Wilhelm Scharrelmann
Hinnerk der Hahn
Wilhelm Scharrelmann

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Am andern Morgen fühlte er sich über Land getragen, auf einer rauchigen Lehmdiele bei den Flügeln aus dem Korb gehoben und sah sich ein paar Augenblicke später auf einen Wiemen gesteckt, auf dem neben ihm ein gutes Dutzend Hühner saß und darauf wartete, hinaus und ins Freie gelassen zu werden, eines immer noch schöner als das andere.

Verdutzt und sprachlos stand Hinnerk eine Weile da, ohne sich zu bewegen. Ja, war es denn zu glauben? Die Welt war doch ein wunderliches Ding, und wenn man im tiefsten Elend saß, brauchte man nur den andern Morgen abzuwarten, um ohne Mühe in hellstem Glück zu stehen . . .

»Kikeriki!« schrie er, in plötzlich hervorbrechender Freude und entzückt von der anmutigen und zahlreichen Gesellschaft, in die er sich plötzlich versetzt sah. »Ergebenster Diener, meine Damen! Ich bin Hinnerk, Weltfahrer, Zirkuskünstler, Wieselbesieger und Schlangentöter. Aber haben Sie keine Angst, ich weiß, wie Damen zu behandeln sind . . .«

»So eine Unverschämtheit!« erklang da aus der Ecke die Stimme eines anderen Hahnes, den Hinnerk in dem Halbdunkel des Stalles noch gar nicht gesehen hatte. »Wagen Sie es nicht, meine Hennen zu belästigen!«

Drohend kam der Halskragen seines Gegners, der sich durch die Schar der Hühner herzugedrängt hatte, in die Höhe und ein Paar Augen funkelten ihn an, daß Hinnerk einen Schritt zurücktrat.

»Was soll das heißen?« rief er verächtlich und senkte gleichfalls den Kopf zum Angriff.

»Machen Sie, daß Sie aus meinem Stall kommen!« schrie der rotbrüstige Hahn, der bisher Alleinherrscher auf dem Hofe gewesen war. »Wer sind Sie überhaupt und wie kommen Sie hierher?«

»Was geht Sie das an?« antwortete Hinnerk. »Sie sind ein Gelbschnabel in meinen Augen, verstehen Sie mich?«

»Was sagten Sie? Ich – ein Gelbschnabel? Das wollen wir sehen, mein Herr! Ein Gelbschnabel! Sagten Sie nicht so? Das werden Sie büßen!«

Mutig stürzte er sich auf Hinnerk und fuhr ihm mit den Sporen ins Gesicht, als habe sich der gute Junge lange nicht gekämmt und er müsse es nun energisch bei ihm nachholen.

Aber Hinnerk kannte solche Späße, zog gewandt und zur rechten Zeit den Kopf zurück, stieß im nächsten Augenblick selber mit dem Schnabel zu und hackte seinem Gegner in den Kamm, daß ihm das Blut in die Kopffedern tropfte.

Aber das war nur der Anfang!

Erschreckt drängten sich die Hühner in die hinterste Ecke des Stalles zusammen, um den beiden Kampfhähnen Platz zu machen und nicht unversehens einen Stoß mit abzubekommen.

Das gab einen Kampf – die Federn flogen nur so! Hinnerk war stärker und schwerer, aber sein Gegner gewandter und schneller. Auch kannte er den Kampfplatz besser. Hinnerk stieß sich bei dem dämmerigen Licht hier an einer Stange, dort an die Latten, die den Stall von der Diele abschlossen. Aber allmählich gewann er doch die Oberhand und hätte seinen Gegner getötet, wenn nicht der Bauer gekommen wäre und die streitsüchtigen Hähne auf die Diele herabgeworfen hätte.

Aber auch da gab es noch keinen Frieden.

»Machen Sie jetzt endlich, daß Sie davon kommen?« schrie der Rotbrüstige mit blutunterlaufenen Augen. »Was? Hier mir nichts dir nichts in meinen Stall einzudringen und meinen Hennen schönzutun?«

Ritsch – ratsch! Kritz – kratz! Hick – hack!

Nein, es gab noch lange keinen Frieden zwischen den beiden. Zuletzt kam die Bäuerin und trieb sie mit dem Reisigbesen auseinander.

»Takelzeug!« schrie sie auf plattdeutsch. »Kaum im Hause und schon nichts als Streit und Elend. Vertragt euch!«

Kaum, daß sie den Rücken wandte, stürzten die beiden von neuem aufeinander los, jeder entschlossen, nicht eher zu weichen, bis der andere am Platze liege. So blieb denn nichts anderes übrig, als zuletzt einen der beiden unter einen Kückenkorb zu sperren.

Niemand war stolzer als Hinnerk, nun er seinen Gegner unter den Korb gesteckt sah. Er krähte so laut, durchdringend und anhaltend, daß es weit über die nächsten Höfe in Bergedorf hinschallte.

Denn in Bergedorf war er gelandet, ein Dorf, keine halbe Stunde von Worpswede, seiner Heimat, entfernt!

Aber noch ahnte er nicht, wie nahe er dem Hofe der guten Anntje Kiekut gekommen war. Selbstbewußt spreizte er seine Flügelfedern und schrammte zu den Hennen hinüber, ihnen seinen Antrittsbesuch zu machen, der nun so gnädig aufgenommen wurde, wie er es erwarten durfte.

Ha! Er, der als Bremer Stadtmusikant durch halb Europa gereist war, mit Tieren aller Art Wand an Wand gewohnt und vor den Augen von tausend und abermals tausend Zuschauern durch die Manege stolzierte, der Liebling Mister Dicks, sollte vor einem Gelbschnabel, wie dem da drüben unter dem Korbe, sich davonweisen und in seinen natürlichen Rechten beschränken lassen?

Zärtlich lockend stolzierte er mit seinen Hennen in den Obstgarten hinaus, in dem die Bienen schwärmten, die Apfelbäume in voller Blüte standen und das Gras süß und saftig aus der braunen Moorerde emporwuchs. Und hinter dem Garten lagen Roggenfelder in ihrem ersten Grün – ein so heimatlicher und vertrauter Anblick für Hinnerk, daß er vor Freude auf den Zaun flog, um hinüberzuwechseln und einen Morgenspaziergang zu unternehmen. Willig folgten ihm die Hennen dabei auf dem Fuße, wenn sie es auch vorzogen, unter dem Zaun hindurchzuschlüpfen.

Aber kaum im Freien, gab es bereits neue Händel.

Eine Elster hatte einen Knochen gefunden, der zu schwer war, als daß sie ihn hätte forttragen können, und begann wütend zu scheckern, als sich ihr die Hühner zu nähern begannen, spreizte die Flügel und sperrte angriffslustig und zornig den Schnabel auf.

Erschreckt wichen ihr denn auch die Hennen aus, aber das war nur ein Signal für Hinnerk.

»Wollen Sie machen, daß Sie auf Ihren Baum kommen?« schrie er und drang auf die Elster ein. »Hier auf dem Erdboden haben wir das Regier, und wenn Sie Ihren Knochen nicht mitnehmen können, so überlassen Sie ihn gefälligst uns!«

Verdutzt gab die Elster den Knochen preis, hüpfte ein paar Schritte davon und strich dann schimpfend und mit hängendem Schwanz ab.

»Alter Spitzbub!« schrie sie wütend und bäumte auf der nächsten Föhre auf.

»Wie?« entrüstete Hinnerk sich. »Kommt hierher auf unser Feld, eignet sich ohne zu fragen einen Knochen an und schilt dann andere Leute Spitzbuben?«

Aber der Ärger war bald vergessen, und der Freudentag, der für Hinnerk angebrochen war, wäre unter der herrlichen Frühlingssonne, einem leisen Wind und schimmernd weißen, segelnden Wolken, die wie Freudenfahnen am Himmel hingen, ungestört zu Ende gegangen, wären nicht drüben im Hause schon alle Hände beschäftigt gewesen, für die Kindtaufe zu rüsten, die am nächsten Sonntage gefeiert werden sollte.

Für die Bäuerin war es dabei klar, daß einer der beiden Hähne, nun sie so unerwartet durch Hinnerk Zuwachs erhalten hatte, zu diesem Tage in den Topf mußte und der Bauer eine Suppe haben sollte, so gut sie ein Hahn nur geben kann. Sie überlegte hin und her, welchen der Hähne sie dazu schlachten wollte. Hinnerk gefiel ihr besser – aber schließlich war es doch wohl gescheiter, den fremden abzutun. Man konnte nie wissen, wem das Tier gehörte, und sicher war sicher.

So zog sich für Hinnerk, der sich so wohlgeborgen glaubte, bereits wieder ein neues Gewitter zusammen, lebensgefährlicher als alle andern, die er bisher überstanden hatte. Aber wie gesagt, er war nun einmal ein Glücksvogel und jedesmal, wenn es ihm am brenzligsten zu gehen schien, kam eine unerwartete Wendung, die alles Finstere und Drohende lächelnd in sein Gegenteil verkehrte.

So ging es auch diesmal wieder, denn als er abends mit seinen Hühnern auf die Hausdiele zurückkehrte, um nach dem Abendfutter für die Nacht wieder auf den Wiemen zu steigen, stand eine Frau neben der Bäuerin auf der Diele, die, als ihr Auge zufällig auf Hinnerk fiel, vor Staunen beide Hände über dem Kopfe zusammenschlug.

»Hinnerk!« rief sie. Ja, war er es oder war er es nicht?

Aber dann sah sie, daß er es war! Seine Größe und die Farbe seines Gefieders nicht nur – der fehlende Bartlappen, den er seinerzeit in seinem Kampfe gegen das Wiesel eingebüßt hatte, waren ein so sicheres Erkennungszeichen, daß Anntje Kiekut nicht zweifelte, niemand anders als ihren vielgeliebten Hahn vor sich zu haben, den sie vor Jahren ihrem Vetter für das Preiskegeln in seiner Gastwirtschaft verkauft hatte. Ihr Erstaunen, Hinnerk, von dem sie sich ungern genug getrennt hatte, so unvermutet hier in Bergedorf wieder zu begegnen, kannte keine Grenzen. Was doch der Zufall nicht alles zuwege brachte! War sie doch nur heute von Worpswede herübergekommen, um der Bäuerin, die ein Geschwisterkind von ihr war, bei den Vorbereitungen zur Kindtaufe ein wenig an die Hand zu gehen.

Als sie nun zu ihrem noch größeren Erstaunen hörte, daß der Bauer den Hahn in den Wümmewiesen hinter der Stadt aufgegriffen habe, gab es für sie keinen Zweifel mehr, – war doch ihr Hinnerk seinerzeit nach Bremen verspielt worden! Da war er nun wohl auf irgendeine Weise frei gekommen und hatte sich sogleich auf den Weg zu ihr gemacht?

»Nee, so wat!« rief sie aus und mußte sich auf den Stuhl am Herd niedersetzen, um nicht völlig aus der Fassung zu kommen.

»Hinnerk! Ole Rumdriver!« sagte sie zärtlich und lockte ihn zu sich. Und als Hinnerk in wahrem Zirkusgang und ohne Scheu auf sie zukam und ihr ein paar Haferkörner aus der Hand fraß, kannte ihre Freude keine Grenzen.

Hatte jemand schon einmal eine solche Anhänglichkeit und Treue gesehen?

Natürlich wurde es nichts mehr mit der Hühnersuppe, und Anntje bekam ihren Hinnerk wieder, wenn sie von Rechts wegen auch kein Eigentumsrecht an ihm hatte. Selig und verklärt trug sie ihn am Abend nach der Kindtaufe in einem Deckelkorbe wieder nach Hause.

Hinnerk traute seinen Augen nicht, als er am andern Morgen auf seinem heimatlichen Wiemen erwachte. Von den Hühnern waren freilich die meisten schon hinüber. Aber Gret' war noch da, die alte Bruthenne, und Trin' auch, die fast noch ein Kücken gewesen war, als Hinnerk Haus und Hof verlassen hatte. Auch das Morgenfutter hatte sich nicht verändert: Weizenkleie und gestampfte Kartoffeln in dem hölzernen Trog drüben beim Schweinekoben. Hurra! – Ja, die Welt war schön, und es war eine unvergleichliche Wonne, wieder zu Hause zu sein! Selbst der Storch stand wieder wie früher in seinem Neste auf dem Nachbarhause und guckte mit schiefen Augen auf Hinnerk herab.

»Na?« sagte er herablassend. »Sie sind ja recht lange unterwegs gewesen, wie mir scheint?«

»Allerdings«, antwortete Hinnerk. »Wenn ich nur nach Ägypten gewollt hätte, wäre ich längst zurück gewesen. Aber ich habe halb Europa bereist, sehen Sie. Das ist etwas anderes.«

Stolz schrammte er davon, um Gret' zu beglückwünschen, die heute einmal ausnahmsweise schon in aller Frühe ein Ei gelegt hatte und eben vom Neste kam.

Anntje Kiekut aber erzählte jedem, der es hören wollte, von ihrem Hinnerk, seiner beispiellosen Treue, Anhänglichkeit und Klugheit. Niemals gab es einen Hahn wieder wie ihn, und es war selbstverständlich, daß er das Gnadenbrot bei ihr bekommen sollte, wenn er als Haushahn einmal gar zu alt geworden war.

Wirklich, er war wert, ein Denkmal zu erhalten. Vielleicht, daß man sich bereitfinden ließ, ein Standbild Hinnerks als Wetterfahne auf den Turm der Worpsweder Kirche setzen zu lassen? Über dem dicken, kupfernen Knauf würde sich niemand so gut ausnehmen wie er. Noch jahrhundertelang konnte er sich dann da oben mit dem Winde drehen und über das weite Moor und die Hammewiesen hinblicken . . . Vielleicht, wenn sie eine Stiftung dazu machte?

Ja, das war ein guter Gedanke! Hoch gesessen hatte er ja immer gern, und ein Herumtreiber war er in Anntje Kiekuts Augen auch Zeit seines Lebens gewesen. Da paßte es gut, wenn ihn noch nach seinem Tode der Wind da oben herumtrieb . . .

Hätte die gute Anntje gar gewußt, was Hinnerk in Wahrheit alles erlebt hatte, als er auf Reisen gewesen war, sie wäre wahrscheinlich mit einem Standbild für ihn auf dem Kirchturm noch nicht einmal zufrieden gewesen . . . Darum war es gut, wenn sie meinte, er wäre nur von Bremen nach Worpswede gelaufen – – er, der halb Europa bereiste! . . .

 

Ende

 


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