Wirklichkeitserlebnis eigentlich besteht. Es gibt für den Wirklichkeitseindruck nicht eine besondere angebbare Sensation (hart, fest, etc.). Auch die Wahrnehmung, die Erinnerung, das Denken und alle möglichen perzeptiven Akte vermögen uns diesen Eindruck nicht zu verschaffen: was sie geben, ist immer nur das (zufällige) Sosein der Dinge, niemals ihr Dasein. Was uns das Dasein (= Wirklichsein) gibt, das ist vielmehr das Erlebnis des Widerstandes der schon erschlossenen Weltsphäre – und diesen Widerstand gibt es nur für unser strebendes, für unser triebhaftes Leben, für unseren zentralen Lebensdrang. Vgl. »Erkenntnis und Arbeit« und »Idealismus – Realismus« a. a. O. Nicht ein Schluß führt z. B. zur Realsetzung der Außenwelt (die als Sphäre z. B. auch im Traume besteht), nicht der anschauliche Gehalt der Wahrnehmung (wie die »Formen«, »Gestalten«) gibt uns das Realitätserlebnis, nicht die Gegenständlichkeit (die ja auch Phantasiertes hat), nicht die fixe Stelle im Raume in der Bewegung der Aufmerksamkeit usw. –, sondern der erlebte Widerstandseindruck gegen die unterste, primitivste, wie wir sahen, selbst der Pflanze noch zukommende Stufe des seelischen Lebens, den »Gefühlsdrang«, gegen unser nach allen Richtungen ausgreifendes, immer, auch im Schlafe und in den letzten Stufen der Bewußtlosigkeit noch tätiges Triebzentrum. In der streng geregelten Ordnung seiner Bestandteile (Farbe, Gestalt, Ausdehnung etc.), in der sich, sowohl objektiv wie bei seiner Wahrnehmung für uns, irgendein körperliches Ding aufbaut – eine Ordnung, die wir z. B. beim pathologischen Abbau der Wahrnehmungsfähigkeit studieren können –, ist keines ursprünglicher als die Realität resp. das erlebte Realitätsmoment. Lasset für ein Bewußtsein alle Farben und sinnlichen Materien verbleichen, alle Gestalten und Beziehungen zergehen, alle dinglichen Einheitsformen verschweben – das, was schließlich gleichsam nackt und vor jeder Art der Beschaffenheit frei und ledig noch bleiben wird, das ist der machtvolle Eindruck der Realität, der Wirklichkeitseindruck der Welt.
Das ursprüngliche Wirklichkeitserlebnis als Erlebnis des Widerstandes der Welt geht also allem Be-wußtsein, geht aller Vor-stellung, aller Wahr-nehmung vorher. Auch die aufdringlichste sinnliche Wahrnehmung ist niemals bloß bedingt durch den Reiz und den normalen Vorgang im Nervensystem: eine triebhafte Zuwendung, sei es Verlangen oder Abscheu, muß vorhanden sein, wenn es auch nur zur einfachsten Empfindung kommen soll. Da also ein Impuls des Lebensdranges unumgängliche Mitbedingung ist für alle möglichen Empfindungen und Wahrnehmungen, können die Widerstände, welche die den Körperbildern der Umwelt zugrundeliegenden Kraftzentren und -Felder – die »Sinnesbilder« selbst sind ja gänzlich unwirksam – auf unseren Lebensdrang ausüben, bereits an einer Stelle des zeitlichen Prozesses einer werdenden möglichen Wahrnehmung erlebt werden, wo es zu einer bewußten »Bild«wahrnehmung noch nicht gekommen ist. Das Realitätserlebnis ist also all unserer »Vorstellung« der Welt nicht nach-, sondern vorgegeben.
Was aber heißt dann dieses »Nein«, von dem ich sprach? Was heißt es, die Welt »entwirklichen« oder die Welt »ideieren«? Es heißt nicht, wie Husserl meint, das (schon in jeder natürlichen Wahrnehmung liegende) Existenz urteil zurückhalten, das Urteil: »A ist real« fordert ja in seinem Prädikat selbst eine Erlebnis füllung, wenn »real« nicht ein leeres Wort sein soll. Es heißt vielmehr, das Realitätsmoment selbst versuchsweise (für uns) aufheben, jenen ganzen, ungeteilten machtvollen Realitätseindruck mit seinem affektiven Korrelat annihilieren – heißt, jene Angst des Irdischen« beseitigen, die, wie Schiller sagt, »dahin« nur ist »in jenen Regionen, wo die reinen Formen wohnen«. Denn alle Wirklichkeit, schon weil sie Wirklichkeit ist, und ganz gleichgültig, was sie ist, ist für jedes lebendige Wesen zunächst ein hemmender, beengender Druck und die »reine« Angst (ohne jedes Objekt) ihr Korrellat. Dieser im Grunde asketische Akt der Entwirklichung kann, wenn Dasein »Widerstand« ist, nur in der Aufhebung, in der Außerkraftsetzung eben jenes Lebensdranges bestehen, im Verhältnis zu dem die Welt vor allem als Widerstand erscheint, und der zugleich die Bedingung ist aller sinnlichen Wahrnehmung des zufälligen Jetzt-Hier-So. Darum, weil Triebe und Sinne zusammengehören, meint Platon, es sei Philosophieren ein »ewiges Ersterben« – und darum ist jeder ausgeprägte Rationalismus letzten Endes auf das »asketische Ideal« gegründet.
Diesen Akt der Entwirklichung aber kann nur eben jenes Sein vollziehen, das wir »Geist« nennen. Nur der Geist in seiner Form als reiner »Wille« kann durch einen Willensakt – und das heißt Hemmungsakt – die Inaktualisierung jenes Gefühlsdrangzentrums bewirken, das wir als den Zugang zum Wirklichsein des Wirklichen erkannten.
Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch – die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, d. h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versagend – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer »Ja« zum Wirklichsein sagt – auch da noch, wo es verabscheut und flieht –, ist der Mensch der » Neinsagenkönner«, der » Asket des Lebens«, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit. Das ist ganz unabhängig von Weltanschauungs- und Wertfragen, ob man (etwa im Sinne Buddhas, der auf alle Fälle diese Frage wie kaum ein anderer tief beantwortet hat) diesen Aufschwung des Geistes zur unwirklichen Sphäre der Essenzen als Endgültigkeitsziel sucht, weil man Realität selbst schon als Übel wertet (»omne ens est malum«), oder ob man aus der Sphäre der Essenzen – wie ich es für recht halte – immer wieder zurück zur Wirklichkeit und ihrem Jetzt-Hier-So-sein zu kehren sucht, um sie besser zu machen (Dasein zunächst indifferent nehmend gegenüber gut und schlecht), und in dieser ewigen Rhythmik zwischen Idee-Realität, Geist-Drang – in dem Ausg1eich ihrer immerwährenden Spannung – das wahre Leben und die wahre Bestimmung des Menschen sieht.
Auf alle Fälle ist der Mensch im Verhältnis zum Tiere, dessen Dasein das verkörperte Philisterium ist, der ewige »Faust«, die bestia cupidissima rerum novarum, nie sich beruhigend mit der ihn umringenden Wirklichkeit, immer begierig, die Schranken seines Jetzt-Hier-Soseins zu durchbrechen, immer strebend, die Wirklichkeit, die ihn umgibt, zu transzendieren – darunter auch seine eigene jeweilige Selbstwirklichkeit. In diesem Sinne sieht auch Sigmund Freud im Menschen den »Triebverdränger« Vgl. S. Freud »Jenseits des Lustprinzips«.. Und nur weil er das ist, durch dieses nicht gelegentliche, sondern konstitutionelle »Nein« zum Triebe, kann der Mensch seine Wahrnehmungswelt durch ein ideelles Gedankenreich überbauen, und eben hierdurch seinem ihm einwohnenden Geiste die in den verdrängten Trieben schlummernde Energie steigend zuführen. D. h. der Mensch kann seine Triebenergie zu geistiger Tätigkeit » sublimieren«.