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Nahe bei Worpswede, am Rande der Heide, wohnte vor vielen Jahren eine Häuslingsfrau, die so neugierig war, daß sie nichts lieber tat, als hinter den Gardinen ihrer Stube am Fenster zu sitzen und auf die Dorfstraße hinauszusehen, ob sie nicht jemand gewahr würde, dem sie nachgucken konnte, sodaß die Leute sie Anntje Kiekut nannten.

Anntje hatte einen Hahn, der unter allen Krähern im Dorfe die lauteste Stimme hatte, und da es ein alter Spruch ist: Wie der Herr, so's Gescherr!, war es nicht weiter verwunderlich, daß er ebenso neugierig war wie Anntje, denn wenn die Frau aus dem Fenster sah, reckte sich der Hahn auf die Zehenspitzen, machte einen langen Hals und hielt den Kopf ebenso schief wie Anntje Kiekut hinter ihrem Fenster.

Der Hahn hieß Hinnerk.

Je älter er wurde, desto unzufriedener wurde er. »Wie«, sagte er zu sich selbst, »habe ich nicht ein paar Sporen, so spitz wie Dolche, einen Mantelkragen wie ein Ritter, einen Schweif wie eine Fahne und eine Krone auf dem Kopfe? Jeder, der mich sieht, muß erkennen, wen er vor sich hat. Soll ich vielleicht mein Lebtag hier auf Anntjes Hof bleiben und Buchweizen fressen? Morgen am Tage mache ich mich auf und gehe in die Welt hinaus!«

Als Anntje darum am andern Morgen die Tür zum Wiemen öffnete und er auf die rauchige, alte Lehmdiele hinabflog und auf den Hof hinauskam, fackelte er nicht lange, sondern schwang sich auf das Dach des Schweinekobens, um sich umzuschauen und zu überlegen, welche Richtung er einschlagen sollte.

Herrlich, wie hoch er da oben stand! Vor ihm lag die weite Heide, zu seiner Linken das Moor und hinter ihm Anntje Kiekuts Apfelhof. Wie groß doch die Welt war!

»Gibt es da oben etwas zu fressen?« fragte eine Henne und schaute zu ihm hinauf.

»Nein, ich denke nicht an Fressen. Ich will in die Welt hinaus! Wenn du nicht so kurze Beine hättest, könntest du mich begleiten«, antwortete der Hahn. Da aber Anntje gerade ein paar Kartoffeln, die von ihrem Abendbrot übriggeblieben waren, auf den Hof warf, war die Henne schon davongelaufen.

»Meinetwegen«, sagte der Hahn verächtlich. »Ein Huhn ist immer nur ein Huhn. Da ist so einer wie ich doch ein andrer Kerl!«

Damit gab er sich einen Schwung und flog über den Zaun auf die Wiese hinaus, daß es nur so klatschte, und begann davonzumarschieren.

Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne stand am Himmel wie ein blanker Zinnteller auf Anntje Kiekuts Tellerrack, und die Wolken schimmerten, als wollten sie den Glanz der Sonne beschämen.

Als er bei den Bienenkörben unter dem Zaun durchschlüpfte und auf die Dorfstraße kam, begegnete Anntje ihm, die bei der Nachbarin gewesen war und sich einen Topf voll Milch geholt hatte, denn ihre Ziege wollte keine mehr geben. »Wullt du na Hus, ole Rumdriver!« schalt sie und warf mit einem Stein nach ihm. Aber Hinnerk flog über den Graben am Wegrand, drückte sich in die Brennesseln, die dort wucherten, und weg war er.

»Kumm du mi man wedder!« rief Anntje Kiekut verärgert und ging nach Hause.

»Alte Moorhexe!« schalt der Hahn, dem der Schreck über den Stein noch in den Gliedern saß. »Aber sie hat noch nie gewußt, was sich gehört.«

Als er über den nächsten Bauernhof kam, hätte er beinahe Händel gekriegt. Der Hahn dort wollte ihn nicht vorüberlassen. Aber er war noch jung und ohne Erfahrung, und Hinnerk gab ihm mit seinen Flügeln ein paar Schläge hinter die Ohren, daß ihm Hören und Sehen verging – und dann war er schon über das Gatter geflogen, das den Hof einzäunte, und stand im Moor.

Das war eine andre Welt, mußte man sagen. Ein Birkenweg lief still und morgenschön in die Felder hinaus, der Buchweizen blühte, als hätte es über Nacht auf ihn geschneit, und die Lerchen sangen, als kämen sie geradewegs aus dem Himmel und wären nicht aus ihren Nestern da unten im Felde in den blauen Morgenhimmel hinaufgestiegen.

»Nein, hier auf dem Weg erlebt man nichts«, sagte der Hahn und begann querfeldein zu marschieren.

Da begegnete ihm ein Rebhuhn, das seine Jungen führte. Hallo, wie die Jungen laufen konnten, daß sie sich vor ihm versteckten.

»Kommen Sie mir bitte nicht zu nahe!« sagte das Rebhuhn und machte böse Augen. »Wer sind Sie überhaupt und wie kommen Sie hierher?«

»Passen Sie auf Ihre Kinder auf, wenn's gefällig ist!« antwortete der Hahn. »Kümmern Sie sich jedenfalls nicht um Dinge, die Sie nichts angehen.«

»Hierher, Philipp!« rief das Rebhuhn dem kleinsten seiner Jungen zu, das sich in seiner Angst verlaufen hatte und kläglich piepte. »Es ist eine Unverschämtheit von Ihnen, meine Kinder so zu erschrecken. Machen Sie, daß Sie weiterkommen! Wohin wollen Sie überhaupt?«

»In die Welt hinaus«, sagte der Hahn. »Aber das sind meine Sachen.«

»Viel Glück auf die Reise.«

»Danke. Es wird mir nicht daran fehlen. Übrigens niedliche Kinder, die Sie haben, und schon so behende.«

»Nicht wahr?« sagte das Rebhuhn und ward ein wenig umgänglicher.

»Wieviel sind es?« fragte der Hahn.

»Es waren neun«, antwortete das Rebhuhn. »Aber eins hat das Wiesel geholt und eins ist drüben in der häßlichen alten Moorkuhle ertrunken.«

»Pfui Teufel«, sagte der Hahn. »Übrigens das Wiesel, sagten Sie? Was ist das für ein Kerl? Wenn ich gerade bei seinem Hause vorbeikomme, rufe ich es heraus und gebe ihm nachträglich einen Klaps hinter die Ohren.«

»Das lassen Sie lieber bleiben. Es versteht keinen Spaß, kann ich Ihnen sagen.«

»Sehe ich vielleicht aus, als ob ich mich fürchtete?« rief der Hahn und sträubte seine Halsfedern.

»Nein, sicher nicht«, sagte das Rebhuhn und blickte ängstlich in Hinnerks rotes Gesicht. »Immerhin, Sie sollten sehen, einen Gefährten zu bekommen, wenn Sie weiter ins Moor hinein wollen. Ihre Hennen haben Sie wohl zu Hause gelassen?«

»Selbstverständlich!« sagte der Hahn. »Auch mit Ihnen habe ich mich schon zu lange aufgehalten. Guten Morgen!« Damit ging er.

Als er das Feld hinter sich hatte und in die Heide hinauskam, saß die Heidelerche da auf einer kleinen Föhre und sang, als könnte sie es den Wiesenlerchen gleichtun.

»Was bist du denn für eine?« fragte der Hahn. »Du siehst ja verboten aus.«

»Wieso?« fragte die Heidelerche gekränkt. »Ich habe mich erst gestern gebadet und bin so sauber wie nur eine. Aber so geht es ordentlichen Leuten. Rein und schlicht hat kein Gewicht.« Damit hob sie die Flügel und schwang sich auf den nächsten Torfhaufen.

»Nichts für ungut«, rief der Hahn zu ihr hinauf. »Ich meinte wirklich, Sie wären ein Sperling, und dies Volk kann ich nun einmal nicht ausstehen.«

»Dann machen Sie doch Ihre Augen auf, ja?« antwortete die Heidelerche. »Sie hätten schon an meiner Stimme merken können, wen Sie vor sich haben.«

»Wie ist denn Ihr Name?« fragte der Hahn.

»Heidi«, antwortete die kleine Graue. »Ich bin aus der Familie der Lerchen, wenn Sie es durchaus wissen wollen.«

»Sehr viel Ehre«, antwortete der Hahn und machte einen Kratzfuß. »Mein Name ist Hinnerk.«

»Hinnerk, so. Na ja.«

»Was wollen Sie damit sagen, bitte?«

»Hinnerk ist ausgezeichnet«, lachte die Heidelerche. »Da hat wohl ein Torfbauer bei Ihnen Pate gestanden?«

»Hören Sie mal«, entrüstete sich der Hahn, »statt mir Grobheiten zu sagen, sollten Sie mir lieber verraten, wo das Wiesel wohnt, – falls Ihre Kenntnisse so weit reichen.«

»Das Wiesel?« fragte die Heidelerche erstaunt. »Sie haben doch nicht vor, ihm einen Besuch zu machen?«

»Nichts andres«, sagte der Hahn.

»Sie sind entschieden ein Goliath dem Wiesel gegenüber«, meinte die Heidelerche. »Trotzdem sollten Sie Ihre Absicht lieber aufgeben. Es ist nicht gut Kirschenessen mit ihm, kann ich Ihnen sagen.«

»Ich habe durchaus nicht vor, mich freundschaftlich mit ihm zu unterhalten«, antwortete der Hahn. »Wie sieht es aus, wenn ich fragen darf? Trägt es einen Federkragen wie ich? Hat es ein paar Sporen und eine Krone auf dem Kopf?«

»Nein«, sagte die Heidelerche. »Es geht nur in einem Pelzrock. Aber alle Tiere fürchten es.«

»Wissen Sie seine Wohnung?« fragte der Hahn und schlug mit den Flügeln.

»Bedaure, nein. Einige behaupten, daß es dort unter dem Torfhaufen wohnt, andre sagen, daß es drüben unter einem der alten Weidenstümpfe haust. Meistens kommt es nur des Nachts aus seinem Haus. Aber vielleicht begegnen Sie ihm, wenn Sie weitergehen. Vergessen Sie jedenfalls nicht, vorher Ihr Testament zu machen«, sagte die Heidelerche und damit flog sie davon.

»Das muß ja ein unheimlicher Geselle sein«, sagte der Hahn nachdenklich.

»Ach was, dem Mutigen gehört die Welt«, dachte er, flog über den nächsten Graben und ging weiter. Ja, nun war er mitten im Moor. Brauner Backtorf stand in Ringeln und Haufen und trocknete an der Sonne. Auf den alten Moorkuhlen schwammen kleine Inseln von Entenflott auf dunklem Wasser, und die Bienen summten in der Glockenheide, daß es eine Lust war, es anzuhören.

»Guten Morgen!« rief der Hahn. Er meinte den Storch, der auf langen Beinen an einem Graben entlang ging. Aber der achtete nicht auf den Gruß, blickte nur tiefsinnig vor sich hin und tat, als hätte er Hinnerk überhaupt nicht gesehen.

»Ein wenig umgänglicher könnten Sie schon sein. Sind Sie nicht auf Imelmanns Dach zu Hause? Da sind wir doch Nachbarn sozusagen. Mein Name ist Hinnerk, wenn Sie ihn vergessen haben sollten.«

»So«, antwortete der Storch und ging weiter.

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leiste?« fragte der Hahn. »Sie sind ein weitgereister Mann und könnten mir gewiß einige gute Ratschläge geben. Ich bin nämlich auf dem Weg in die Welt hinaus.«

»Wollen Sie etwa nach Afrika?« fragte der Storch und blickte sich nach ihm um.

»Nach Afrika?« antwortete der Hahn verwundert. »Was ist das für ein Dorf? Ist es sehr weit bis dahin?«

»Einigermaßen«, antwortete der Storch.

»So, so … Oh, es ist durchaus möglich, daß ich es berühre und werde nicht davor umkehren, wenn ich hinkomme. Haben Sie vielleicht Grüße dort auszurichten? Es würde mir ein Vergnügen sein.«

»Dann grüßen Sie die ägyptischen Pyramiden bitte«, sagte der Storch, hob sich vom Boden und flog davon.

»Ich werde nicht verfehlen«, stotterte der Hahn. Aber der Storch hörte ihn schon nicht mehr.

»Nein, wie aufgeblasen er ist«, ärgerte sich Hinnerk. »Aber ich hätte klüger sein sollen. Weiß ich nicht, wie hochnasig er schon immer von seinem Dach auf uns herabsah? Und für so einen soll man noch Grüße ausrichten? Ich danke. Am Ende ist er in Afrika wegen seines Stolzes ebenso verrufen und ich hätte des Teufels Dank und Lohn davon.«

Langsam stieg die Sonne höher, und es mußte bald Mittag sein. Gern hätte er ein wenig gerastet und seine Mittagsmahlzeit gehalten. Aber die Unruhe trieb ihn weiter, und für einen Mittagsschlaf war er nie gewesen. Wie er aber noch eine gute Stunde durch die Heide marschiert war und nun doch ein wenig Rast machte, um sich auszuruhen, raschelte etwas im Kraut vor ihm und Hinnerk hob argwöhnisch den Kopf.

»Wer da?« rief er und mit so scharfer Stimme, als er es vermochte.

»Spel di man nich up!« antwortete der Igel. Denn er war es. An anderm Ort wäre Hinnerk hochmütig an ihm vorbeigestrichen. Aber hier in der Einsamkeit freute es ihn beinahe, ein wenig Gesellschaft zu bekommen und ein Wort wechseln zu können.

»Na?« sagte der Igel und steckte seine spitze Schnauze aus dem Heidekraut. »Süh an, Sie sind wohl heute morgen 'n bitschen aus dem Geleise gelaufen, was? Ja, das ist hier 'n dwatsche Gegend. Passen Sie nur auf, daß Sie nicht unversehens in eine Moorkuhle patschen. Wenn man gewohnt ist, sich immer nur im Sand zu baden, kann man sich leicht dabei verkühlen … Hehehe!«

Die Wahrheit zu sagen: Hinnerk hatte den Igel noch nie leiden mögen, und jetzt ärgerte er sich von neuem über ihn.

»Was ist das?« fuhr der Igel fort und kam näher an Hinnerk heran. »Ganz allein? Das ist mich ja ein seltener Fall … Ich meine, wo Sie doch sonst nie ohne einen ganzen Schwanz von Hennen spazieren gehen! Hehehe!«

Der Igel lachte, als würde er geschüttelt, und wenn Hinnerk meinte, er hätte sich beruhigt, fing er von neuem an.

»Der Kerl ist ja zum Nervöswerden!« dachte der Hahn und trippelte ärgerlich hin und her. »Jedes Wort, das er sagt, hat eine Spitze. Aber so ist er immer gewesen, stachlig innen und außen – der alte Ruppsack! Jedenfalls ist es Zeit, daß ich ihn daran erinnere, wen er vor sich hat!«

»Nu man nich die Nase so hoch«, sagte der Igel vergnügt. »Das mag ich gar nicht leiden. Hochmut kommt vor dem Fall, das ist eine alte Geschichte.«

»Aber erlauben Sie mal«, sagte der Hahn und hob den Kopf noch ein wenig höher als vorher.

»Halt mal eben die Luft an«, unterbrach ihn der Igel und hielt die Nase in den Wind. »Das riecht hier ja mit einem Male ganz verdeubelt … nach – ja wonach? Jedenfalls nach nichts Gutem … Nein, so stinkt bloß das Wiesel, wenn ich heute morgen mit der richtigen Nase aufgestanden bin.«

»Das Wiesel?« rief der Hahn. »Ha! das käme mir gerade recht. Seinetwegen bin ich ja hierhergekommen«, log er. Aber das Herz klopfte ihm doch gewaltig.

»So, dann ist das ja was andres!« sagte der Igel und zog den Kopf ins Heidekraut zurück.

»Nein, bitte bleiben Sie!« stotterte der Hahn. »Ich weiß doch nicht recht – –«

Aber da sah er es schon! Schmal und schlank und behende wie eine Schlange kam das Wiesel unter einem Torfhaufen hervor und hob die blutgierige kleine Schnauze in den Wind, und seine Augen funkelten vor Mordlust, daß dem Hahn ein kalter Schauder über die Haut lief.

»So, Sie sind also das Wiesel!« rief der Hahn verwirrt und kopflos. Dabei sträubte er die Federn und neigte den Kopf zur Erde, wie er es gewohnt war, wenn er sich zu einem Strauß anschickte.

»Warten Sie«, sagte das Wiesel und duckte sich. »Sie sind freilich schon ein wenig alt, mein Herr, und wenn Sie ein Kücken wären, wären Sie mir lieber, aber Blut ist Blut, und wenn ich mich hier so dicht bei Hause daran sattsaufen kann, wüßte ich nicht, was mir willkommener wäre!«

Holla – sprang es zu! Aber der Hahn war ebenso schnell gewesen und hatte ihm einen Schnabelhieb versetzt. Denn vor seinen Sporen hatte sich das Wiesel zu hüten gewußt.

Aber nun ging es Sprung um Sprung, und als der Hahn nach einigen Minuten mit blutunterlaufenen Augen atemlos und mit gesenkten Flügeln dastand – wupp! saß ihm das Wiesel an der Kehle und hatte sich in seinen Bartlappen festgebissen, und soviel sich der Hahn auch schüttelte, er wurde den Angreifer nicht wieder los. Der furchtbare Biß des kleinen Räubers schmerzte ihn so, daß er fast die Besinnung darüber verlor … Er versuchte seinen Gegner mit den Sporen zu treffen, aber das Wiesel hatte sich in seinen Halsfedern festgekrallt und biß nur noch wütender zu.

Da, Hinnerk war bereits am Ermatten, sprang der Igel aus dem Heidekraut hervor und biß das Wiesel in den Rücken, daß es entsetzt von dem Hahn abließ und sich des neuen Gegners zu erwehren versuchte. Aber der Igel hatte spitze Zähne, und sein Biß saß so fest, daß es mit allen seinen Künsten nichts auszurichten vermochte und sich nur an den Stacheln seines Gegners den Pelz wundriß. Knack! ging es … Da hatte ihm der Igel das Genick durchgebissen. Es zuckte noch einmal. Dann war es tot.

»Siehst du, alter Nimrod!« sagte der Igel, leckte sich gleichmütig die Lippen und sah sich nach dem Hahn um, der mit verplustertem Gefieder atemlos im Kraut hockte, so elend und schwindlig war ihm zu Mute.

»Na, Sie alter Kämpe, nun kommen Sie man wieder ans Licht!« sagte der Igel gutmütig. »Hehehe! der tut keiner Maus mehr weh!«

»Wirklich, das war Hilfe in der Not!« sagte der Hahn und stellte sich, noch immer ganz verdattert, wieder auf die Beine. »Das muß ich sagen – alle Achtung! Ich glaube, ohne Sie wäre ich verloren gewesen. Meinen ergebensten Dank!«

»Laß man, Cäsar«, unterbrach ihn der Igel. »Wir wollen nicht weiter darüber reden … Aber nun machen Sie, daß Sie hier aus dem Moor kommen, sonst fallen Sie noch in ein Mauseloch. Guten Morgen! Ich hab's eilig. Passen Sie jedenfalls auf, daß Sie nicht zufällig dem Fuchs begegnen.«

Damit trudelte er los und verschwand im Heidekraut.

Schrecken und Furcht im Herzen, ging Hinnerk weiter. Die Aussicht, zu allem Überfluß auch noch dem Fuchs zu begegnen, war ihm doch heillos in die Glieder gefahren. Sicher war es am besten, er kehrte um. Aber das war nun leichter gesagt als getan … Er war bereits so weit von Anntje Kiekuts Haus, daß er Stunden gebraucht hätte, um zurückzugelangen, und außerdem wußte er weder Weg noch Steg.

Nein, da half nun alles nichts, er mußte weiter, und das klügste war am Ende, sich beizeiten nach einer Schlafgelegenheit umzusehen. Die Nacht auf dem Erdboden zu verbringen wäre der sichere Tod gewesen. Hoffentlich fand er einen Baum, auf dem er schlafen konnte.

Müde vom Weg und von dem Kampf, der hinter ihm lag, kam er zuletzt an einen Graben, und da er sich nicht mehr kräftig genug fühlte, hinüberzufliegen, begann er am Ufer entlang weiterzumarschieren. Da hörte er plötzlich ein leises Schnabbeln und Schnattern und sah – o Freude! – ein paar Enten den Graben herabkommen.

»Ah, meine Lieben«, sagte der Hahn und machte einen Kratzfuß. »Sehr erfreut, Sie zu sehen.«

»Hallo«, rief der Enterich und hob verwundert den Kopf. »Wie sehen Sie nur aus? Haben Sie vielleicht vorgehabt, sich den Bart abnehmen zu lassen?«

»Machen Sie keine Scherze«, sagte der Hahn gekränkt. »Ich habe ein Duell mit dem Wiesel gehabt, und es ist scharf dabei hergegangen, das kann ich Ihnen sagen.«

»Mit dem Wiesel?« verwunderten sich die Enten. »Und Sie sind Sieger geblieben?«

»Durchaus«, nickte der Hahn. »Ich gab ihm einen Hieb mit dem Schnabel, daß es ganz irrsinnig wurde vor Wut. Es dauerte nicht lange, da fiel es um, und tot war es.«

»Hurra!« riefen die Enten. »Ja, es ist ein niederträchtiges Geschöpf. Keins unsrer Kinder, das am Land spazieren geht, ist sicher vor ihm. Aber auf das Wasser getraut es sich nicht, und das ist ein Glück für uns. Wirklich, Sie sind ein Held, das muß man sagen. Haben Sie vielleicht Appetit auf Wasserlinsen? Dann bedienen Sie sich. Es sind genug da.«

»Danke«, antwortete der Hahn. »Wasserlinsen sind mein Geschmack nicht.«

»Schade«, sagten die Enten.

»Aber Sie könnten mir sagen, wo ich hier einen Baum zum Übernachten finde. Ich schlafe gern ein Stockwerk über der Erde.«

»Bedaure«, sagte der Enterich. »Dann müssen Sie sich schon an andrer Stelle erkundigen. Auch wir sind hier fremd in der Gegend.«

Da schwammen sie hin …

Betrübt sah der Hahn ihnen nach. »Wenn nur die kleine Heidi hier wäre aus der Familie der Lerchen«, seufzte er, »die wüßte sicher Bescheid.«

Nach einer Weile gewahrte er zu seiner Freude eine junge Birke im Moor stehen, ging darauf zu und flog auf die untersten Zweige hinauf. »Gut, daß ich endlich zur Ruhe komme. Die Sonne ist bereits im Untergehen«, sagte er.

Da saß er nun in dem einsamen Moor … Der Abendwind kam und wiegte ihn auf seinem Ast langsam in Schlaf.

»Haha! Was wird Anntje Kiekut heute abend für ein Gesicht machen, wenn sie auf den Wiemen guckt, um die Eier aus den Nestern zu nehmen, und merkt, daß ich nicht nach Hause zurückgekehrt bin. Aber das ist die rechte Strafe für sie. So eine Unverschämtheit von ihr heute morgen, mit einem Stein nach mir zu werfen!«

Mitten in der Nacht aber bekam der Ast, auf dem er saß, einen Stoß, daß Hinnerk beinahe herabgefallen wäre.

Erschreckt zog er den Kopf unter den Flügeln hervor und blickte sich um. Nicht weit von ihm entfernt starrten ein paar glühende Augen unheimlich zu ihm herüber.

»Sind Sie es, Mieze?« fragte er und richtete sich auf. Denn er meinte, es wäre Anntjes alte Katze.

»Nein«, sagte die Eule mit heiserer Stimme – denn sie war es – und knappte mit dem Schnabel. »Ich bin es nur, wenn Sie nichts dagegen haben, Trinchen Kattuhl.«

»Sehr erfreut«, stotterte der Hahn und tat, als kennte er sie. »Wirklich sehr erfreut!« In Wahrheit war er ihr aber noch nie begegnet, denn wenn die Zeit der Eulen kam, hatte er immer längst auf dem Wiemen gesessen.

»Was tun Sie hier auf meinem Baum?« fragte die Eule feindselig. »Und wer hat Sie hier einquartiert?«

»Oh, ich habe nicht vorgehabt, jemand zu belästigen«, antwortete der Hahn bestürzt. »Wenn ich gewußt hätte – wirklich, Sie können versichert sein …«

»Machen Sie keine Redensarten«, unterbrach ihn die Eule ärgerlich. »Wenn Sie ein wenig gebildet wären, hätten Sie vorher um Erlaubnis gefragt.«

»Das hätte ich gewiß getan«, antwortete Hinnerk verwirrt. »Aber Sie waren vorhin nicht da!«

»Bitte, ich wohne seit Jahr und Tag drüben in der hohlen alten Weide am Zuggraben. Das ist allgemein bekannt. Knapp. Es sind so wenig Bäume hier in der Gegend, um sich auszuruhen. Es ist ärgerlich, muß ich schon sagen, sehr ärgerlich. Knapp! Knapp!«

»Dann bitte ich um Entschuldigung«, sagte der Hahn.

»Papperlapapp, davon wird niemand satt«, antwortete die Eule, denn sie war schlechter Stimmung. »Jedenfalls ist es die einzige Nacht, die Sie hier verbringen, das bitte ich mir aus, und morgen früh räumen Sie gefälligst die – Wohnung.«

»Ich bin auch nur auf der Durchreise hier«, stotterte der Hahn. »Auch kann es nicht mehr weit bis zum Morgen sein. Ich habe ein Gefühl dafür, denn um diese Zeit pflege ich regelmäßig zu krähen und aufzustehen.«

»Und ich zu Bett zu gehen«, antwortete die Eule. »Sparen Sie sich also Ihre Belehrungen … Wie sitzen Sie überhaupt da? Legen Sie vielleicht ein Ei?«

»Nein«, sagte der Hahn gekränkt. »Das habe ich noch nie getan.«

»Dann beeilen Sie sich, ehe Sie zu alt werden dafür«, sagte die Eule, knappte verächtlich mit dem Schnabel und flog davon.

Ja, die Nacht war schauerlich. Die Birke rauschte im Winde, ein Regen kam und fiel in ihre Krone, daß alle ihre Blätter erbebten … Und nun fing es auch noch an zu blitzen und zu donnern. Wie ruhig hatte er bisher des Nachts auf dem Wiemen in Anntje Kiekuts Haus gesessen. Trübselig ließ er den Schwanz hängen, und der Regen troff von seinen Federn herab.

Endlich lichtete sich der Tag, und ein zarter Schimmer im Osten verkündete die aufsteigende Sonne. Neuer Mut zog in Hinnerks Herz ein, und schmetternd scholl sein Kikeriki über das schweigende Moor, das demütig die Sonne erwartete.

+++

Als es Tag geworden war, flog Hinnerk auf den Erdboden hinab und begann seine Morgenmahlzeit zu halten. Nach dem anstrengenden Tage gestern hungerte ihn nicht wenig. Als er endlich genug mit den Füßen gescharrt, mit dem Schnabel gepickt und sich junge Grasspitzen zu den Würmern und Körnchen gepflückt hatte, die ihm die mütterliche Erde geboten, eilte er an den nächsten Graben, um ein wenig zu trinken.

»Wollen Sie mich vielleicht besuchen?« fragte eine Wasserratte und steckte den Kopf aus ihrem Loch. »Haben Sie vielleicht ein paar Ihrer Kinder in der Nähe? Ich fresse für mein Leben gern junge Kücken, besonders wenn sie erst vor kurzem aus dem Ei geschlüpft sind.«

»Nein, Sie Ungeheuer!« sagte der Hahn erschreckt. »Sie sollten sich schämen.«

»Warum bitte?« fragte die Wasserratte. »Unsereiner will auch leben, und ich sehe nicht ein, warum man mehr Rücksichten nehmen soll, als zum Sattwerden taugt. Schon meine Mutter pflegte zu sagen: Nagt und beißt, wo es nur zu nagen und beißen gibt. Niemand kommt und bringt euch etwas. Wozu habt Ihr eure Zähne? Es ist eine armselige Gegend hier, und nicht immer ganz leicht, durchs Leben zu kommen. Haben Sie vielleicht in der Nähe etwas Eßbares für mich gefunden?«

»Bedaure, nein!« sagte der Hahn, schüttelte vor Abscheu seine Federn und ging davon.

Nach einem anstrengenden Marsch kam er endlich an eine kleine, niedrige Moorhütte. Friedlich und still lag sie da. Das verwitterte alte Strohdach ging fast bis auf die Erde herab, und blauer Torfrauch drang aus der offenen Tür zum Giebel hinauf.

Hinnerk freute sich nicht wenig, sich wieder in der Nähe von Menschen zu wissen, getraute sich aber doch nicht recht, in der Hütte einen Besuch zu machen. Der Graben, an dem er so lange entlangspaziert war, ging dicht beim Hause vorüber, und ein niedriges Wehr ließ das braune Moorwasser mit leisem Gurgeln über sich hinweglaufen. Nichts Lebendiges war drüben zu erblicken.

Als er noch stand und mit schiefem Kopf regungslos hinübersah, hörte er plötzlich jemand sagen: »Kommen Sie nur herüber, junger Mann!«

Es war ein Kater, der, ebenso regungslos wie er, auf der andern Seite des Grabens vor einem Mauseloch gesessen hatte und sich nun erhob und einen krummen Buckel machte. »Wir warten schon lange auf Sie!«

»Wie ist das möglich?« fragte der Hahn verwundert. »Kennen Sie mich vielleicht? Mein Name ist Hinnerk.«

»Ganz recht«, sagte der Kater. »Ich bin in Ihrer Nachbarschaft bei Hemsoths aufgewachsen und wurde in demselben Jahre geboren wie Sie. Ich erinnere mich noch gut, wie Sie das Krähen erlernten. Es war zu der Zeit, als mich die alte Urleburle in ihrem Korbe mit hierher nahm.«

»Urleburle? Wer ist das?« fragte der Hahn. »Ich habe den Namen nie gehört.«

»Da kommt sie«, sagte der Kater. »Haben Sie nur keine Furcht. Sie hat allerdings schon ihre achtzig Jahre auf dem Rücken und ist nicht mehr so schön wie in ihrer Jugend, aber sie hat ein paar Hennen, die einige Jahre jünger sind. Sie werden darum allgemein willkommen sein, mein Herr!«

Auf diese Zusicherung hin zögerte Hinnerk nicht mehr lange. Er flog über den Graben und sah, als er wieder Boden unter den Füßen hatte, die alte Urleburle an einem Krückstock aus ihrem Hause treten.

»Das ist sie«, sagte der Kater, und hob seinen Schwanz in die Höhe. »Sie sieht zwar ein wenig gefährlich aus, besonders wenn sie ihre alte Nachtmütze trägt, aber sie ist nur halb so schlimm, wie sie aussieht. Das beste wird sein, Sie tun, als wenn Sie zu Hause wären.«

Urleburle freute sich nicht wenig über den unerwarteten Besuch, den sie bekam, streute eine Handvoll Gerste vor die Tür und lockte auch ihre Hühner herbei. Es waren zwei, schon ein wenig bei Jahren alle beide, aber groß und ansehnlich. Met und Bet hießen sie. Met trug ein weißes Federkleid mit schwarzen Punkten, das ihr ausgezeichnet stand, und Bet hatte einen weißen Kragen um den Hals und eine Haube auf dem Kopf, auf die sie nicht wenig stolz war.

»Guten Morgen«, sagte der Hahn erfreut und schrammte auf die beiden los, wie er es gewohnt war, seinen Hennen schön zu tun.

»Wen schleppen Sie denn da herbei?« wandte sich Bet mißtrauisch an den Kater.

»Mein Freund Hinnerk!« stellte der Kater vor. »Ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle.«

»Das ist eine gute Empfehlung«, sagte Met. »Aber warum läuft er denn dann nur mit einem Bartlappen umher?«

Hinnerk erschrak nicht wenig. Das böse Wiesel! Sicher hatte er gestern im Kampf mit ihm einen Bartlappen verloren und nicht einmal bemerkt, wie arg er zugerichtet war. Er erzählte den Hennen, welch gefährlichen Kampf er gestern bestanden hatte, und ihre Achtung begann sichtlich zu steigen.

Urleburle aber rieb sich die Hände vor Vergnügen. »Nein«, sagte sie, »wie billig und unverhofft ich da zu einem Hahn gekommen bin.«

»Kommt herein, Kinder«, rief sie, als die Gerste aufgepickt war. »Es ist recht frisch und windig hier draußen. Kommt herein. Beim Herd auf der Diele ist es warm.«

Sie huschelte an ihren Herd, setzte sich in ihren Armstuhl und lockte den Kater auf ihren Schoß. »Gutes Tierchen«, murmelte sie. »Mir einen so schönen Hahn ins Haus zu führen … Ja, ja, du kannst mehr als Mäuse fangen. Nein, bleib sitzen, sonst scheuchst du ihn mir noch wieder zur Tür hinaus.«

»Haben Sie schon den Wiemen gesehen und unsere Nester?« fragten die Hennen. »Falls Sie Neigung haben, die Leiter dort, bitte.«

Ja, das war eine andere Sprache! Hinnerk war so glücklich wie einer, und als die Hennen sich nun nach der Besichtigung in ihre Nester setzten, um ein Ei zu legen, blieb er oben auf der obersten Sprosse der Hühnerleiter sitzen und wartete, bis sie fertig waren.

Urleburle aber stand jetzt auf und schloß eilig die Tür. »Er läuft uns sonst am Ende noch wieder davon!« sagte sie zu dem Kater, der ihr gefolgt war. »Er muß sich erst bei uns eingewöhnen, siehst du. Unterhalte dich nur ein wenig mit ihm, das kürzt die Zeit …«

»Da liegt es! Da liegt es! Kommt und seht! Wer's besser kann, der melde sich!« schrie Bet und erhob sich von ihrem Nest. Sie meinte das Ei, das sie gelegt hatte.

»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!« schrie nun auch der Hahn, stellte sich auf die Zehen und krähte, daß es durch die Hütte schallte.

Da wurde auch Met auf ihrem Nest lebendig. »Nein, nein, nein!« gackerte sie. »Meins ist größer, meins ist größer!«

»Ist nicht wahr, ist nicht wahr!« schrie Bet.

»Ist doch wahr, ist doch wahr!« schrie Met.

»Vertragt euch! Vertragt euch!« kollerte der Hahn und machte beiden einen Kratzfuß, bis sie keine Lust mehr hatten, sich zu streiten, und sich friedlich zu beiden Seiten des Hahns auf die Leiter setzten.

»Putz dich doch nicht unausgesetzt!« sagte Bet zu Met.

»Kratz du deine Haube und quäl' dich nicht um mich«, antwortete Met gereizt.

»Keinen Streit, meine Damen!« sagte der Hahn. »Es ist genug, wenn Männer sich streiten.«

»Ach was«, sagte Met erzürnt. »Kaum sind Sie im Haus, fängt das dumme Ding zu sticheln an! Und das nur, weil sie eine Haube trägt! Es ist ja lächerlich. Es fragt sich noch, was schöner steht – Kamm oder Haube?«

»Ich schlage einen Spaziergang vor«, sagte der Hahn, um dem Streit ein Ende zu machen. »Der Weg ins Freie ist uns allerdings verschlossen, aber Sie könnten mir einmal die Räume des Hauses zeigen.«

Ja, da gab es viel zu sehen. Die Ziege stand in ihrem Stall, rieb sich die Hörner am Pfosten und wunderte sich über die Einquartierung.

»Wollen Sie auch unser Ferkel sehen?« fragten die Hennen und flogen auf die niedrige Holzwand, die den Schweinestall von der Diele abgrenzte. Ja, da lag es und schlief am hellen Tag, was es nur konnte. Danach spazierten sie am Herd vorbei zu der alten Bank, die unter dem Fenster stand.

»Es ist wirklich gemütlich hier, das muß man sagen«, meinte Hinnerk anerkennend.

»Ein ansehnlicher Betrieb, nicht wahr?« fragte Met. »Wir haben in jedem Jahr sieben Karren Heu von der Wiese und zwanzig Garben Roggen. Das ist etwas!«

»Die Kartoffeln nicht zu vergessen!« erinnerte Bet. »Nirgend wachsen so dicke Kartoffeln wie auf unserm Acker!«

»So, so«, sagte Hinnerk, denn er wollte nicht unhöflich sein.

»Sogar ein Kaninchen haben wir«, sagten die Hennen und führten ihn zu einem kleinen Stall, den Urleburle unter ihrer Bettlade hatte. Richtig, da saß es, hatte schwarze Augen, hockte wie ein Hase auf den Hinterpfoten und fraß an einem Kohlblatt.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der Hahn, um nicht ungebildet zu erscheinen.

»Sind das vielleicht Ihre Sachen?« antwortete das Kaninchen unfreundlich und fraß weiter. Nein, das war keine Unterhaltung.

»Es hat erst vor drei Tagen Junge bekommen«, entschuldigten die Hennen es, »und da ist es wenig umgänglich.«

»Nun ja,« sagte der Hahn. »Ich verstehe. Aber ein wenig höflicher könnte es schon sein. Wenn es wüßte, daß ich mit dem Wiesel kämpfte, würde es gewiß ein wenig anders über mich denken …«

»Was er für schöne Federn hat!« dachte Urleburle und betrachtete den Hahn von weitem. »Es ist schade darum, aber die Gerste geht zu Ende, und Eier legt so ein Bursche nicht. Ein Hahn ist ein Fresser, nichts weiter. Nein, da ist es am besten, ich schlachte ihn heute abend und stecke ihn zum Sonntag in den Topf.«

»Wollen Sie schon schlafen gehen?« fragte der Kater, als es anfing Abend zu werden und Hinnerk vor der Leiter stand und zum Wiemen hinauffliegen wollte.

»Es wird wohl langsam Zeit«, antwortete Hinnerk. »Meine Damen sind schon zu Bett. Sie bleiben wohl noch ein wenig auf?«

»Allerdings«, sagte der Kater. »Für mich fängt das Leben jetzt erst recht an. Sie lieben wohl die Nacht nicht?«

»Durchaus nicht«, sagte der Hahn und schauderte sich.

»Dann gute Nacht also«, sagte der Kater, sprang auf die Hille und schlich sich auf den Hausboden hinauf.

Kaum hatte Hinnerk es sich auf seiner Stange neben den Hennen bequem gemacht, sah er die alte Urleburle mit einem großen Küchenmesser über die Diele kommen. Sie öffnete die schief gesackte Haustür und begann das Messer auf dem Süll abzustreichen. »Was ist das?« sagten die Hennen, die noch nicht schliefen, und standen von der Stange auf.

»Das gilt niemand anders als mir«, antwortete der Hahn entsetzt und stürzte mit gesträubten Federn und klatschenden Flügeln vom Wiemen herab über den Kopf der Alten hinweg ins Freie.

»Halt«, schrie Urleburle. Aber sie hatte gut rufen … Hinnerk hatte Übung im Laufen und wußte, was es galt. »Das ist ja eine nette Räuberhöhle«, dachte er und flog in weitem Bogen über den Graben. »Und so friedfertig, wie die alte Dame aussah! Sicher hat der Kater ganz gut gewußt, um was es ihr ging. Aber so sind diese Katzen! Glatt in Worten und falsch dabei wie die Nacht!«

»Komm, mein Hähnchen, komm!« lockte die Alte und lief hin, ihre letzte Hand voll Gerste zu holen und vor die Tür zu streuen.

Aber sie hatte gut locken und rufen. Hinnerk hatte genug von seinem Besuch in ihrem Hause und hielt sich nicht damit auf, ihr noch lange Lebewohl zu sagen. Gut, daß er seinen Kopf noch auf dem Hals hatte und mit heiler Haut davongekommen war. Als er ein wenig wieder zu Atem kam und weit genug von der alten Moorhütte entfernt war, blieb er stehen und überlegte, wohin er sich wenden sollte. Das Schlimmste war, daß der Abend bereits hereingebrochen war. Wo um alles in der Welt sollte er sich nun so schnell noch einen Schlafplatz suchen?

Ratlos sah er sich um. Die Sonne war bereits untergegangen, und die erste Dämmerung senkte sich auf das dunkle Moor, während das Wasser in den Gräben unter dem kühlen Hauch des Abendwindes erschauerte. Zuletzt entschloß er sich, auf einem Torfhaufen zu schlafen. Dort saß er wenigstens trocken und etwas erhöht, wenn auch ohne jede Deckung.

Langsam kam die Nacht. Alles versank in der Finsternis, und schaurig strich der Wind über die Heide.

Schlich da nicht etwas? Was raschelte dort im Gras? Hob nicht ein Unbekanntes seinen Kopf aus der alten Moorkuhle dicht vor ihm? Hinnerk klopfte das Herz vor Grauen. Nein, er wollte nichts mehr sehen, und entschlossen steckte er seinen Kopf unter den Flügel. Mochte kommen, was da wollte.

Trotz seiner Furcht schlief er zuletzt ein. Im Traum erschienen ihm Met und Bet. Met hatte ein Ei gelegt und gackelte vor Freude, aber Bet hatte ein ganzes Nest von Kücken ausgebrütet, kam damit über den Hof gezogen und kratzte ihre Haube. »Lauft nicht so weit weg, Kinder«, mahnte sie, »und nehmt euch vor Jan, dem Kater, in acht. Er ist ein ganz verschlagener Bursche.« Aber dann kam die alte Urleburle, wetzte ihr Messer auf der Türschwelle und rief: »Wo ist Hinnerk, mein Hähnchen? Soll ich das Messer umsonst geschliffen haben?«

Als er erwachte, war es noch Nacht und der Mond stand in seinem letzten Viertel hoch am Himmel. Aber Hinnerk schlief nicht mehr. Trotz der Finsternis, die ihn umgab, spürte er die Nähe des Morgens und schüttelte seine Federn, um den Tau der Nacht daraus los zu werden, und dann – es hielt ihn einfach nicht mehr – begann er zu krähen, so laut er nur vermochte.

»Was für eine prachtvolle Stimme Sie haben«, sagte eine Feldmaus, die unter dem Torfhaufen ihre Wohnung hatte und in ihrer Neugier bis auf die obersten Torfziegel geklettert war.

»Wer da?« fragte der Hahn und sah sich um, denn er bemerkte niemand.

»Ich heiße Ida«, sagte die Maus, hob ihr Näschen in die Höhe und setzte sich auf die Hinterbeine, um ein wenig größer zu erscheinen und sich in dem blassen Mondlicht bemerkbar zu machen. »Ida Feldmaus, jawohl.«

»Ach so«, beruhigte sich der Hahn. »Ida, das ist ein niedlicher Name.«

»Nicht wahr? Aber Sie dürfen nicht wieder so ein Geschrei machen. Das ist unvorsichtig. Wir haben es uns in unsrer Familie längst angewöhnt, im Flüsterton zu sprechen. Höchstens, daß wir einmal ein wenig pfeifen. Das klingt gut und ruft so leicht niemand herbei, der uns nicht grün ist. Haben Sie hier oben genächtigt?«

»Allerdings«, sagte Hinnerk.

»Darum wünschen Sie vielleicht dauernd hier wohnen zu bleiben? Nein? Schade. Ich hätte gern ein wenig Gesellschaft in der Nähe gehabt. Es ist so selten, daß man jemand trauen kann. Ich wohne hier seit dem Frühjahr. Aber da war der Torfhaufen noch nicht da. Es ist eine schöne Gegend hier. Man lebt wie im Paradies. Aber nun habe ich keine Zeit mehr«, setzte sie hinzu und putzte sich eilig das Näschen. »Ich habe Kinder, jawohl. Und gleich sieben auf einmal, was sagen Sie? Eine glückliche Ehe? Wie man's nehmen will … Jeder hat nun mal sein Päckchen zu tragen. Mein Mann –«

Ja, wo war sie denn mit einmal geblieben? Husch war sie im Torfhaufen verschwunden.

»Schade«, sagte die Eule, die sich eben auf dem Torfhaufen niederließ. »Aber daran sind nur Sie schuld.«

»Wieso«, fragte der Hahn, der sich ebenso erschreckt hatte, wie die Maus.

»Wieso? Wieso? Knapp! Knapp! So eine Frage! Sie sitzen überhaupt immer da, wo Sie nicht hingehören. Sind Sie nicht derselbe, der gestern Nacht auf meiner Birke schlief?«

»Ist dies vielleicht auch Ihr Torfhaufen hier?« fragte Hinnerk zurück und ärgerte sich.

»Ist er vielleicht Ihr Eigentum?« verwunderte sich die Eule und rollte die Augen. »Bei Nacht gehört mir alles, was Sie sehen, oder vielmehr nicht sehen. Denn dann schlafen Sie ja. Wie lange wollen Sie sich überhaupt noch in der Gegend umhertreiben?« setzte sie hinzu. Aber sie wartete die Antwort nicht ab und flog davon. Ja, das war eine unangenehme Dame.

Hinnerk freute sich nicht wenig, als es nun im Osten zu tagen begann, und kaum, daß die ersten Sonnenstrahlen am Himmel aufschossen, flog er von seinem Torfhaufen herab und wollte sich soeben wieder auf den Weg machen, als er sich von neuem angeredet hörte.

»Wie schade, daß Sie schon gehen! Sie haben sich vorhin wohl sehr erschreckt? Ja, das war ein unheimlicher Besuch.«

»Sehr«, sagte Hinnerk.

»Aber vielleicht kommen Sie die nächste Nacht wieder hierher?« fragte die Feldmaus. »Ich habe Ihnen noch so viel zu erzählen.«

»Nein«, sagte Hinnerk. »Darauf rechnen Sie bitte nicht.«

»Wie schade das ist«, bedauerte die Feldmaus. »Wissen Sie, mein Mann macht es mir mitunter wirklich nicht leicht, trotzdem wir noch gar nicht so lange verheiratet sind.«

»Darüber müssen Sie sich mit Ihrem Mann unterhalten«, sagte Hinnerk und ging davon. Nein, die Maus war keine Gesellschaft für ihn … Dazu hungerte ihn. Er war wirklich ein wenig ungeduldig geworden bei ihrem Geschwätz.

Da tauchte zu seiner Freude ein Haferfeld vor ihm auf, und eilig lief er hin und begann sich zu sättigen. Die Haferkörner waren noch weich und milchig und schmeckten vortrefflich. So gut hatte er lange nicht mehr gespeist.

»Haben Sie hier vielleicht ein Recht zu fressen?« rief ihn ein Moorhuhn an, das mit seinen halberwachsenen Jungen am Haferfeld vorüber kam.

»Genau so viel Recht wie Sie, sollte ich meinen«, antwortete Hinnerk. Aber da kam er schön an!

»Sieh doch diesen Burschen an«, schrie das Moorhuhn und rief entrüstet ihren Mann herbei, der ein wenig zurückgeblieben war. Der senkte seine Flügel und kam wie ein Ungewitter herangebraust. »Machen Sie sofort, daß Sie weiterkommen, Sie Strauchdieb!« schrie er, kaum daß er Hinnerk erblickt hatte. »Geht zur Seite, Kinder, dann werde ich es ihm zeigen!«

Ja, das gab einen Kampf! Die Federn flogen nur so. Aber Hinnerk war der Kamm geschwollen. Sollte er vor dem Fremden vielleicht die Flucht ergreifen? Er, der mit dem Wiesel gekämpft hatte?

Ritsch! ging es, wenn sie gegeneinander sprangen, und ritsch und ratsch und Flügelschlag, Sporenhieb und Schnabelstoß … Der Moorhahn war schnellfüßig und gewandt und hatte schon manchen Strauß in seinem Leben hinter sich. Aber Hinnerk stand seinen Mann und hätte den Moorhahn zuletzt sicher überwunden und in die Flucht geschlagen, wenn nicht der Bauer des Weges gekommen wäre, dem das Haferfeld gehörte. Wenn ihn die Hähne im Eifer des Kampfes auch nicht bemerkt hatten, die Henne erhob plötzlich ein solch warnendes Geschrei und schwirrte mit den Jungen so hastig ab, daß auch der Moorhahn aufmerksam wurde, seinen Gegner verließ und den Seinigen folgte.

Der Bauer ärgerte sich nicht wenig, als er die heruntergetretenen Haferhalme auf dem Kampffeld der Hähne sah. Aber er erstaunte, als er Hinnerk, der sich vor Menschen nicht scheute, nach alter Gewohnheit aus vollem Halse seinen Sieg verkünden hörte.

»Was dat for een?« sagte er und schlich sich heran, um den Hahn zu Gesicht zu bekommen, der sich so mutterseelenallein hier im Moor umhertrieb. Da erkannte er denn Anntje Kiekuts Hahn, der seit drei Tagen aus dem Dorf verschwunden war und von dem alle gemeint hatten, daß ihn der Fuchs geholt hätte.

»So'n Racker!« sagte der Bauer und sprang hinzu, um Hinnerk zu greifen, kriegte ihn auch wirklich beim Schwanz zu fassen, nahm ihn auf den Arm, packte ihn bei den Beinen und schob den Kopf des Tieres unter seine Jacke. So trug er ihn eine Stunde weit ins Dorf zu Anntje Kiekuts Haus.

Hinnerk wußte im ersten Schrecken kaum, was ihm geschah. Sehen konnte er nichts, und wenn er nicht klüger gewesen wäre als andre seines Geschlechts, hätte er meinen können, man hätte ihn unversehens mit dem Kopf in ein Maulwurfsloch gesteckt, so finster war es vor seinen Augen.

Ja, das war eine schöne Bescherung! Sicher ging es ihm nun an Kopf und Kragen! Er versuchte, die Beine loszukriegen, aber die Faust des Bauern war wie aus Eisen und ließ nicht locker.

»Rate mal, wen ich hier habe«, sagte der Bauer, als er bei Anntje Kiekut auf die Diele kam. Anntje schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Hinnerk, ihr Hahn! Nein, so etwas!

Wundert es jemand, daß er drei Tage unter den Kückenkorb gesperrt wurde, damit ihm seine Ausreißerideen vergingen?

Aber dann gab ihm Anntje eines Morgens die Freiheit wieder, und als Hinnerk nun wieder mit seinen Hennen vereinigt auf den Hof hinausspazierte und zum erstenmal wieder auf den Schweinekoben flog und aus vollem Halse zu krähen begann, war er mit seinem Los doch zufriedener, als er sich den Anschein geben wollte.

»Nun, wie gefällt es Ihnen wieder zu Hause?« fragte der Storch, der auf dem Nachbarhaus saß und an seinem langen Schnabel entlang auf ihn herabsah. »Haben Sie meine Grüße bestellt und stehen die Pyramiden noch?«

Aber Hinnerk antwortete ihm nicht darauf.

+++

Man sollte meinen, daß es mit diesen Abenteuern für einen Hahn genug gewesen wäre. Aber Hinnerk war nun einmal ein außergewöhnlicher Kerl, ein Baas von einem Hahn, muß man sagen, einer, der doppelt soviel Unternehmungslust und Mut mitbekommen hatte, als jemals einer aus seiner Sippe. Da ist es kein Wunder, wenn ihn das Schicksal nicht lange auf seinen Lorbeeren ausruhen ließ und ihn eines Tages unversehens in neue Abenteuer stürzte, weit unerhörter als vorher.

Den Anstoß dazu gab ein Kegelfest in Deepenmoor, und wenn dieses Dorf auch über eine Stunde von Worpswede entfernt lag – das Schicksal hat mitunter merkwürdige Launen und einen langen Arm. Ein Vetter von Anntje Kiekut, der in Deepenmoor eine Gastwirtschaft betrieb, kam nämlich auf den Einfall, dem schlechten Geschäft in seiner Gaststube am kommenden Sonntag durch ein Preiskegeln ein wenig aufzuhelfen. Er machte sich darum auf den Weg nach Worpswede, um eine Reihe von Gegenständen einzukaufen, die er als Gewinne aussetzen konnte.

Er hatte bereits einige gläserne Blumenvasen, Milch- und Zuckertöpfchen, ein Kästchen mit versilberten Kaffeelöffeln und andere für einen bäuerlichen Haushalt begehrte, wenn auch ziemlich überflüssige Sachen erstanden, als er sich entschloß, den Rest des Tages zu einem Besuch bei seiner Base Anntje zu benutzen und dort in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken. Anntje, die sich freute, den Vetter nach langer Zeit einmal wiederzusehen, bewunderte die eingekauften Sachen nicht wenig. Nur eine Weckuhr, die mit geschäftigem Klickklack aufdringlich in die sommerliche Stille ihrer Stube fiel, nötigte ihr wenig Hochachtung ab und lächelnd äußerte sie, daß sie an Hinnerk einen viel besseren Wecker besitze, der noch dazu nicht einmal aufgezogen zu werden brauche.

Darüber kam ihr Vetter auf den Gedanken, ihr den Hahn abzukaufen und als Sonderpreis für sein Wettkegeln auszusetzen. Wirklich ruhte er nicht, bis ihm Anntje, durch einen guten Preis willig gemacht, das Tier verkaufte. Er lockte also den guten Hinnerk, der sich nichts Böses versah, mit einigen Brotstückchen auf die Diele und schloß die Tür hinter ihm, packte ihn dann, wie man einen Verbrecher beim Kragen nimmt, stopfte ihn mir nichts dir nichts in einen alten Sack und machte sich mit ihm, seinen Blumenvasen und Kaffeelöffeln wieder auf den Weg nach Hause.

Richtig hatte er am Sonntag keinen geringen Zulauf, und bei dem sommerlich warmen Wetter ging es auf seiner Kegelbahn her wie bei einem Gewitter, so rollten und polterten die Kugeln, schlugen die Würfe mit prasselndem Getöse in die aufgestellten Kegel. Gegen Abend hatten denn auch alle ausgesetzten Preise ihren Mann gefunden, nur um Hinnerk, der in einer Kiste hinter einem Drahtgeflecht in der Kegelbahn ausgestellt war, mühte man sich noch immer, – hatte der schlaue Wirt doch die Bedingungen für den Gewinner des Hahns besonders schwer gemacht. Endlich aber warf ein Viehhändler aus der Stadt, der im Dorfe auf Einkauf gewesen war, viermal nacheinander alle neun, und da er zudem die geforderte Anzahl von Würfen hinter sich hatte, war nichts weiter daran zu drehen, der Hahn gehörte ihm und das Dorf mußte zusehen, wie der Händler mit dem stolzesten Gewinn des Tages davonzog, den guten Hinnerk mit gefesselten Beinen und Flügeln in das Kabriolett legte, in dem er von der Stadt herausgefahren war, und sich wieder auf den Weg nach Bremen machte.

Hinnerk kam über dem Rumpeln und Pumpeln des Wagens erst wieder zu sich, als er, aus dem Kasten genommen, eine Frauenstimme sagen hörte: »Nein, was für ein Kerl das ist! Da hast du aber Glück gehabt, Mann! Sperr ihn vorderhand nur in den Pferdestall. Da sitzt er warm und gut und kann mit der Liese aus der Krippe fressen.«

Verplustert und mit steifen Gelenken stand Hinnerk, von seinen Fesseln befreit, ein paar Augenblicke später in dem alten hölzernen Pferdestall, der in einer Ecke des gepflasterten Hofraumes errichtet war, einen Geruch von Torfstreu und Pferdedünger in den Nasenlöchern, der ihn lieblich und heimatlich zugleich anmutete. Der Viehhändler war mit seiner Frau ins Haus gegangen und in der eingetretenen Stille hörte er nur das gleichmäßige Mahlen der Zähne des Pferdes, das ihm gegenüber hinter seiner Krippe stand und gleichmütig seinen Hafer kaute.

»Guten Abend!« sagte Hinnerk und schüttelte seine Federn zurecht. »Wo bin ich hier, wenn ich fragen darf?«

Aber das Pferd schnob nur durch seine Nüstern, um den Häcksel wegzublasen, den man ihm zwischen die Körner gemischt hatte.

»Auf eine höfliche Frage gehört eine Antwort!« wollte Hinnerk sagen, kam aber nicht dazu, seine Belehrung auszusprechen, denn der Viehhändler kehrte noch einmal zurück, hängte dem Pferd eine Laterne bei der Krippe auf, tränkte es, ergriff Hinnerk ohne viele Umstände bei den Flügeln und setzte ihn für die Nacht auf die Heuraufe, damit er ein wenig höher sitze, schlug dann die Tür wieder hinter sich zu und stapfte ins Haus zurück.

Langsam gewöhnte sich Hinnerk an die Beleuchtung und blickte um sich. Es war ein windschiefes altes Gebäude, in dem er sich befand. Heuhalme und Spinngewebe hingen von der Decke herab, und unter ihm stand das Pferd, schüttelte hin und wieder seine Mähne und fraß so eifrig und selbstvergessen, als wäre es nicht im geringsten verwundert, plötzlich Gesellschaft bekommen zu haben.

»Ich heiße Hinnerk und stamme aus Worpswede, wenn Ihnen der Ort vielleicht bekannt sein sollte«, stellte Hinnerk sich vor.

»So, so!« sagte das Pferd und fraß weiter. »Ja, das Dorf ist mir bekannt. Ich war wiederholt dort. Ein ganz elendes Nest, muß ich schon sagen. Ich begreife nicht, was die Menschen dorthin treibt. An Sonntagen jagen sie auf Autos und Motorrädern wie verrückt dorthin. Unsereiner ist sich auf der Landstraße bald seines Lebens nicht mehr sicher.«

»Oh«, sagte Hinnerk ein wenig enttäuscht, »ich muß sagen, daß es mir dort ganz gut gefallen hat. Jedenfalls besser als hier in diesem Stall, wenn ich Sie damit nicht kränke.«

»Warum sind Sie denn nicht dort geblieben?« antwortete das Pferd.

»Man hat mich nicht darum gefragt, wenn ich es gerade heraus sagen soll.«

»Da haben Sie wohl recht«, seufzte das Pferd. »Uns Tiere fragt niemand, wo wir sein und bleiben möchten. Was mich betrifft, so wäre mir draußen im freien Felde auch wohler als hier. Aber man muß sich schicken lernen, das ist nicht anders. Na, schlafen Sie gut. Wenn man den ganzen Tag auf den Beinen gewesen ist, ist man müde.«

»Verzeihen Sie«, sagte der Hahn. »Sind hier keine Hühner im Stall? Ich bin an Gesellschaft gewöhnt und Einsamkeit ist eigentlich meine Sache nicht.«

»Hühner?« fragte das Pferd verächtlich zurück. »Nein. Aber draußen im Hofe hängt unter dem Küchenfenster ein Bauer an der Wand, in dem eine Elster sitzt, wenn es Sie nach Gesellschaft verlangt. Sie hat einen ziemlich losen Schnabel, muß man sagen, aber vielleicht lieben Sie das? Sie scheinen ja selber nicht auf den Schnabel gefallen zu sein.«

»Meinen Sie?« fragte Hinnerk geschmeichelt. Aber er bekam keine Antwort mehr. Das Pferd schwieg und ließ den Kopf sinken. Es schlief wohl schon halb.

Aber dann kam der Händler noch einmal in den Stall zurück, überzeugte sich, daß das Pferd aufgehört hatte zu fressen, nahm die Laterne vom Nagel, ging hinaus und riegelte die Tür hinter sich ab.

Nun war es düstere Nacht um Hinnerk. Nur durch ein kleines vergittertes Fenster fiel ein Strahl des Mondlichts herein und stand bleich auf dem steinernen Fußboden.

Um ihn war alles still. Nur die gleichmäßigen Atemzüge des Pferdes klangen zu ihm herauf. Aber dann unterbrach plötzlich ein Wispern, Knistern, Scharren und Nagen die Stille, und Hinnerk, der selber schon im Einnicken gewesen war, sah im Mondlicht eine Wanderratte am Pfeiler hinaufklettern und in die Krippe schlüpfen, um ein paar vergessene Haferkörner zu fressen.

»Was machen Sie da?« fragte Hinnerk entrüstet, der selber hungrig genug war und über all dem Ungewohnten und Aufregenden völlig um sein Abendfutter gekommen war.

»Was geht Sie das an?« antwortete die Ratte frech. »Mischen Sie sich nicht in Dinge, die nicht Ihre Sache sind, verstehn Sie mich? Sind Sie heute nicht zum erstenmal hier, und da wollen Sie hier gleich das große Wort haben? Hüten Sie sich, daß ich Ihnen nicht die Beine abnage, alter Mistkratzer!«

»Das werden wir sehen«, antwortete Hinnerk, dem vor Ärger und Wut der Kamm schwoll. »Unterstehen Sie sich nicht, hier heraufzukommen, sie alter Ratterich, sonst können Sie einmal meinen Schnabel und meine Sporen kennen lernen. Fragen Sie das Wiesel und lassen Sie sich erzählen, wie ich mit ihm fertig geworden bin!«

»Ach, reden Sie hier keinen Stuß, alter Bauerngockel, ja?« höhnte die Ratte giftig. Aber die Erwähnung des Wiesels hatte ihr doch einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Aber sie wollte es sich nicht merken lassen und setzte darum hinzu: »Sie wollen ja nur ein paar Haferkörner abhaben und ärgern sich, daß ich Ihnen nichts übrig lasse.«

»Nein«, sagte Hinnerk, »ich danke. Mit Ihnen esse ich nicht aus einer Schüssel, wenn Sie das noch nicht wissen sollten, und wenn Sie blanken Weizen darin hätten. Ich kann Sie nicht sehen, ohne daß mir zum Brechen übel wird. So, nun wissen Sie es.«

»Ach, sieh an!« pfiff die Ratte. »Sie dünken sich wohl etwas Besseres als unsereiner? Aber mein Schwanz ist ebenso lang wie der Ihre und besteht nicht etwa nur aus Federn! Verstehen Sie vielleicht den Ihren so zu ringeln und zu bewegen, wie ich den meinen? Nein, nicht wahr? Dann weiß ich nicht, mit welchem Recht Sie hier so Ihren ungewaschenen Schnabel aufreißen!« Damit sprang sie wieder aus der Krippe und verschwand in ihr Loch.

»So ein altes Ekel!« murrte Hinnerk und setzte sich wieder. Gut, daß sie davon war. Er hatte es ihr jedenfalls gehörig gegeben.

In aller Frühe erwachte er aus seinem Schlafe. Soeben hatte er im Traum mit der Ratte gekämpft und war gerade daran gewesen, ihr den Garaus zu machen, als er von der unwillkürlichen Bewegung seiner Flügel erwacht war. Wirklich, es wurde schon Tag, und eilig erhob er sich auf die Zehen und begann zu krähen.

»So etwas müssen Sie hier entschieden unterlassen!« rief das Pferd, das, aus seinem Schlafe emporgeschreckt, unmutig zu ihm hinaufsah.

»Warum?« fragte Hinnerk verwundert.

»Es wird sowieso jeden Morgen zu früh Tag! Aber das können Sie nicht verstehen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Hinnerk verwirrt. »Ich dachte, es mache Ihnen Freude, aufzuwachen.«

»Nein, durchaus nicht«, antwortete das Pferd und schüttelte energisch seinen Kopf. »Ich habe täglich zu arbeiten, sehen Sie, während Sie nur spazierengehen und Ihren Hennen schön tun.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Hinnerk. »Es muß kein ganz leichtes Leben sein, wenn man als Pferd auf die Welt gekommen ist. Aber Sie irren sich, wenn Sie meinen, daß ich nichts anderes zu tun hätte, als spazierenzugehen. Es ist nicht so leicht, zwischen einem Dutzend Hennen fertig zu werden und bald der einen, bald der anderen ein Korn aus der Erde zu kratzen.«

»So, mag sein. Ich verstehe nichts davon«, antwortete das Pferd. »Schließlich hat jeder von uns sein Teil zu tragen. Aber nun lassen Sie mich weiterschlafen.«

Es kam aber nicht mehr dazu. Der Viehhändler polterte die Treppe in den Hof hinab, öffnete den Stall, schüttete dem Pferd sein Morgenfutter in die Krippe, legte ihm, während es fraß, schon sein Geschirr auf, spannte es dann vor den Wagen und fuhr mit ihm durch die Torfahrt vom Hofe auf die Straße hinaus.

Zum Glück hatte er die Stalltür offen gelassen, so daß Hinnerk auf den Hofplatz hinauskommen konnte.

Es war ein nebliger und regnerischer Morgen. Von dem Dach des Pferdestalles klatschten einige Wassertropfen auf das Steinpflaster des Hofes, während gegenüber verrußte Hauswände stumm und steinern in die Höhe wuchsen.

Niedergeschlagen und mit gesenktem Schwanz stand Hinnerk in der Stalltür und blickte in den engen Hofplatz hinaus, der leer und öde vor ihm lag. Einige Wasserlachen auf dem Pflaster machten den Anblick, der sich ihm bot, noch trostloser.

»Wohin bin ich hier nur geraten?« dachte er verzagt, zog den Kopf zwischen die Schultern und begann nachzudenken.

»Halloh! Wie kommen Sie denn mit einem Male hierher?« rief eine Stimme. Es war die Elster, die aus ihrem vergitterten Bauer an der Hauswand mit klugen schwarzen Augen auf Hinnerk herabsah.

»Ach, steh an!« antwortete Hinnerk, sichtlich erfreut und überrascht. »Wenigstens eine lebende Seele! Guten Morgen, meine Beste, ich wünsche wohl geruht zu haben! Wie ich hierher komme? Ja, das ist eine dumme und fatale Geschichte. Sie beginnt mit einem Kegelfest und endet mit der Gefangenschaft hier auf diesem trostlosen Hofe.«

»Nein«, lachte die Elster. »Sie endet im Kochtopf, kann ich Ihnen verraten. Todsicher! Wenn ich nicht eine Elster wäre, wäre es mir längst genau so ergangen.«

»Meinen Sie?« fragte Hinnerk entsetzt.

»Ohne Frage«, antwortete die Elster. »Man wird Sie ein paar Wochen füttern und Sie dann eines guten Tages einen Kopf kürzer machen. Sehen Sie, da regnet es schon Hafer und Kartoffeln. Die mästen gut.«

Es war das Dienstmädchen, das eins der Küchenfenster geöffnet hatte und dem Hahn sein Morgenfutter in den Hof hinauswarf.

Hinnerk war bei den Worten der Elster kein geringer Schreck in die Glieder gefahren. Oh, er kannte das und zweifelte keinen Augenblick, daß die Elster recht hatte.

Aufgeregt blickte er um sich.

»Wenn ich Ihnen raten soll, machen Sie sich beizeiten auf und davon«, riet die Elster.

»Ja, Sie haben gut reden«, sagte Hinnerk und schritt über den Hof in die Einfahrt hinaus. Aber das Tor war geschlossen. Er konnte nur durch das Gitter auf die Straße hinausblicken, auf der es für einen Hahn ebenso trostlos aussah, wie in dem engen Hofe.

Verzweifelt kehrte er wieder um.

»Ich sollte nur soviel Freiheit haben wie Sie«, sagte die Elster und sprang von der einen Stange ihres Käfiges auf die andere. »Ich versuche jeden Tag, das Gitter zu zerbeißen, das diesen abscheulichen Kasten verschließt. Aber es ist zäher, als Sie denken.«

»Nein«, sagte Hinnerk mit festem Entschluß, »ehe ich mir hier den Kopf vom Rumpfe trennen lasse, riskiere ich die Flucht, es mag gehen, wie es will. Schlimmer kann es so leicht nicht werden.«

»Sehen Sie«, sagte die Elster, »das nenne ich mutig gesprochen. Frisch gewagt ist halb gewonnen!«

»Hätte ich nur für eine Stunde Ihre Flügel! Aber unsereiner ist nun einmal an die Erde gebunden!« seufzte Hinnerk und begann ein paar Körner aufzunehmen, um sich ein wenig für den Tag zu stärken und seinen schlimmsten Hunger zu stillen. Schließlich hatte er auch keine Ursache, alles den Sperlingen zu überlassen, die sich von den Dächern herab gierig auf sein Futter gestürzt hatten.

»Gestatten Sie«, sagte er.

»Wir gestatten gar nichts«, schrien die Sperlinge, und einer der unverschämtesten nahm ihm eine halbe Kartoffel vor dem Schnabel weg und flog damit fort. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, das ist schon immer so gewesen.«

»Hacken Sie ihnen doch die Köpfe ein!« rief die Elster zänkisch und wütend. »Sie lassen sich viel zuviel gefallen. Sie sind wohl vom Lande, wie? Hier in der Stadt denkt jeder nur an sich selbst, das werden Sie noch erfahren!«

»Allerdings bin ich vom Lande«, gab Hinnerk zu, »und bin stolz darauf, jawohl. Ich bin aus Worpswede, falls Sie den Ort kennen.«

»Aus Worpswede?« schrie die Elster erstaunt. »Sieh doch an, da sind wir ja die engsten Landsleute! Ich bin in den Kiefern am Weiherberge geboren, und wenn nicht der verdammte Bauernjunge gekommen und mich, ehe ich zu fliegen verstand, aus dem Nest genommen hätte, säße ich hier nicht gefangen! Wenn ich aber einmal aus meinem Gefängnis herauskomme, wird mein erster Flug nach Worpswede gehen und wehe, wenn mir der Bursche begegnet! Ich schlage ihm meine Flügel um die Ohren, daß ihm Hören und Sehen vergeht!«

»Meinen Segen haben Sie«, sagte Hinnerk und putzte sich den Schnabel auf den Steinen, »aber nun wird es Zeit für mich. Hier bleibe ich keine Stunde mehr. Leben Sie wohl, Fräulein Elster! Schade, daß Sie nicht mitkönnen!«

»Wie, Sie wollen schon davon?« schrie die Elster und kreischte vor Ärger und Wut, daß sie nicht mitkonnte.

»Schreien Sie doch nicht so! Sie machen ja das ganze Haus aufmerksam. Das nenne ich keine Freundschaft.«

»Ach was, Freundschaft hin, Freundschaft her!« zankte die Elster. »Soll ich allein hier bleiben und mich noch freuen, daß Sie mich hier sitzen lassen? Das hat man davon, wenn man anderen einen guten Rat gibt!«

Aber Hinnerk hörte sie schon nicht mehr. Er war in die Einfahrt gelangt, die vom Hofe auf die Straße führte, und stand nun vor dem Gitter des mannshohen Tores.

Jetzt galt es! Entweder – oder! Es gab keinen anderen Weg aus seinem Gefängnis.

Aufgeregt duckte er sich und schwang sich dann mit wilden, klatschenden Flügelschlägen in die Höhe. Wirklich erreichte er mit der Brust den obersten Rand, wäre aber um ein Haar wieder herabgeglitten, wenn er nicht unter neuen heftigen Flügelschlägen doch zuletzt mit den Füßen einen Halt gefunden hätte.

Uff! Die Pforte war doch ein erhebliches Stück höher, als Anntje Kiekuts Schweinekoben. Zum Überfluß war sie auf ihrem oberen Rande mit Nägeln besetzt, an denen er sich die Brust verletzt hatte, daß ihm ein paar dicke Blutstropfen in die Halsfedern quollen. Aber er merkte es kaum. Auch galt hier kein langes Besinnen. Ohne sich umzublicken und blind gegen das, was ihn erwarten mochte, stürzte er sich auf die Straße hinab.

Verwundert blickte er sich um.

Hauswände und Fensterscheiben, wohin er blickte. Hier und da ein paar steinerne Treppenstufen. Aber nirgends Baum oder Strauch, Feld oder Wiese, Busch oder Garten. Steine, Steine, Steine, wohin er auch blickte. Kein Halm und kein Blatt und nicht die kleinste Gelegenheit, wo er Schutz und Deckung hätte finden können.

Aufgeregt begann er die Straße hinabzuschreiten. »Nur fort«, dachte er, »nur fort!«

Er hatte Glück. Es war noch früh am Morgen und die Straße fast menschenleer. Nur ein Bäckerjunge kam übermütig pfeifend um die Ecke. Er wollte sich totlachen, als er den Hahn die Gasse hinabflüchten sah. Aber dann setzte er plötzlich den Korb hin und begann hinter Hinnerk herzulaufen, um ihn einzufangen und sich vielleicht ein gutes Fundgeld zu verdienen.

Entsetzt begann Hinnerk noch schneller zu laufen als vorhin und rannte die Straße hinab, als wäre Urleburle mit dem Schlachtmesser hinter ihm.

Plötzlich öffnete sich die enge Straße vor ihm, und Hinnerk stürzte in die Hauptverkehrsader der Stadt hinaus.

Donnernd kam im selben Augenblick eine elektrische Bahn die Straße herabgebraust und der Fahrer mußte lachend und mit aller Gewalt bremsen, sonst hätte er den völlig verdatterten Hahn, der unsicher, wohin er sich wenden sollte, auf den Schienen Halt gemacht hatte, überfahren.

Aber dann gewann Hinnerk seine Besinnung wieder und flog mehr, als er ging, quer über die Straße und stürzte blindlings davon.

Eine neue Querstraße nahm ihn auf, noch enger als die, durch die er gekommen war. Aber hier drohte neue Gefahr. Ein Zeitungsausträger, der soeben seinen Botengang beendet hatte und wieder nach Hause wollte, versperrte ihm mit gespreizten Beinen den Weg.

Aber Hinnerk ließ sich nicht dadurch beirren. Er sah auch kaum, was ihm drohte. Er wußte nur, daß die breite und belebte Straße hinter ihm noch furchtbarer war, als das vor ihm liegende Hindernis, und mit gockelndem Geschrei flatterte er über den Kopf des Zeitungsausträgers hinweg, mit Halloh! und in hallendem Laufschritt von dem Zeitungsmann verfolgt, dem sich, um das Unglück vollzumachen, nun auch noch ein Hund anschloß, ein Rattenfänger, der vor Vergnügen über die unvermutete Hetzjagd bellend ebenfalls hinter Hinnerk herzusetzen begann.

Aber da winkte Hilfe in der Not! Die Gasse öffnete sich und die städtischen Anlagen taten sich vor ihm auf, grüne Rasenflächen, Büsche und Bäume winkten ihm – und mit letzter Anstrengung gelang es Hinnerk, den niedrigen Ast einer alten Kastanie zu erreichen, die mit breiter Krone und den ersten herbstlich gelben Blättern sich über den alten Stadtgraben neigte.

Von seinem Aste aus war es ein kleines für Hinnerk, höher und höher in die Krone des Baumes hinaufzugelangen, und bald war er durch das dichte Blattwerk vor den Blicken seiner Verfolger verborgen. Sein Herz klopfte wie rasend, und mit vor Atemnot geöffnetem Schnabel fühlte er sich mehr tot als lebendig.

»Ruh'! Ruh'!« mahnte eine Stimme über ihm.

Erschreckt spähte Hinnerk nach oben. Es war aber nur eine Holztaube, die im Gezweige saß und auf ihn herabäugte.

»Ruhe?« antwortete er. »Sie haben gut reden und sitzen da oben auf ihrem Zweige so sicher, wie Sie es nur wünschen können. Da sollten Sie mal in meinen Federn stecken. Ich bin auf der Flucht und noch ganz atemlos von der Hetze, die ich hinter mir habe. Die Flügel hängen mir nur noch soeben am Leibe, so bin ich gerannt. Gut, daß die alte Kastanie mir in den Weg kam. Ich wäre einfach verloren gewesen!«

»Verfolgt man Sie noch?«

»Und ob!«

»Dann kommen Sie doch eine Etage höher herauf. Hier oben sind Sie völlig sicher.«

»Nein, danke. Das will ich doch lieber unterlassen. Die Zweige dort oben sind mir zu dünn. Dafür bin ich eine zu gewichtige Persönlichkeit, müssen Sie wissen.«

»Ganz wie Sie meinen«, sagte die Taube. »Ja, man muß sich in acht nehmen hier in der Stadt. Sie sind wohl noch nicht ganz lange hier?«

»Nein«, sagte Hinnerk, ein wenig beruhigt, daß er Gesellschaft gefunden hatte. »Aber ist das ein Grund, mich wie einen Verbrecher zu verfolgen? Ich versichere Ihnen, daß ich durchaus still und friedlich meines Weges gegangen bin. Leiden die Straßen vielleicht darunter, wenn unsereiner in ihnen spazieren geht? Aber die Menschen waren rein toll und verrückt. Vielleicht waren sie besorgt, daß ich ihnen die Pflastersteine aus dem Boden kratzen würde.«

Die Taube lachte. »Nein«, sagte sie, »es war das Ungewöhnliche, wissen Sie.«

»Daß ich ein so ungewöhnlicher Kerl bin, meinen Sie?« fragte Hinnerk geschmeichelt.

»Jedenfalls sind Sie hier in den Straßen der Stadt eine ungewöhnliche Erscheinung«, erklärte ihm die Taube. »Es ging mir anfangs durchaus nicht anders. Sogar geschossen hat man auf mich.«

»Pfui!« sagte Hinnerk.

»Aber nun hat man sich an meine Erscheinung gewöhnt und läßt mich in Ruhe. Vielleicht wird es Ihnen ähnlich gehen. Immerhin wäre es gut, wenn Sie im Fliegen ein wenig gewandter wären.«

»Ja, ja«, seufzte Hinnerk. »Ich hätte es vielleicht in meiner Jugend mehr üben sollen. Immerhin habe ich meine Beine, und im Laufen holt mich so leicht keiner ein, besonders wenn ich die Flügel mit hinzunehme.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen weiterhin alles Gute«, sagte die Holztaube und flog davon.

»Schade«, dachte Hinnerk, »es plauderte sich so nett mit ihr.«

Die Stadt war nun ganz erwacht. Auf den Straßen hupten die Autos, klingelten die Straßenbahnen, riefen fahrende Verkäufer ihre Waren aus, und die klare Spätsommersonne strahlte golden in das Blattwerk der alten Kastanie, auf der Hinnerk saß.

Seine Verfolger schienen sich verlaufen zu haben. Es war ihnen wohl zu langweilig geworden, in die Krone der alten Kastanie hinaufzustarren und den Hahn mit den Augen zu suchen, der in einer Astgabel saß und von dem unteren Blattwerk gut verborgen wurde.

Unter ihm lagen Anlagen mit weiten herrlich grünen Rasenflächen, Busch- und Baumgruppen, schimmerte der dunkle Spiegel des Stadtgrabens, gingen die ersten Spaziergänger vorüber, setzten sich auf die aufgestellten Bänke und lasen ihre Morgenzeitung.

Nein, Hinnerk hätte sich keinen schöneren Platz denken können, wenn nur der Hunger nicht gewesen wäre, der ihn je länger desto mehr zu quälen begann.

Hätte er sich doch vorhin auf dem Hofe des Viehhändlers wenigstens ordentlich satt gefressen! Aber die besten Bissen hatten ihm die Sperlinge vor der Nase weggenommen, und dazu hatte er es vielleicht gar zu eilig gehabt, davonzukommen. Am liebsten wäre er jetzt von seinem Sitze auf die Erde hinabgeflogen. Aber die Aussicht, wieder gejagt zu werden, womöglich in neue Gefangenschaft zu geraten, war doch zu groß. Da blieb er lieber sitzen, wo er war.

Langsam verging so der Tag. Einsam und verlassen saß Hinnerk auf seinem verborgenen Platz. Wenn doch wenigstens die Holztaube zurückgekommen wäre! Statt dessen trieben sich nur ein paar Sperlinge in den Bäumen herum, stürzten sich auf die Brotkrumen, welche die Kinder fallen ließen, die von ihren Wärterinnen geführt auf den Wegen spielten. Hinnerk verging beinahe vor Neid und Hunger, wenn er die Sperlinge mit den aufgepickten weißen Brotbröckchen im Schnabel davonfliegen sah.

Um ihn kümmerte sich niemand, nur ein Buchfink, der durch die alte Kastanie kam, erblickte ihn und sprang vor Schreck auf den nächsten Zweig.

»Nun, nun«, beruhigte ihn Hinnerk. »Haben Sie nur keine Angst, junger Mann, ich fresse Sie nicht!«

»Sie machen aber ein Gesicht darnach«, sagte der Buchfink.

»Soll man nicht ärgerlich werden, wenn man Hunger hat und diese Sperlinge fressen sieht wie Scheunendrescher?«

»Ja, es ist ein Kreuz mit ihnen«, bestätigte der Buchfink. »Aber ärgern Sie sich nicht zu sehr. Es gibt für unsereinen immer noch genug, um satt zu werden.«

»Nur für mich nicht!« entgegnete Hinnerk gallig und nervös. »Oder glauben Sie, ich brauchte auf meinem Aste hier nur den Schnabel aufzusperren?«

»Warum sitzen Sie denn auch so faul da?« fragte der Buchfink. »Da wundert es mich nicht, wenn Sie Hunger haben. Man muß sich rühren, wenn man durchkommen will, das ist nun nicht anders!« Damit flog er davon.

»Da hat man zu seinem Unglück nun noch den Spott dazu!« dachte Hinnerk, und zog grollend und verärgert wieder den Kopf zwischen die Schultern.

Aber da! Was war das? Kroch da nicht eine Raupe am Stamm herauf? Sieh doch an! Wenn er nur noch ein wenig wartete, mußte sie ihm gerade in den Schnabel spazieren … Jetzt war sie bald nahe genug, und er beugte schon den Kopf zu ihr hinab.

»Rühren Sie mich nicht an!« sagte die Raupe, die die Gefahr erkannte, in die sie unvermutet geraten war.

»Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Hinnerk, »haben Sie in Ihrem Leben genug gefressen und haben vor, sich hier oben irgendwo zu verpuppen?«

»Allerdings«, sagte die Raupe.

»Dann tun Sie das bitte in meinem Magen, wenn es Ihnen gefällig ist!« sagte Hinnerk. Da hatte er sie schon und schluckte sie hinunter.

Das war wenig, aber es war etwas.

Langsam wurde es Abend. Aber die Straße, an der die alte Kastanie stand, wurde nicht stiller. Autos mit blitzenden Lichtern flitzten vorüber, Wagen rasselten, Ströme von Menschen bewegten sich vor den Kaufläden vorüber und ganze Scharen von Kindern kamen aus den engen Gassen und zogen mit leuchtenden Papierlaternen in die dunklen Anlagen hinaus.

»Sonne, Mond und Sterne«, sangen sie.

»Wann geht man hier in der Stadt eigentlich zur Ruhe?« fragte sich Hinnerk verwundert. War die Sonne nicht längst untergegangen, und war es nicht höchste Zeit geworden zu schlafen? Nein, da war er doch ein solideres Leben gewohnt. Früh ins Bett und früh wieder heraus, das war nun seine Weise.

Trotz der Unruhe unter ihm schlief er zuletzt doch ein.

Als er erwachte, graute der Morgen. Jetzt endlich schien man in der Stadt zu Bett gegangen zu sein. Trotz des festlich heiteren Morgenlichtes lagen auch die Anlagen nun völlig menschenleer und still unter ihm, träumte die Straße mit erloschenen Laternen in den jungen Tag.

Entschlossen und mit neuem Mut erhob sich Hinnerk auf seinem Ast, reckte sich, schlug klatschend mit den Flügeln und stieß ein Kikeriki aus, daß es weit über die Anlagen hinaus und in die stillen Straßen hinein drang.

Mochte daraus werden, was wollte! Er konnte es nun einmal nicht lassen, trotzdem ihm die Feldmaus im Moore seinerzeit geraten hatte, vorsichtiger mit seiner Stimme umzugehen.

Von Ast zu Ast sprang er dann abwärts und endlich mit kühnem Schwung auf die morgenfrische Erde hinab, die unter einem leuchtenden Morgennebel wie unter einer silberweißen Decke lag.

Ausgehungert begann Hinnerk sogleich eifrig nach Futter zu suchen und so wild zu kratzen und zu scharren wie noch an keinem Tage. Von dem Rasenplatz, den er bald überquerte, drang er in die Gebüschgruppen ein, die sich bis an den Stadtgraben hinunter erstreckten. Hier konnte er sich wenigstens ohne Gefahr sattfressen. Der Erdboden, auf dem bereits die ersten rostgelben und sommermüde gewordenen Blätter der Linde und einige flammend rote eines Ahornbaumes lagen, bot Würmer und Insekten genug. Dazu gab es zarte grüne Grasspitzen, soviel er nur wollte. Nein, hier entbehrte er nichts. Dazu war alles ringsumher so friedlich und still, wie er es nur wünschen konnte. Selbst die Enten auf dem Wasser des Stadtgrabens schliefen noch und trieben, den Kopf unter den Flügeln, auf dem grünen Wasser, bis es einem Enterich einfiel, mit ohrenbetäubendem Gekreisch zu verkünden, daß er aufgewacht sei, und mit klatschenden Flügeln nicht weit von Hinnerk ans Land zu steigen.

»Was machen Sie hier?« fragte er, als er Hinnerk erblickte, streng und unfreundlich.

»Ich frühstücke«, antwortete Hinnerk, »wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Doch, ich habe etwas dagegen!«

»Darf man fragen, was?« verwunderte sich Hinnerk.

»Daß Sie nicht hierher gehören, Sie langbeiniger alter Soldat! Ich wohne seit zwei Jahren hier auf diesem Graben, aber ich habe noch niemals bemerkt, daß ein solches Stelzbein wie Sie hier zugelassen gewesen wäre. Packen Sie sich gefälligst, oder ich rufe die Schwäne!«

»Pah! Tun Sie, was Sie nicht lassen wollen, Sie Gelbschnabel«, sagte Hinnerk, empört und beleidigt. Noch nie war ihm so ein zänkischer Erpel vorgekommen. Da waren die Enten, denen er vor Wochen unten im Teufelsmoor begegnet war, doch weit höflicher gewesen.

Wütend erhob der Enterich auf Hinnerks verächtliche Worte ein so lautes Geschrei, daß wirklich selbst die Schwäne aufmerksam wurden, ihre Köpfe auf den schlanken Hälsen reckten und mit böse blickenden Augen herbeiruderten. Es rauschte ordentlich im Wasser, so ungestüm stießen sie sich vorwärts.

»Was ist?« zischten sie den Enterich an.

»Da – da – da!« stotterte der, wütend und aufgeregt und wies mit dem gelben Schnabel auf Hinnerk. »Seht Ihr den Rotkopf nicht? Da unter dem Busch steht er.«

»Wenn es weiter nichts ist!« sagten die Schwäne, steckten die langen Hälse ins Wasser und begannen gelangweilt zu gründeln.

»Aha!« dachte Hinnerk, dem beim Anblick der gewaltigen Vögel doch ein wenig bang geworden war. »Wie es scheint, haben sie Respekt vor mir, und darum wagen sie nicht, mir etwas zu sagen!« Immerhin hätte er es vorgezogen, sich unauffällig außer Sicht zu bringen, wenn er nicht gefürchtet hätte, dem dummen Enterich einen Triumph zu bereiten.

Gelassen und stolz schritt er darum zum Wasser hinab, begann seinen Durst zu stillen und ließ sich das kühle Wasser die Kehle hinabrinnen. Ah, wie wohl das tat!

Aber jetzt stieg ein Arbeiter eine kleine Steintreppe zum Wasser hinab und begann den Schwänen und Enten in einem hölzernen Tröge, der halb im Wasser stand, Mais und Gerste hinzuschütten.

Eilig schwammen die Tiere von allen Seiten herbei, streckten die Schnäbel in den Trog und schnabbelten und schnatterten, als hätten sie seit einer Woche gefastet. Ja, einer der Schwäne, der wohl nicht gut geschlafen hatte, fuhr dem naseweisen Enterich, über den Hinnerk sich so geärgert hatte, mit dem Schnabel in die Haube, daß er aufschrie und scheltend flüchtete.

»Siehst du!« dachte Hinnerk befriedigt. »Das war dir gesund, alter Aufspieler!«

Gar zu gern wäre er wie alle anderen herbeigestürzt, um mitzufressen. Wo es so viel Futter gab, wäre es auf eine Handvoll für ihn sicher auch nicht angekommen. Aber mißtrauisch blieb er von weitem stehen, und erst als alle Tiere sich sattgefressen hatten und auch die Schwäne, schweigend und stolz, wieder davongezogen waren, trat er näher, um ein paar Körner aufzulesen, welche die letzten der Enten liegengelassen hatten.

Kaum war er aber an den Trog getreten, als ihn der Arbeiter bemerkte, der den Tieren zugesehen hatte und soeben mit seinem Futtersack wieder davongehen wollte.

Halloh! verwunderte er sich und zog die Augenbrauen hoch. Der war gewiß irgendwo entlaufen und es gab eine gute Belohnung im Fundamt, wenn er ihn einfing und ablieferte?

»Tüt, tüt!« lockte er und begann Hinnerk aus seinem leeren Futtersack einige hängengebliebene Maiskörner hinzustreuen.

Glücklich über die gewohnten Locktöne und die Freundlichkeit, die man ihm erwies, kam Hinnerk näher und begann eifrig zu picken und zu schlucken, hütete sich aber wohl, näherzukommen, als unbedingt nötig war. Auch hob er nach jedem Korn, das er aufnahm, sogleich hastig wieder den Kopf. Aber der Arbeiter war geschickter, als Hinnerk vermutete, und als er ihm ein besonders großes Maiskorn so hinwarf, daß Hinnerk sich umdrehen mußte, um es aufzunehmen, flog ihm plötzlich der leere Futtersack über den Kopf, daß ihn der hinzuspringende Arbeiter im nächsten Augenblick bei den Flügeln packen konnte.

Armer Hinnerk! Erschreckt und verwirrt sah er sich nun am Wasser entlang zu einem Schuppen getragen und dort unter einen umgestülpten Korb gesteckt.

Bedrückt kauerte er sich darunter nieder und erwartete herzklopfend, was weiter mit ihm geschehen würde. Wieder einmal, daß er seine Freiheit verloren hatte! Als er sich aber erst an das Dämmerdunkel des Raumes gewöhnt hatte, in dem Spaten und Rechen, Kisten und Kasten umherstanden und der den Arbeitern, die in den Anlagen beschäftigt waren, als Geräteschuppen diente, kehrten ihm langsam Mut und Hoffnung zurück. Vielleicht, daß sich doch eine Gelegenheit fand, wieder davonzukommen. Es hieß nur klug sein und die Augen offen halten. War er nicht immer ein Glücksvogel gewesen und immer noch heil und unversehrt aus allen Gefahren hervorgegangen? Wer konnte überhaupt wissen, was ihm bevorstand? Vielleicht brachte man ihn auf einen Hühnerhof, größer und schöner, als er ihn je gesehen hatte? Im Geiste sah er sich schon zwischen einem Dutzend junger Hennen herumspazieren, von allen bewundert und geehrt, ein Held, der mit dem Wiesel gekämpft und es besiegt hatte, der auf dem Preiskegeln in Deepenmoor als Sondergewinn ausgestellt war, aus einem verschlossenen Hofe in der Stadt davonlief und wie ein Verbrecher verfolgt wurde, aber allen entkam, in den städtischen Anlagen wie ein Wildvogel auf einem Baume geschlafen hatte und nur durch Verrat und Hinterlist in neue Gefangenschaft geraten war!

Träumend zog er die Nickhaut vor die Augen. Nein, es war keine Frage, er war noch zu Außerordentlichem berufen. Er sah sich auf einem Hühnerhofe stehen, von einem ganzen Schwarm von Hennen umgeben, schwarzen, weißen, gesperberten, gold- und silbergetupften, einige trugen einen Kamm, andere Hauben. Er hätte einfach nicht sagen können, welche die schönste war. Vielleicht die schwarze mit der schneeweißen Haube, oder die weiße mit dem feuerroten Kamm?

Da wurde der Korb plötzlich aufgenommen und Hinnerk fuhr erschreckt aus seinen Träumen. Es wurde heller um ihn. Frische Luft wehte durch das Geflecht des Korbes – er fühlte sich davongetragen, horchte gespannt auf jedes Geräusch, und versuchte zu erspähen, wohin die Reise ging.

Da war sie wieder, die gepflasterte Straße mit Wagen, Autos, Straßenbahnen und Menschen, ein Anblick, der ihn geradezu elend machte und wenig angenehme Erinnerungen in ihm weckte. Dazu kam das Schwanken und Stoßen, mit dem der Korb getragen wurde, bis er sich plötzlich in einem Hofe abgesetzt sah, in dem in vergitterten Käfigen hauptsächlich Katzen und Hunde kauerten oder unruhig in ihren Verließen hin- und herliefen.

»Nanu, wohin bin ich denn hier geraten?« dachte Hinnerk und reckte verwundert seinen Hals.

Aber ehe er noch eine Antwort auf seine Frage fand, wurde der Deckel seines Korbes ein wenig gelüftet, eine braune Hand fuhr herein, packte ihn bei den Flügeln, hob ihn heraus und steckte ihn in einen der leeren Käfige, die den Platz umsäumten.

»Wo haben Sie denn den aufgegriffen?« fragte ein Mann in blauer Bluse den Arbeiter, der Hinnerk hergetragen hatte. »Der sieht ja merkwürdig aus! Einen Kehllappen hat er nur mehr, und zerzaust ist er, wie ein alter Strauchritter.«

»In den Anlagen drüben vor dem Tor«, lachte der Angeredete. »Ich dachte, hier im Tierasyl wäre er am besten aufgehoben. Wenn er von seinem Eigentümer zurückgefordert wird, gibt es ein Fundgeld, und sonst habe ich vielleicht einen guten Sonntagsbraten an ihm.«

Verdutzt über die neue Wendung in seinem Schicksal sah Hinnerk den beiden nach, und musterte dann den Käfig, in den man ihn gesetzt hatte. Er war eng und an beiden Seiten mit Brettern verwahrt, so daß Hinnerk nicht zu sehen vermochte, wer in dem Käfig neben ihm hauste. Dazu stieg ein unbekannter scharfer Geruch vom Fußboden auf. Dunkel entsann er sich, ihn schon einmal gerochen zu haben, damals, als der Tierarzt in Anntje Suhrs Hause gewesen war und nach ihrer Ziege gesehen hatte, als sie nach dem Lammen krank geworden war, ein Geruch, der ihm Übelkeit erregte und ihn auch heute nicht vergnüglicher stimmte.

Wütend rannte er gegen das Drahtgeflecht, mit dem sein Käfig vergittert war. Aber es gab nirgends nach, und er stieß sich nur Kamm und Backen daran blutig. Nein, hinaus konnte er nicht, das sah er ein. Ganz so einfach war es doch nicht, seine Freiheit wieder zu gewinnen.

Verstimmt schüttelte er seine Federn zurecht und ließ den Kopf hängen. Als er aber bald nachdem mit Futter und Wasser versehen wurde, ließ er sich durch seine Enttäuschung nicht länger die Laune verderben, fraß sich endlich einmal wieder in Ruhe den Kropf voll und setzte sich dann, müde von dem gebückten Stehen vorhin im Korbe, in eine Ecke.

Aufmerksam spähte er zu den Käfigen hinüber, die ihm gegenüber an der anderen Seite des Hofes standen.

Wütend lief dort eine Dogge hinter ihrem Gitter auf und ab. Von Zeit zu Zeit hob sie die Schnauze in die Höhe und heulte, daß es schauerlich von den Hauswänden zurückschallte. Kläffend antwortete ein Terrier, der neben ihr untergebracht war, während ein Jagdhund mit hängenden Ohren in der Ecke seines Käfigs saß und trübselig und teilnahmlos ins Leere stierte.

»Das ist ja eine merkwürdige Versammlung hier«, dachte Hinnerk, und spähte zu den Katzenkäfigen hinüber, die weiter hofeinwärts lagen. Aber dort war alles still. Zusammengerollt lagen die meisten Katzen in den Ecken ihrer Käfige und taten, als ginge ihr Schicksal sie nichts an. Aber Hinnerk wußte, daß das Verstellung war, und wenn erst der Abend kam, würden auch sie ihre Stimmen erheben und ruhelos hinter den Drahtgittern hin- und herschleichen und eine Lücke suchen, um zu entfliehen.

»Ja, ja«, seufzte Hinnerk, »wir alle sind gefangen. Die Menschen machen mit unsereinem, was ihnen gefällt, und fragen nicht, ob es uns paßt. Wenn wenigstens noch ein paar Sandkörner in dieser elenden Kiste zu finden wären! Sand unterstützt so angenehm die Verdauung.«

Pickend klopfte er mit dem Schnabel auf die hölzernen Planken des Fußbodens.

»Tick tick tick!« kam von nebenan unvermutet Antwort.

»Ah!« rief Hinnerk. »Wer wohnt da neben mir, wenn man fragen darf?«

»Thinka!« antwortete die Stimme eines Huhns … »Thinka Fünfzeh.«

»Fünfzeh?« fragte Hinnerk verwundert. »Ordentliche Hühner pflegen vier Zehen zu haben.«

»Aber ich habe fünf, wenn Sie nichts dagegen haben! Und bin stolz darauf, jawohl!«

»Vielleicht ein Geburtsfehler?« fragte Hinnerk.

»Durchaus nicht. Ein Vorzug vielmehr, und zwar einer, der nur wenigen Hühnern zuteil wird. Mein Vater war ein Houdan, wenn es Sie interessiert, und die Houdans tragen fünf Zehen statt vier. Es gibt keinen in unserer Familie, der es nicht täte. Dazu einen doppelten Kamm und eine Haube. Schade, daß Sie meinen Vater nie erblickt haben. Er sah stattlich aus, kann ich Ihnen sagen. Sporen wie Dolche und ein Kleid –«

»Prahlen Sie nicht«, antwortete Hinnerk. »Hat er vielleicht mit dem Wiesel gekämpft? Oder ist er als Sonderpreis verkegelt worden? – Sehen Sie, da könnte ich Ihnen andere Geschichten erzählen! Ahnenstolz mag ganz schön sein, aber er paßt nicht in unsere Zeit, und man läuft Gefahr, sich damit lächerlich zu machen. Leisten Sie selber etwas, das ist gescheiter. Wieviel Eier legen Sie in der Woche, wenn man fragen darf?«

»Ich zähle sie nicht«, antwortete es von nebenan. »Ich lege, wenn es mir Spaß macht und sooft es mir Spaß macht. Ich meine, das ist genug. Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Hinnerk«, antwortete der Hahn.

»Aus welcher Familie?« fragte die Henne zurück.

Verdutzt schwieg Hinnerk einen Augenblick. Aber er wollte sich nicht lumpen lassen und sagte aufs Geratewohl: »Familie der Goldhälse«. Das klang wenigstens nach etwas, wenn es auch nichts war.

»So, so«, sagte die Henne. »Haben Sie das Gold am Halse oder drin?«

»Beides«, antwortete Hinnerk stolz. »Wenn Sie mich krähen gehört haben, werden Sie mir zugeben müssen, daß ich recht habe. Dazu bin ich in Worpswede geboren, und wenn mich mein Schicksal nicht in die Welt hinausgeführt hätte, wäre ich ohne Frage schon gemalt worden und auf ein Bild gekommen … Aber Sie kennen das Dorf nicht.«

»Ach, Sie sind vom Dorfe?« rief die Henne enttäuscht. »Na, da wundert mich ihre Art zu reden nicht sehr.«

»Was soll das heißen?« entrüstete sich Hinnerk. »Sie glauben wohl, weil eine Bretterwand zwischen uns ist, könnten Sie mir ungestraft Grobheiten sagen? Ich bin stolz darauf, ein Landkind zu sein, jawohl, und muß sagen, daß ich vor der Stadt hier auch nicht den mindesten Respekt habe. Es ist eine gottverlassene Gegend, wenn ich es rein heraussagen soll. Weder Wiesen noch Moor, weder Wald noch Heide, von Schweinekoben und Lehmdielen ganz zu schweigen. Nichts, auch gar nichts, was unsereinem Freude machen könnte. Dazu Verrat und Hinterlist auf allen Seiten. Ich danke. Und nun erst dieser Hofplatz hier mit seinem Stank, ja, mag der Teufel wissen, was es ist. Nur Tierärzte riechen so. Da ist mir ein Kuhstall auf dem Dorfe weit lieber, muß ich sagen, und wenn es auch nur ein Ziegenstall wäre.«

»So, so, na ja«, gab das Huhn nach und schwieg. Es war in einem Hofe in der Stadt aufgewachsen und hatte in seinem Leben nichts gesehen als Haus- und Bretterwände.

»Da können Sie wohl nicht mitreden?« fragte Hinnerk. »Sehen Sie! Nur immer vorsichtig mit Worten und Meinungen. Erzählen Sie mir lieber, wie Sie hierher gekommen sind!«

»Auf die unschuldigste Weise«, antwortete es von nebenan. »Es wurde mir mit der Zeit zu eng auf unserem Hofe. Darum flog ich über die Planke, jawohl.«

»Gut gemacht!« schrie Hinnerk. »Das imponiert mir! Sie hätten meine Lebensgefährtin werden sollen. Niemals bin ich einer Henne begegnet, die Mut genug gehabt hätte, mit mir in die Welt hinaus zu gehen. Alle, die ich kennen lernte, waren entweder zu bequem, zu feige oder zu träge. Wie schade, daß ich Sie nicht einmal sehen kann. Ich glaube, ich würde mich auf den ersten Blick sterblich in Sie verlieben! Wie sagten Sie doch, tragen Sie Kamm oder Haube?«

»Eine Haube!« antwortete das Huhn. »Ich sagte Ihnen doch, daß alle Houdans –«

»Schon recht!« unterbrach Hinnerk sie. »Ich war ein wenig unachtsam, verzeihen Sie. Natürlich eine Haube!«

»Ein Kamm wäre gewiß schöner, aber die Haube ist unser Familienwappen, und wenn man sie nur ein wenig in Ordnung hält –«

»Ganz recht«, sagte Hinnerk. »Schließlich kommt es darauf an, daß man keine Grütze im Kopf hat, mag Haube oder Kamm darauf sitzen.«

»Oh, was das betrifft«, antwortete das Huhn. »Schon meine Mutter pflegte zu meinen Geschwistern zu sagen: Die Thinka ist klüger als ihr alle zusammen! Und ich glaube, daß ich es bewiesen habe.«

»Womit?« fragte Hinnerk. »Blieben Sie in dem Nachbarhofe, als Sie bei ihrer Flucht über die Planke flogen?«

»Durchaus nicht«, sagte die Henne, »was denken Sie von mir? Einmal unterwegs kam es mir auf eine überflogene Planke mehr oder weniger nicht an.«

»Ha! Ausgezeichnet!« schrie Hinnerk und seine Augen funkelten.

»Ich nahm sozusagen ein Hindernis nach dem andern, kann ich wohl sagen«, fuhr die Henne fort, »bis ich auf die Straße gelangte!«

»Wie ich!« schrie Hinnerk begeistert und trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Genau wie ich!«

»Aber das war mein Verderben. Ich sage Ihnen, tausend Hände griffen nach mir. Die Menschen müssen es als ein unerhörtes Verbrechen betrachten, wenn unsereines ihre Straßen betritt. Alles Laufen, Flattern und Schreien nützte mir nichts. Ich geriet zuletzt völlig außer Atem, und mein Herz schlug so rasend schnell wie in den Tagen meiner allerersten Kindheit. Das schlimmste aber war, daß die Federn meiner Haube mir die Augen bedeckten. Es ist das einzige Mal gewesen, daß ich meine Haube verwünscht habe …«

»Oh!« rief Hinnerk, »ich habe das Glück, einen Kamm zu tragen, aber ich habe Ähnliches durchgemacht, kann ich Ihnen sagen.«

»Das Ende war, daß ich in einen Kellereingang geriet. Dort griff mich dann jemand, hart und rücksichtslos muß ich sagen – es wurde dunkel vor meinen Augen – – bis ich mich hier an diesem abscheulichen Orte wiederfand, eingesperrt wie ein Verbrecher. Oh, ich bin todunglücklich hier. Die Einsamkeit ist so schwer zu ertragen. Nur Hunde und Katzen zur Gesellschaft. Nachts ist es am schlimmsten. Man bekommt einfach keine Ruhe. Die große graue Katze da drüben schreit dann wie eine Besessene. Sowie es dunkel wird, geht es los damit. Sie ist ein wenig leidend, wie es scheint. Aber hat man darum das Recht, alle Anwesenden im Schlafe zu stören?«

Aufmerksam blickte Hinnerk nach den Käfigen der Katzen hinüber.

»Welche ist es denn?« fragte er.

»Die im letzten Käfig. Sehen Sie sie nicht? Sie reckt sich gerade und tut, als wenn über Nacht nichts Besonderes gewesen wäre.«

»Ach, die dunkelgrau getigerte dort«, fragte Hinnerk, »die sich jetzt gerade auf die Hinterpfoten setzt und zu uns herüberstarrt?«

»Ganz recht«, sagte die Henne. »Aber sehen Sie nicht zu lange hinüber. Sie könnte sich vielleicht etwas einbilden.«

»Guten Tag«, rief Hinnerk hinüber. »Heißen Sie vielleicht Mieze?«

Aber die Katze antwortete nicht.

»Da haben Sie es«, sagte das Huhn. »Bei Tage schweigt sie gegen jedermann. Aber lassen Sie es nur Abend werden.«

»Oh«, sagte Hinnerk, »ich kenne das. Zu Hause in Worpswede war eine Katze auf der Nachbarschaft, die mich oft genug mit ihrem Geschrei aus dem Schlafe geschreckt hat. Es klang, als würden ihr die Gedärme aus dem Leibe gerissen. Am anderen Morgen aber lief sie heil und gesund über den Hof. Man hatte ihr auch nicht ein Härchen gekrümmt. Man muß sich nicht täuschen lassen. Katzen haben nun einmal eine besondere Art, ihre Gefühle auszudrücken.«

Nein, die Henne hatte nicht übertrieben. Als es Abend geworden war und Hinnerk längst seinen Kopf unter den einen seiner Flügel gesteckt hatte und eingeschlafen war, begann ein Konzert, das auch einen schwereren Schläfer als Hinnerk geweckt hätte. Die Dogge heulte, der Jagdhund bellte, der Terrier kläffte und sämtliche Katzen begannen zu klagen und zu schreien, als hätte man sie auf glühende Kohlen gesetzt. Sogar ein Papagei, der im Vogelhause saß, war aufgewacht und schrie seine Vokabeln in den Lärm.

»Wacker! Wacker! Wacker! Kommt der Herr? Halt die Luft an, Jule! Herr Doktor, Herr Doktor! Sachte, Kinder, sachte! Redet doch keinen Stuß! Gute Nacht, Lisette!«

Es war ein Höllenlärm, und Hinnerk war nicht wenig froh, als endlich der Morgen graute und die Tiere still wurden. Aber jetzt hielt es Hinnerk nicht mehr. Mit einem schmetternden Kikeriki!, das weit über Höfe und Dächer hinklang, begrüßte er den aufsteigenden Tag.

Eine Stunde später kam der Wärter und fütterte die Tiere. Diesmal war sein Junge mit ihm, der neugierig von einem Zwinger zum anderen eilte, um die neu Eingelieferten zu betrachten, und die, mit denen er schon Freundschaft geschlossen hatte, zu streicheln.

»Der Jagdhund wird heute wohl befördert werden!« sagte sein Vater zu ihm, als sie vor den Käfig des Tieres getreten waren.

»Wie schade«, sagte der Kleine, der ganz gut wußte, daß »befördern« soviel wie töten hieß, ein Schicksal, dem zuletzt alle Tiere verfielen, wenn sich ihr Eigentümer nicht meldete, oder sich ein Käufer für sie nicht fand.

»Vielleicht kommt noch jemand, der ihn kauft«, sagte er mitleidig, öffnete die Tür ein wenig und streichelte ihn.

Sein Vater zuckte die Achseln. »Kann sein, kann auch nicht sein. Eigentlich ist er ja heute das Futter nicht mehr wert. Na, vielleicht ist es seine Gnadenmahlzeit. Wir wollen es nicht so genau nehmen damit. Friß nur, alter Hasenjäger.«

»Der Gockel da ist erst gestern eingeliefert«, erklärte der Wärter seinem Jungen. »Guck, er hat nur einen Kehllappen mehr. Aber ein stattlicher Kerl. Beine wie Roland … Ach, sieh da!« rief er, als er in den Käfig der Henne blickte. »Die junge Dame hat über Nacht ein Ei gelegt! So etwas! Nimm es heraus. Da, das kannst du Mutter mitnehmen.«

Die Augen des Jungen strahlten. »Und sie hat nicht einmal ein Nest in ihrem Käfig«, sagte er und steckte das Ei vorsichtig in die Tasche.

»Sie haben ein Ei gelegt?« fragte Hinnerk zärtlich, als die beiden gegangen waren.

»Mehr aus Schreck als aus Interesse!« antwortete die Henne. »Als der Jagdhund drüben so rasend zu bellen anfing, ist es mir weggerutscht. Ja, ja, man hat sich immer noch nicht genügend in der Gewalt«, setzte sie seufzend hinzu. »Von Rechts wegen hätte man ja an einer solchen Stelle wie hier einfach streiken sollen!«

Ein paar Stunden später kam der Wärter mit einem Herrn zurück, den er vor den Käfig der Henne führte.

»Natürlich«, rief er, »da haben wir sie ja! Gut, daß es noch ehrliche Leute gibt. Ich wollte mir erst gar nicht den Weg darum machen, aber dann sagte ich mir, nachfragen kannst du immerhin einmal. Das Tier ist nämlich wertvoller für meine Zucht, als Sie vielleicht glauben! Auf der nächsten großen Ausstellung im Herbst hoffe ich nämlich einen Preis auf die Henne zu bekommen, und ich glaubte schon, der ehrliche Finder habe ihr wohl schon den Hals umgedreht und sie in den Topf gesteckt.«

Die Tür im Käfig wurde geöffnet, der Wärter nahm die Henne heraus, und jetzt bekam Hinnerk seine Nachbarin zum erstenmal zu sehen. Ein schönes Tier, mit weißen und schwarzen Federn und einer dichten Haube auf dem Kopfe.

»Fassen Sie sie doch ein wenig behutsamer an!« rief er, als die Henne unter ängstlichem Geschrei in einen Tragkorb gesteckt wurde.

Aber niemand hörte auf ihn.

Alles war so schnell gegangen, daß er ihr nicht einmal Lebewohl hatte sagen können.

»Was bin ich schuldig?« fragte der fremde Herr.

»Gehen Sie bitte ins Büro«, antwortete der Wärter. »Außer dem Fundgeld und den Futterkosten haben Sie keine Verpflichtungen.«

Damit gingen sie davon, und Hinnerk überfiel eine lähmende Einsamkeit. Die Einzige, mit der er ein vernünftiges Wort hatte reden können, war ihm genommen.

Traurig ließ er den Kopf sinken. Was würde nur mit ihm werden? Ob auch der Viehhändler kam und nachsah, ob man ihn hier eingeliefert hatte und ihn wieder auf den engen Hofplatz hinter seinem Hause zurücktrug?

+++

Ja, Hinnerk hatte viel zu denken, zu fürchten und zu sorgen. Aber alles kam anders, als er es sich in seinen kühnsten Gedankenflügen hätte träumen lassen. Er hatte freilich immer geglaubt, zu großen Dingen geboren zu sein und schon viel erlebt zu haben, aber erst jetzt bekam sein Leben Schwung und Größe. Nicht einer hätte geglaubt, daß Hahnenflügel so hoch emporzutragen vermöchten!

Um es kurz zu sagen: Der Viehhändler hatte so wenig Vertrauen auf die Ehrlichkeit seiner Mitmenschen, daß nicht einmal eine Anfrage von ihm im Tierasyl einlief und Hinnerk nach Ablauf der Wartezeit schon für einen Braten auf dem Tisch des Wärters ausersehen war. Aber dann kam eines Morgens ein Herr in einem Automobil vorgefahren, musterte aufmerksam die Käfige der bereits zum Verkauf gestellten Tiere und entschied sich nach kurzem Besinnen, neben einer gefleckten Katze und dem Jagdhund, den man zu töten sich doch nicht hatte entschließen können, auch Hinnerk anzukaufen.

»Aber fett ist er nicht, muß ich Ihnen sagen«, erklärte der Wärter.

»Nein, das braucht er auch nicht zu sein«, lachte der Fremde, ein kleiner gutmütig dreinschauender Herr, der Hinnerk aufmerksam betrachtete. »Ich habe nicht vor, ihn zu essen, wissen Sie, und Hühnerzucht treibe ich auch nicht, wie Sie vermuten könnten. Es geht mir um ganz andere Dinge. Ein origineller Kerl, das muß man sagen«, setzte er anerkennend hinzu. »Aber er hat ja nur einen Bartlappen, wie ich jetzt sehe?«

»Den andern wird er wohl mal im Kampfe verloren haben«, meinte der Wärter. »Wer weiß, was so ein Bursche hinter sich hat. Er wird schon seinen Mann gestanden haben.«

»Den Eindruck macht er!« bestätigte der Fremde lachend.

Er ließ Hinnerk in einen mitgebrachten Tragkorb sperren und ihn mit der Katze, die er in einen Sack gesteckt hatte, in das Automobil tragen, das vor der Einfahrt wartete. Den Hund hatte er an eine Leine genommen und führte ihn selber.

Herzklopfend und ängstlich hörte Hinnerk den Motor anspringen.

»Wissen Sie, was dies alles zu bedeuten hat?« fragte er durch das Flechtwerk des Korbes seine Leidensgenossen.

Aber die wußten es wohl ebensowenig wie er. Jedenfalls antworteten sie nicht.

Nach einer Viertelstunde rascher Fahrt sah er sich wieder aus dem Wagen herausgenommen und in einen halbdunkeln großen Raum getragen, aus dem ihm ein Geruch von Pferden entgegenschlug, in den sich ein durchdringender Raubtiergeruch mischte. Tier- und Menschenstimmen schlugen an sein Ohr, und noch ganz verdattert von dem plötzlichen Wechsel, fühlte er sich bei den Flügeln gepackt und von neuem in einen noch engeren Käfig gesteckt, als er ihn im Asyl innegehabt hatte. Zu seinem Entsetzen aber wurde auch die Katze zu ihm hineingesteckt.

»Seht ihr wohl, so!« sagte der kleine Herr mit dem großen Kopfe, der die Tiere gekauft hatte und nun auch den Hund neben Hinnerks Stall ankettete. »Erst müßt ihr euch mal ein wenig aneinander gewöhnen und darum bringe ich euch in so enger Gesellschaft unter. Freundet euch ein wenig untereinander an, wenn es euch gefällig ist, meine Guten! Und damit ihr gleich vollzählig seid, habe ich auch den Esel hier neben euch untergebracht!«

Aber Hinnerk hatte noch keine Zeit, sich um seine Umgebung und Nachbarschaft zu bekümmern. »Kommen Sie mir bitte nicht zu nahe«, sagte er zu der Katze, die mit gleißenden Augen in der Ecke saß, und sträubte feindselig die Halsfedern. »Ich bin ein friedlicher Mann, aber ich habe bewiesen, daß ich mich zu verteidigen verstehe, wenn es darauf ankommt …«

»Regen Sie sich nicht unnötig auf«, antwortete die Katze und sah mißtrauisch auf den Jagdhund, der schnuppernd die Nase erhoben hatte und in den Käfig der beiden hineinroch. »Beriechen Sie sich selber, wenn es keinen Streit zwischen uns geben soll«, rief sie dem Hunde zu, und machte einen Buckel, legte die Ohren zurück und hob den Schwanz in die Höhe.

»Alter Dachhase!« sagte der Hund, zeigte die Zähne und begann feindselig zu knurren. »Gut, daß ein Gitter zwischen uns ist, sonst könnten Sie einmal meine Zähne kennenlernen.«

»Und Sie meine Krallen!« antwortete die Katze furchtlos. »Es würde mir ein Vergnügen sein, Sie damit bekannt zu machen.«

»Ruhe, Ruhe!« sagte der kleine Herr begütigend und streichelte dem Hund den Kopf. »Wenn ihr euch erst ein wenig kennengelernt habt, werdet ihr euch schon vertragen.«

»Hören Sie, Mister Dick«, sagte ein Clown, der eben aus der Manege kam, »was haben Sie sich denn da für eine Menagerie zusammengeholt? Wollen Sie mit den Viechern zusammen auftreten?«

»Wollen sehen, wollen sehen!« antwortete der kleine Herr und rieb sich in der Vorfreude auf das, was er sich vorgenommen hatte, lachend die Hände.

»Und was für eine Nummer wollen Sie daraus machen?« fragte ein Zweiter, der hinzu trat.

»Abwarten und Tee trinken!« antwortete Mister Dick, kniff die Augen zusammen und lächelte von neuem.

»Esel, Katze und Hund und Hahn? Da hätten wir ja die Bremer Stadtmusikanten zusammen?«

»Eben das sollen die Tiere werden!« rief Mister Dick. »Eine Nummer, wie sie noch in keinem Zirkus gezeigt worden ist!«

»Sie sind ja ein feiner Kerl, Mister Dick«, rief ein Dritter, der zu den vorigen getreten war, »und Ihre Idee ist ausgezeichnet und könnte Ihnen einen Erfolg bringen. Aber eine Katze dressieren Sie ihr Lebtag nicht!«

»Und einen Hahn erst!« rief ein Vierter. »Es gibt nichts Dümmeres!«

»Vielleicht macht dieser eine Ausnahme«, sagte Mister Dick und lachte. »Er sah mir ein wenig darnach aus … Man muß es probieren. Was hat man nicht schon alles dressiert! Tiere, an die früher niemals ein Mensch gedacht hätte! Jedenfalls, wenn es ginge, wäre es prächtig. Ich habe mir die Nummer sehr schön gedacht.«

»Wie denn?« wurde er gefragt.

»Meine Sache!« antwortete Mister Dick abweisend.

»Na ja, gut. Wir wollen nicht in Ihre Geheimnisse dringen, und Sorge, daß Ihnen einer die Nummer wegnimmt, brauchen Sie auch nicht zu haben. Daran vergreift sich so leicht keiner.«

Lachend stimmten ihm die anderen zu.

»Platz, Platz«, schrien die Stallknechte, und die Gruppe trat eilig auseinander. Almansor, das Springpferd, stob den Gang zwischen den Ställen herauf, ein Apfelschimmel von bestechender Schönheit und prächtig aufgezäumt, der zur Probe in die Manege hinausstürmte.

Hinnerk war über die unverhoffte Erscheinung ein solcher Schreck in die Glieder gefahren, daß er aufflatternd mit dem Kopf an das Gitter stieß, sich den Kamm daran wund riß und verwirrt auf dem Rücken der Katze wieder landete, die sich in ihre Ecke gekauert hatte.

»Entschuldigen Sie«, sagte er höflich, als das Pferd vorüber war und er sich ein wenig beruhigt hatte.

»Benehmen Sie sich, bitte!« fauchte die Katze gekränkt. »Wenn Ihre Krallen auch nicht so scharf sind wie die meinen, so spürt man sie doch. Oder waren es ihre Sporen, mit denen Sie mir ins Gesicht gefahren sind?«

»Es ist möglich«, stotterte Hinnerk, »es verwirrte mich so. Einem einen solchen Schrecken einzujagen! Auch bin ich nicht gewöhnt, mit Ihresgleichen zusammen zu wohnen. Ich werde in Zukunft jede Rücksicht nehmen, verlassen Sie sich darauf.«

»Das bitte ich mir auch aus«, antwortete die Katze vergrämt und feindselig.

»So ist es recht, Kinder!« rief Mister Dick, der wieder vor den Käfig getreten war und seine Tiere betrachtete. »Freundet euch ein wenig miteinander an! Ihr werdet noch manche Stunde zusammen arbeiten müssen, und da ist es gut, wenn ihr euch schon ein wenig kennen lernt, ehe wir mit dem Unterricht beginnen.«

Ja, es war ein merkwürdiger Tag für die drei Tiere und ein merkwürdiger Ort, aufregend und unruhig in jeder Weise, und Hinnerk war froh, als es endlich zu dämmern begann und er sich nach dem Abendfutter in seine Ecke setzen und einschlafen konnte. Eine Stange gab es ja in dieser elenden Kiste nicht, in die er vorläufig gesperrt worden war, so sehnsüchtig gern er auch eine unter den Füßen gehabt hätte.

Aber kaum war er eingeschlafen, weckten ihn schon neue ungewohnte Geräusche wieder auf.

Verstört blickte er um sich. Zwei riesige elektrische Kuppeln warfen zischend ein taghelles Licht in seinen Käfig, Menschen eilten vorbei, Pferde stampften, schon gesattelt und aufgezäumt, in ihren Ständen, und schauerlich drang das dumpfe Gebrüll einer Löwengruppe in Hinnerks Ohren. Dazwischen liefen Kunstreiter in buntfarbigen Trikots vorüber, tänzelte die Seiltänzerin, schon fertig für die Vorstellung angezogen und geschminkt, in ihrem rosaseidenen Mieder vorüber, ein kurzes Flatterröckchen um die schmalen Hüften, das mit schimmernden Glasperlen besetzt war, einen Sonnenschirm über der Schulter, der ihr ein wenig half, auf dem hochgespannten Drahtseil im Gleichgewicht zu bleiben.

Am unruhigsten aber machte Hinnerk das grelle Licht, das von den Bogenlampen herab in seinen Käfig fiel. War es denn schon Tag und schienen in dieser unruhigen Welt vier Sonnen statt einer?

»Was trippeln Sie denn immer umher?« fragte ihn die Katze übellaunig. »Man wird ja nervös davon. Sie sehen doch, daß Sie nicht hinaus und davon können.«

»Ich danke für die Belehrung«, sagte Hinnerk. »Es ist das Licht, das mich so unruhig macht.«

»Ach, reden Sie nicht«, unterbrach ihn die Katze. »Das Licht ist mir viel unangenehmer als Ihnen. Wenn es nach mir ginge, wäre hier dunkelste Nacht. Ich würde besser sehen als so. Aber machen Sie es wie ich und kneifen Sie Ihre Pupillen zu. Der schmalste Spalt im Auge genügt völlig.«

»Da müßte ich schon Katzenaugen haben«, sagte Hinnerk verdrießlich.

Nun trat Mister Dick vor den Käfig. Aber er war nicht wiederzuerkennen und erschreckt wichen die Tiere vor ihm in die hinterste Ecke ihres Käfigs zurück. Sein Gesicht war mit bunter und weißer Schminke bedeckt. Ein paar schwarze Striche ließen seinen Mund noch mal so breit erscheinen. Ein paar grellrote Flecke auf den Wangen und auf der Stirne entstellten sein Gesicht vollends zu einer Lachen erregenden Fratze. Ein schwarzes Hütchen auf dem Kopfe, den Körper mit einem weiß und rot gewürfelten Pludergewand bekleidet, hätte ihn auch einer seiner Bekannten nicht wiedererkannt.

»Ah, da seid ihr ja! Komm, mein Kätzchen, komm … laß dir das Köpfchen kraulen. Pfui, wer wird denn einen Buckel machen! Hübsch brav sein! Und da bist du ja auch, alter Ritter vom siebenzackigen Kamm! Habt ihr euch schon ein wenig eingewöhnt, wie?«

Wedelnd stand der Jagdhund, der ihn trotz der Schminke und der veränderten Kleidung wiedererkannte, neben ihm und ließ sich den Kopf streicheln. Nur der Esel stand teilnahmlos auf seiner Streu und ließ, vor sich hindösend, den Kopf hängen.

»›Packan‹ sollst du heißen, mein kluger Kerl!« rief Mister Dick und beugte sich zu dem Hund hinab. »Packan! Merk dir den Namen, hörst du? Wie du auch bisher geheißen haben magst. Packan ist ein veralteter Name, jawohl. Aber im Märchen heißt der Hund so. Da ist nichts zu machen. Herrchen geht jetzt in die Manege Kopf stehen und Saltos machen, damit das verehrte Publikum in den Pausen seine Unterhaltung und etwas zu lachen hat. Wie? Ihr wißt nicht, was ein Salto ist? Lernt ihr alles noch, nur Geduld, Geduld! Es kommt alles nach der Reihe dran. Bremer Stadtmusikanten müssen auch solche Dinge verstehen!«

Er winkte den Tieren noch einmal zu, als seien es Kinder, und lief dann auf seinen kurzen Beinen den Gang hinunter und in den Zirkus hinaus, aus dem die Musik des Orchesters in verlorenen Wellen bis in den Marstall herüberdrang.

Mit der Unruhe vor dem Käfig der Tiere aber wurde es jetzt mit jeder Minute schlimmer. Stallknechte in bunten Livreen liefen vorüber, Pferde wurden aus ihren Ständen heraus- und von den Reitknechten vorbeigeführt. Fiebernd vor Unruhe traten sie von einem Fuß auf den andern, scharrten in der Sägespäne, welche die Gänge bedeckte, knirschten aufgeregt in die Beißzangen ihres Kopfgeschirrs und peitschten sich mit den Schweifen die Seiten, als würden sie von Bremsen geplagt, Clowns eilten in die Manege hinaus oder liefen zu den Garderoberäumen zurück, um sich für eine neue Nummer umzukleiden, und zierliche kleine Ponys trabten vorüber und schlugen mutwillig und bockig mit den Hinterhufen aus. Es war ein einziges Hin und Her, ein Kommen und Gehen, Laufen und Springen, Rufen und Fluchen, Schelten und Zureden, daß dem armen Hinnerk darüber ganz schwindlig wurde.

»So fliegen Sie doch nicht immerfort am Gitter auf!« schalt die Katze. »Drehen Sie sich doch einfach um und stecken Sie den Kopf in die Ecke! So! Endlich! Da sehen Sie wenigstens nichts von dem Durcheinander da draußen.«

Ja, das war ein Rat, der nicht zu verachten war, und es war gut, daß er noch zur rechten Zeit kam. Denn hätte Hinnerk noch den Wagen voll Affen zu sehen bekommen, der gleich nachdem an seinem Käfig vorbei zur Manege hinausgefahren wurde, und in die griesgrämigen Gesichter der Vierhänder gesehen, die in bunte Kleidchen gesteckt auf dem Wagen hockten und jedem die Zähne zeigten, der ihnen nahekam, oder gar Maharadja, den schneeweißen in Freiheit dressierten Araberhengst, der mit einer roten Federquaste auf dem klugen feinnervigen Kopfe jetzt den Gang hinunterstürmte, daß die Sägespäne unter seinen Hufen bis in Hinnerks Käfig flog – er hätte sich vor sinnloser Angst gewiß den Kopf an der Decke des Käfigs eingestoßen.

Schmetternde Trompetenstöße empfingen den Hengst draußen in der Manege, wo er vom Direktor vorgeführt, eine Glanznummer des Programms bildete.

Verdattert stand Hinnerk noch immer in seinem Käfig, den Kopf in die Ecke gedrückt. Als er aber merkte, daß ihn niemand belästigte und das ganze Gewitter an Licht, Unruhe und Lärm da draußen völlig ungefährlich blieb, erholte er sich langsam von seinem Schreck, und nach einer Stunde war er so weit, daß er mit einem schmetternden Kikeriki! in den Chor der Geräusche einstimmte.

»Ausgezeichnet gekräht, alter Junge!« rief Mister Dick, der für einige Zeit unbeschäftigt war und die Pause benutzte, um noch einmal nach seinen Tieren zu sehen. »Wenn du es erst gelernt hast, auf Befehl zu krähen und auf der Katze zu reiten, bin ich ein gemachter Mann. Das Publikum wird ja vor Vergnügen kreischen, wenn es euch vier in der Manege sieht! – Wie nenne ich dich denn, mein Hähnchen? Sag doch, wie du heißt!«

Vorsichtig fuhr er mit der Hand in den Käfig, um Hinnerk an seine Berührung zu gewöhnen.

»Hick – hick – hick!« stotterte Hinnerk ängstlich und wich vor der Hand zurück.

»Hickhickhick? Das ist doch kein Name. Sagen wir lieber Hinnerk«, lachte Mister Dick, ohne zu ahnen, daß er den richtigen Namen des Hahns damit getroffen hatte. »Siehst du, das ist ein Name für einen alten Bauerngockel, wie du einer bist!«

Aber er hatte schon zu viel Zeit mit den Tieren verplaudert und eilig schloß er den Käfig wieder und rannte davon.

Erst Stunden hinterher wurde es in dem großen Zeltstall ruhiger. Die Vorstellung im Zirkus war beendet, alle Tiere an ihre Plätze zurückgebracht und die Nachtfütterung vorbei. Jetzt erlosch auch das blendende Licht der Bogenlampen. Nur einige Glühlampen in den Gängen blieben brennen und warfen ein trübes Licht in die stillgewordenen Gänge zwischen den Ställen, und nur das Scharren der Pferde, das Rasseln ihrer Halfterketten und das entfernte Gebrüll der Löwen, die in einem benachbarten Zelt untergebracht waren, unterbrach zuweilen die Stille.

Da steckte auch Hinnerk endlich entschlossen den Kopf unter den Flügel. Nur sein großer, leuchtend roter Kamm ragte aus den Federn hervor.

+++

Schon am andern Morgen begann die Dressur.

Futter gab es nicht, mochte Hinnerk seinen Hals auch noch so verlangend nach der Haferkiste recken, aus der die Pferde gefüttert wurden.

Was das nur für eine Art und Weise war! Sollte er vielleicht hinter seinem Gitter langsam verhungern? Wenn man ihn hier wie einen Verbrecher hinter Schloß und Riegel hielt, hatte man auch die Verpflichtung, für sein leibliches Wohl zu sorgen, zum Kuckuck noch mal! Wo steckte nur dieser dickköpfige Bursche, der ihn hierher gebracht und mit der vergrämten alten Katze zusammen eingesperrt hatte! Ein schöner Langschläfer! Bis es ihm gefällig war, in Erscheinung zu treten, konnte man wirklich alt und grau werden.

Ärgerlich und nach alter Gewohnheit begann er auf dem hölzernen Fußboden der alten Kiste zu scharren, gab es aber ein wenig beschämt sofort wieder auf und blickte trübselig den Gang hinab, ob es nicht einem der Stallburschen einfiel, ihm eine Hand voll Hafer zuzuwerfen. Aber da war nicht einer, der Miene dazu machte.

»Haben Sie nicht gut geschlafen?« fragte ihn die Katze, die zusammengerollt in ihrer Ecke gelegen hatte und nun ihren Buckel streckte.

»Ich habe Hunger«, erwiderte Hinnerk, »wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Im Gegenteil«, antwortete die Katze und gähnte. »Ich wünsche Ihnen einen Appetit, der selbst die Holzfasern auf dem Fußboden dieser alten Kiste nicht verschont.«

»Danke«, sagte Hinnerk gereizt. »Die überlasse ich Ihnen.«

»Sehr freundlich«, entgegnete die Katze. »Ich sehe, Sie gönnen mir alles Gute! Das beste ist, daß Sie davon nicht satter werden.«

»Eine angenehme Nachbarin!« dachte Hinnerk grollend und schwieg.

Aber die Katze schien in der angenehmsten Laune. Sie setzte sich auf die Hinterpfoten und begann sich mit aller Sorgfalt zu putzen, wusch sich das Gesicht mit der Pfote und begann dann ihre Seiten und den Buckel mit der Zunge zu bearbeiten.

»Wollen Sie nicht auch Ihre Federn ein wenig ordnen?« fragte sie.

»Kümmern Sie sich um Ihren Pelz«, antwortete Hinnerk noch immer böse. »Was mich betrifft, so ist mir meine Zunge zu schade dafür, mir den Schmutz abzulecken.«

»Dann laufen Sie meinetwegen so dreckig herum, wie Sie sind!« entgegnete die Katze und fuhr gleichmütig in ihrer Beschäftigung fort.

Endlich kam Mister Dick, heiter und frisch vom Schlafe, begrüßte seine Tiere und nahm erst die Katze, dann auch den Hahn aus dem Käfig und trug beide in seinen Wohnwagen hinaus, der unter vielen anderen neben den Zelten stand.

Drinnen war es wohnlich wie in einer wohlgeordneten kleinen Stube. Ein Klapptisch, Koffer, Stühle, mit kleinen weißen Gardinen verhängte Fenster, ein paar Wandschränke – man konnte meinen, in einem kleinen Hotelzimmer zu sein. Aber dafür hatten die Tiere weder Auge noch Verständnis.

»Up!« begann Mister Dick den Unterricht und legte ein Stückchen von einem kalten Braten auf einen Holzschemel, den er in die Mitte gerückt hatte.

Aber die Tiere verstanden durchaus nicht, was er mit seinem Zuruf wollte. Doch Meister Dick hatte Geduld, unendliche Geduld.

Die Katze, ebenso hungrig wie Hinnerk, hatte das Stück Fleisch sofort gewittert und reckte sich, es vom Schemel zu nehmen. Aber das litt Mister Dick nicht.

»Up, Kathrine!« ermunterte er, und als die Katze nun, ohne zu erkennen, was Mister Dick von ihr wollte, mit einem Satz ihrer geschmeidigen Glieder auf den Sessel sprang, bekam sie nicht nur das Stückchen Fleisch, sondern eine Liebkosung obendrein.

»Down!« rief Mister Dick und drängte sie sanft an die Seite, daß sie wieder auf den Fußboden sprang.

So ging es eine halbe Stunde lang, unausgesetzt: »Up! Down!« Immer im gleichen Wechsel.

Mißtrauisch stand Hinnerk in der Ecke, bis er, ein wenig zutraulicher geworden, der Katze das Stückchen Fleisch unversehens vor dem Maule wegnahm. »Ich bin so frei«, sagte er. Weg war es.

Verdutzt sah die Katze ihn an.

»Unverschämtheit!« sagte sie, machte einen Buckel und fauchte.

»Mit Verlaub, ich bin genau so hungrig wie Sie!« entgegnete Hinnerk, sträubte die Halsfedern und senkte feindselig den Kopf.

»Keinen Streit, Kinder! Keinen Streit!« rief Mister Dick und schob die Tiere auseinander. »Hinnerk, mein Hähnchen, geh ein wenig an die Seite, hörst du? Nur nicht drängeln! Es kommt jeder dran!«

Zuletzt war die Katze trotz des abwechselnden »Up!« und »Down!« und der mageren kleinen Bissen satt geworden und die Befehle Mister Dicks waren ihr so gleichgültig geworden wie irgend etwas. Er mochte rufen, soviel er wollte, sie hörte einfach nicht darauf.

Gut. Sie durfte sich für heute auf den nächsten Stuhl setzen und zusehen, was mit Hinnerk geschah. Das war weit gemütlicher, als für jedes Stückchen Fleisch einen Sprung machen zu müssen.

Auch für Hinnerk gab es ein paar Bratenstückchen, dazu Weizenkörner, glänzende, goldgelbe Weizenkörner, aber im übrigen war es dasselbe wie bei Kathrine der Katze: »Up! Down!« Und als Hinnerk seinen langen Hals emporreckte, um das nächste Korn einfach vom Schemel zu nehmen, statt hinauf zu springen, war Mister Dick unverschämt genug, die Platte des Sessels auf ihrem Gewinde so viel höher hinaufzuschrauben, daß Hinnerk wohl noch etwas hinaufzuschielen vermochte, das Weizenkorn aber mit dem Schnabel nicht mehr zu erreichen vermochte. Er mußte sich wohl oder übel bequemen, hinaufzuspringen, da half ihm nun alles nichts. Aber kaum war er oben und hatte das Korn aufgepickt, fiel bereits wieder eines auf den Fußboden. »Down!« schrie Mister Dick.

Auch Hinnerk war der Meinung, daß der gute Mister Dick sein »Up!« und »Down!« allein zu seinem eigenen Vergnügen riefe, und als er satt geworden war, machte er es genau so wie die Katze, flog auf die Lehne des nächsten Stuhles, begann sich die Federn zu ordnen und ließ Mister Dick einen guten Mann sein.

So ging es Tage und Wochen. Mister Dick wurde nicht ungeduldig. Die beiden Tiere hatten sich völlig an ihn gewöhnt und freuten sich, wenn er an ihr Käfiggitter trat. Immer hatte er eine kleine Leckerei für sie in der Tasche. Sie wußten es zuletzt nicht anders mehr. Mister Dicks Erscheinen bedeutete immer etwas Gutes für sie. Zum mindesten eine Liebkosung, für die nur Hinnerk nicht so empfänglich war wie die anderen.

Hund und Esel bekamen ihre Lektionen vorerst noch allein. Als aber Kathrine eines Tages so weit war, daß sie auf Befehl, wenn auch von der Hand Mister Dicks gelockt, auf den Schemel sprang, brachte Mister Dick am nächsten Morgen auch den Jagdhund mit in den Dressurraum.

Was die Katze betraf, so legte sie keinerlei Wert auf die Bereicherung ihrer Gesellschaft und weigerte sich entschieden, dem Jagdhund nur nahe zu kommen, geschweige denn, ihm auf den Buckel zu springen, und es dauerte lange, bis sie es eines Tages, von Hunger getrieben und einem ansehnlichen Brocken Fleisch verführt, doch endlich tat.

»Na na na«, sagte der Jagdhund ungemütlich und schnappte mit der Schnauze nach ihr. Das ging denn doch wirklich ein wenig zu weit! Aber Mister Dick schob ihm sofort zur Belohnung ein Stück Fleisch hin, hielt ihn am Halsband und tätschelte seinen Kopf.

»Machen Sie, daß Sie mir vom Buckel herunterkommen!« knurrte er. »Sie sind ein widerliches Vieh in meinen Augen.«

»Es schmeckt ganz gut hier auf Ihrem Rücken«, verhöhnte ihn die Katze und kaute bedächtig ihr Bratenstückchen.

So ging es wiederum wochenlang. Zuweilen hatte die Katze am anderen Tage alles wieder vergessen, was sie gelernt hatte und Mister Dick mußte von neuem beginnen.

Mutlos ließ er eines Tages die Arme sinken. Die Katze war diesmal besonders widerwillig und böse und der gute Hinnerk begriffsstutziger als jemals. Nur der Hund machte seine Sache gut und murrte auch nicht mehr, wenn ihm die Katze auf den Buckel sprang.

Da guckte der Herr Direktor in den Wagen. »Na, Mister Dick, wie weit sind Sie denn mit Ihren Bremer Stadtmusikanten?«

»Oh«, sagte Mister Dick, »man darf nicht ungeduldig werden, sehen Sie!« kniff die Augen zusammen und zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich warte sehnlich auf Ihre Nummer, kann ich wohl sagen. Wenn sie gelingt, kann es ein großer Erfolg werden.«

Und Mister Dick übte weiter.

Der Zirkus reiste unterdes, fuhr von Bremen nach Hamburg, von Hamburg nach Duisburg, von Duisburg nach Köln, spielte in Amsterdam und Brüste!, kehrte nach Deutschland zurück, rollte nach dem Süden und nach dem Osten …

Endlich konnte Mister Dick es wagen, seine Tiere zum erstenmal in die Manege zu führen. Es wurde Zeit, den Esel mit in Dressur zu nehmen.

Er hatte alle vier Tiere an der Leine. Hund und Katze hatte er die Leine am Halsband befestigt, dem Esel am Kopfgeschirr, und Hinnerk hatte er sie an eines seiner Beine geknüpft, damit er im Besitz seiner Freiheit nicht plötzlich auf die Zuschauerbänke flatterte.

Gespannt sah das Personal, das nicht gerade beschäftigt war, der Probe zu. Aber es ging besser, als man im stillen angenommen hatte. Der Hund hatte es inzwischen längst gelernt, auf dem Rücken des Esels zu hocken, anfänglich auf einem flachen Sattel, der später weggenommen worden war, und sprang auf das »Up!« Mister Dicks dem Esel so sicher auf den Rücken, daß er sich auch durch die Bewegungen des trabenden Tieres unter ihm nicht abwerfen ließ.

Auch die Katze tat, was sie schuldig war. Aber die Höhe war zu groß, um in einem einzigen Sprung bewältigt zu werden. Sie mußte ihre Krallen zu Hilfe nehmen, so daß der Esel hinten ausschlug und im nächsten Augenblick der Hund aufheulte, als hätte man ihn mit einem glühenden Eisen versengt.

Aber am schwersten war es, Hinnerk zu bewegen, seinerseits nun der Katze auf den Buckel zu steigen. Hundertmal hatte er es üben müssen, wenn die Katze vor ihm stand. Aber in der Manege war ihm alles fremd und die Katze thronte so hoch über ihm, daß er kopflos hin- und herrannte und augenscheinlich nicht wußte, was man von ihm erwartete. Aufgeregt zerrte und flatterte er an der Leine, bis ihn Mister Dick für eine Weile unter seine Jacke steckte und ihn zuletzt kurzerhand der Katze auf den Rücken setzte. Kaum stand er oben, als er mit den Flügeln schlagend ein kräftiges Kikeriki in den Zirkusraum schickte.

Der Direktor klatschte vor Vergnügen in die Hände und die Reitknechte lachten, als würden sie geschüttelt.

Mister Dick war der Held des Tages.

Glaubt aber nicht, daß seine Arbeit mit dem Erreichten zu Ende gewesen wäre! Es ging noch wochenlang so weiter, monatelang. An jedem Tage war Probe – bis Mister Dick eines Tages sagen konnte: »So, ich wäre so weit!« und für den nächsten Morgen die Hauptprobe ansetzen konnte.

Um Hinnerk noch stattlicher erscheinen zu lassen, hatte er ihm aus rotem Glanzleder einen großen Kamm genäht, den er ihm vor dem Auftreten über den Kopf zog. Dazu klammerte er ihm jedesmal ein paar besonders lange Sichelfedern am Schwanze fest, deren Spitzen bis in den Sand der Manege hinabhingen, wenn Hinnerk damit auftrat.

So waren die letzten Vorbereitungen für Hinnerks öffentliches Auftreten erledigt und selbst von den entferntesten Bänken in den Reihen der Zuschauer sah er so stattlich aus, daß jeder Ah! rufen mußte, der ihn erblickte.

Am andern Morgen bekam Mister Dick für die Generalprobe mit seinen Tieren zehn Minuten in der Manege. Der Direktor war da und der größte Teil des Personals. Die Tiere sollten beweisen, daß sie sich auch durch den Anblick vieler Menschen nicht stören ließen und daran gewöhnt waren, ihre Nummer wie sonst abzuwickeln.

Eben hatte der Löwenbändiger seine tägliche Probe beendet. Aber die Tiere waren heute besonders störrisch und gereizt gewesen. Besonders bei der einen der beiden Löwinnen hatten Peitsche und Gabel gebraucht werden müssen. Nervös und verärgert war der Dompteur aus dem Käfig gekommen und behauptete nun, daß die große Tigerdogge, die er jedesmal mit in den Käfig nahm, ständig Mister Dicks Hund in der Nase gehabt hätte und durch ihre Unaufmerksamkeit die Löwen nur erst recht verwirrt gemacht habe. Mister Dick solle in Zukunft gefälligst mit seinen Tieren so lange im Marstall bleiben, bis er mit seiner Nummer zu Ende sei.

Mister Dick, der mit seinen Bremer Stadtmusikanten bescheiden am Eingange gewartet hatte, entgegnete, daß er das Programm nicht gemacht, und wenn die Direktion es so angeordnet habe, daß er gleich nach der Raubtiernummer seine Tiere vorführen solle, würde sie schon ihre Gründe dafür gehabt haben.

Kurz, es gab einen Wortwechsel. Als aber der Direktor, der eben vorher für ein paar Augenblicke abgerufen worden war, zurückkehrte und von der Geschichte hörte, bekam der Dompteur recht und Mister Dick wurde ein ausgekochter Dummkopf genannt, daß er nicht allein soviel Vernunft bewiesen habe. Um nun für den Abend jede Störung zu vermeiden, wurde eine Zwischennummer eingelegt: Alkibiades, ein Springpferd, das über eine mannshohe Hürde hinwegsetzte und von der Tochter des Direktors geritten wurde.

Soweit war alles in Ordnung, Mister Dick hatte sich zu fügen und abermals zu warten. Gut, es konnte ihm gleich sein. Aber geärgert hatte er sich doch, und die Tiere mit ihrer feinen Witterung empfanden, daß er weniger freundlich zu ihnen war als sonst. Er hatte den Zugang zur Manege wieder zu räumen und war eben wieder mit seinen Tieren im Marstall, als er aus der Manege einen Schreckensruf vernahm. Lydia, die sechzehnjährige Tochter des Direktors, eine durchaus sichere Reiterin und von Kindesbeinen an mit ihren Pferden verwachsen, war bei dem ersten Sprung, den Alkibiades heute unter ihr getan hatte, gestürzt … Alles lief durcheinander, und während das herrenlose Pferd unbeachtet wieder in den Marstall galoppierte, wo es, von einem der Stallburschen angehalten, mit schnaubenden Nüstern zum Stehen kam, trug man Lydia bereits an Mister Dick vorbei in ihre Garderobe hinüber.

Niemand konnte sich erklären, wie das Unglück hatte geschehen können. War Alkibiades heute unachtsamer gewesen als sonst oder hatte Fräulein Lydia ihn nicht sicher genug in den Zügel genommen? Aber nach einer Viertelstunde kam der Direktor aus der Garderobe zurück, bleich noch, aber doch einigermaßen beruhigt. Der herbeigerufene Arzt hatte festgestellt, daß Fräulein Lydia keinen innerlichen Schaden genommen und sich nur den Fuß verrenkt habe, so daß die vorhin eingetretene Ohnmacht wohl nur durch den Schmerz hervorgerufen war und nichts Ernstes zu bedeuten hatte. Ärgerlich blieb nur, daß sie nun auf Wochen hinaus nicht auftreten konnte und eine andere Nummer eingelegt werden mußte. Denn schließlich hätte der Direktor Alkibiades selber wohl vorführen können, er war aber reichlich schwer im Gewicht für die hohen Sprünge des Pferdes, und es würde nicht halb so viel Eindruck machen, als wenn der Hengst unter einer jungen Dame über die Hürden setzte. Nein, da war es schon besser, eine andere Nummer ins Programm aufzunehmen. Er entschied sich für die Japaner, die gestern eigentlich schon zuletzt aufgetreten waren und denen er nun wohl oder übel den Vertrag noch einmal verlängern mußte.

Da traten sie auch schon fix und fertig zur Probe an: der Vater, der auf dem Rücken liegend den sechsjährigen Kleinen wie einen Ball auf seinen Fußsohlen herumwirbelte, bis seine Frau, die dasselbe mit einer großen hohlen Kugel tat, den Jungen auffing und sie sich nun wechselseitig den Kleinen zuwarfen, als handele es sich um ein Paket, einen Fußball oder eine Lederpuppe.

Aber endlich hatten auch sie ihre Nummer erledigt und Mister Dick war an der Reihe. An einem solchen Unglücksmorgen! Daß etwas schiefgehen würde, schien ihm sicher. Er war genau so abergläubisch wie alle Zirkusleute.

Mit einer nervösen Falte auf der Stirne sah der Direktor zu, wie er mit seinen Tieren in die Manege trottete. Er saß dabei auf dem Esel, den er so abgerichtet hatte, daß er auf einen Druck seiner Schenkel hin gleich beim Einlauf in die Manege so heftige Bocksprünge vollführte, daß Mister Dick, rund wie ein Gummiball, kopfüber in den Sand flog und zum Schein ein klägliches Geheul und Gezappel begann, was den Esel natürlich nicht im mindesten störte, der vielmehr umzukehren und den Hund abzuholen hatte, der mit Katze und Hahn hinter der Piste gewartet hatte. Gemeinsam umkreisten Hund und Esel dann nebeneinander die Manege, holten darauf die Katze und bei der letzten Runde auch den Hahn ab, worauf sie alle vier, nebeneinander und einträchtig wie im Märchen, das Sandrondell umschritten. Mittlerweile hatte sich dann Mister Dick wieder aufgerappelt und ging auf die Tiere zu.

»Na?« schrie er dann. »Wo kommt ihr denn her?« Worauf die Tiere stehen zu bleiben hatten. »Ihr seid ja vier lustige Zigeuner! Wohl die Bremer Stadtmusikanten, was?« worauf der Esel mit dem Kopfe zu nicken hatte.

»Wollt ihr mich nicht ein wenig mitnehmen, Kinder?« fragte Mister Dick, was der Esel mit energischem Schütteln des Kopfes ablehnte. Vielmehr sprang nun der Hund dem Esel auf den Rücken und die Katze dem Hund, bis Hinnerk, stolz wie im Wappen, der Katze auf den Buckel flog, und alle vier zugleich zu schreien, zu bellen, zu miauen und zu krähen hatten.

»Gut«, sagte Mister Dick dann, »aber das ist keine Musik! Wenn ihr nach Bremen wollt, müßt ihr auch zeigen, daß ihr spielen könnt.«

Dann hatte der Stallbursche einen Apparat in die Manege zu tragen, den sich Mister Dick nach langem Probieren hatte bauen lassen und an dem sich nun alle vier als Musikanten erweisen konnten, zusammengesetzt aus einer Pauke, die der Esel mit einem seiner Vorderfüße schlagen konnte, einer Drehorgel, die der Hund zum Tönen brachte, indem er ein großes Laufrad in Bewegung setzte, das mit der Walze des Instrumentes verbunden war, einem Triangel, dessen Schlaghammer die Katze mit dem geringen Gewicht ihres Körpers arbeiten ließ und einem riesigen Ei aus weißlackiertem Gummi, auf das der Hahn sich setzte und das dann unter ihm laut zu quietschen begann …

Das war schon allerhand für die Vier, aber es war noch nicht alles. Das Schönste war der Schluß der Vorführung, wenn die Bremer Stadtmusikanten so etwas wie eine Quadrille aufführten, Mister Dick die Pauke und Orgel dazu spielte und Hund und Esel ihre Tanzfiguren machten, wobei der Hahn in der Mitte thronte und die Katze die Tanzenden umkreiste.

Aber heute morgen ging alles verkehrt. Der Esel war widerspenstiger als je, besann sich aber zuletzt auf gütliches Zureden doch und tat das seine, und der Hund war willig und aufmerksam wie immer. Aber die Katze! Sie streikte vom ersten Augenblick an, spielte die Gleichgültige, spazierte in die Bankreihen der Zuschauer hinauf und tat, als ginge alles da unten sie nicht einen Deut an. Alles Beschönigen wäre zwecklos gewesen, – Mister Dick war blamiert. In der Manege galt nur die Leistung, und Schwierigkeiten waren nur dazu da, überwunden zu werden. Alle seine Lockworte halfen nicht, die Katze, die wie die anderen Tiere von jetzt ab natürlich ohne Leine arbeitete, zurückzurufen. Er mußte sich entschließen, ihr nachzugehen und sie gegen ihren Willen zurückzuholen.

Hinnerk aber machte seine Sache glänzend und alle bewunderten ihn, und als die Schlußnummer glücklich vorbei war und er Mister Dick eine Zigarette aus der hingehaltenen Schachtel nahm und hinter seinem Herrn mit der Zigarette im Schnabel stolz wie ein Spanier aus der Manege schritt, klatschte selbst der Direktor Beifall.

So hatte Mister Dick einen Trost und hätte sagen können, Ende gut – alles gut! Aber die Nummer war doch noch zu unsicher, sie saß nicht. Die Katze hatte alles verdorben. Aber Mister Dick war beharrlich genug, sein Spiel deswegen nicht aufzugeben, und mit der Geduld, die er bisher schon bewiesen hatte, begann er die Dressur noch einmal von vorn. Schließlich mußte selbst ein so widerspenstiges Wesen wie die Katze begreifen, worauf es ankam.

Trotz aller Abwechslung, die das Leben im Zirkus und die Dressur für Hinnerk mit sich brachten, begann er durch die lange Käfighaft doch allmählich schwermütig zu werden. Wenn Mister Dick nicht mit ihm arbeitete, stand er verdrossen und mißmutig in einer Ecke seines Käfigs, aus dem die Katze längst entfernt worden war, und ließ den Kopf hängen. Melancholisch schob er dabei zuweilen die bleigraue Nickhaut vor die Augen, die alle Vögel unter den Lidern mitbekommen haben, zog das eine seiner Beine hoch und stand dann so unbeweglich da, als wäre er ausgestopft und nur die Glasaugen fehlten ihm noch.

Die Wahrheit zu sagen: Es war kein Leben für einen Hahn, das er führte. Schon keinen Erdboden unter den Füßen und nirgends etwas zu scharren zu haben, kein Kieselstückchen für seinen Kropf und keinen Regenwurm für den Magen, war schlimm. Am tiefsten aber quälte es ihn, ohne Gesellschaft zu sein. War er es nicht gewöhnt, einen ganzen Schwarm von Hennen um sich zu haben? Aber hier stand er nun schon seit langen Monaten allein, eingesperrt in sein Verlies. Es war zum Verzweifeln. Nicht einmal zu krähen hatte er noch rechte Lust, seine Stimme begann einzurosten und sein Kamm fing an, die Farbe zu verlieren.

Erst als eines Tages eine neuverpflichtete Künstlerin mit farbenprächtigen Aras und Kakadus in den Zirkus einrückte, und der Käfig mit den fremdländischen großen Vögeln, die sie bei ihren Tänzen verwendete und auf Armen und Schultern in die Manege hinaustrug, wenn bei der Vorstellung ihre Nummer kam, neben dem seinen seinen Platz erhielt, wurde es mit Hinnerk ein wenig besser, und ihn, der so lange nichts Gefiedertes mehr gesehen hatte, schien plötzlich neue Lebenskraft zu erfüllen.

Ein Gelbhaubenkakadu hatte es ihm besonders angetan. Die große Haube erinnerte ihn an Bet, die er bei der alten Urleburle im Teufelsmoor gesehen hatte, und an das Huhn vom Stamme der Houdan, das er im Tierasyl, wenn auch nur aus der Entfernung, kennengelernt hatte.

»Ah«, sagte er, drückte sich dicht an das trennende Drahtgitter und machte den schönsten Kratzfuß. »Guten Tag, meine Beste! Ich wünsche wohl gereist zu sein. Darf man fragen, woher Sie kommen?«

»Interessiert Sie das?« fragte die Kakadudame. »Aus welchem Grunde, bitte? Wer sind Sie überhaupt?«

»Hinnerk heiße ich. Ich spiele einen Bremer Stadtmusikanten und trete mit dem Esel, dem Hund und der Katze zusammen auf. Es wird eine große Nummer, kann ich Ihnen sagen.«

»Erzählen Sie mir keine Romane«, sagte der Kakadu. »Führen Sie jedenfalls auf, was Sie wollen. Es ist mir völlig gleichgültig.«

Damit begann er einem seiner Gefährten, der neben ihm auf der Stange saß, die Haube mit dem Schnabel zu kraulen.

Traurig sah Hinnerk ihnen zu. »Sie lieben sich«, dachte er, »und ich stehe hier, getrennt von allen und habe niemand, dem ich einmal etwas Liebes erweisen könnte.«

Schwermütig senkte er den Kopf.

Aber dann kam der Kakadu unerwartet nahe ans Gitter, stieg sogar daran hinauf, als wolle er sehen, ob nicht oben eine Lücke sei. Nein, wie er klettern konnte! Er hielt sich mit dem Schnabel und zog die Füße nach.

»Ach«, rief Hinnerk erfreut und spreizte einen Flügel, daß er mit den Schwungfedern auf den Käfigboden stieß. »Wie herrlich Sie am Gitter spazieren gehen können. Wirklich, ich bewundere Sie. Aber fallen Sie nicht, wenn Sie ihrer Flügel nicht ganz sicher sein sollten. Es sieht ja gefährlich aus, wie Sie da oben herumturnen.«

»Reden Sie keine Albernheiten, nicht wahr? Fallen? Was ist das überhaupt?«

»Es ist nur meine Sorge um Sie«, sagte Hinnerk zärtlich. »Denn die Wahrheit zu sagen: Ich verehre Sie, jawohl! Ich weiß keinen anderen Ausdruck, Ihnen zu sagen, was mich erfüllt. Ich wäre glücklich, Ihnen ein wenig die Haube kraulen zu dürfen, wie Ihr Freund es tat da drüben auf der Stange, den Sie so augenscheinlich bevorzugen.«

»Na, na!« sagte der Kakadu. »Mäßigen Sie sich ein wenig, mein Herr!«

»Nein«, sagte Hinnerk und wurde mit jedem Augenblick mutiger. »Warum soll ich mich mäßigen? Ich sehe keinen Grund dafür. Ich – ich liebe Sie, um es gerade heraus zu sagen, jawohl.«

»Sie vergessen den Rassenunterschied zwischen uns.«

»Was heißt das?« fragte Hinnerk. »Gewiß, Sie sind schön wie die Sonne und ich trage keine Haube. Aber habe ich dafür nicht meinen Kamm, Sporen an den Füßen und einen Halskragen, schöner als jeder andere? Und hören Sie nur meine Stimme! Ich will nicht sagen, daß sie schön ist, aber kräftiger ist so leicht keine.«

»Ach, das ist mir alles ziemlich gleichgültig«, antwortete der Kakadu und kletterte langsam am Gitter wieder herab. »Immerhin, die Haube dürfen Sie mir gern einmal kraulen, wenn Sie Spaß daran haben. Aber Vorsicht, das bitte ich mir aus.«

»Selbstverständlich«, rief Hinnerk. »Meinen Sie, ich hätte es nicht gelernt, mit Damen umzugehen?«

»Dann reden Sie nicht so lange, fangen Sie an!«

Selig vor Freude schob Hinnerk seinen Schnabel durch das Gitter und senkte ihn vorsichtig und zärtlich in die flaumweiche Haube seiner Nachbarin.

»Ich bin glücklich, meine Beste. Sehr, sehr glücklich!« stammelte er leise. »Die Federn Ihrer Haube sind weicher, als ich sie je berührte.«

Im selben Augenblick aber stürzte der verlassene Kakadu mit einem so wütenden und kreischenden Geschrei ans Gitter, daß Hinnerk bestürzt zurückfuhr.

»Machen Sie, daß Sie in Ihre Ecke kommen, alter Kammträger!« schrie der Erzürnte. »Was geht Sie meine Freundin an, wenn ich fragen darf, he? Sie meinen wohl, bei einem Kakadu wäre alles erlaubt? Hüten Sie sich, daß ich Ihnen nicht die Kehle zerbeiße.«

»Wie?« schrie Hinnerk, nun selber gereizt und wütend. »Was unterstehen Sie sich! Wissen Sie auch, mit wem Sie sich herausgenommen haben zu reden? Ich habe das Wiesel besiegt, und das war ein gefährlicherer Gegner als Sie, kann ich Ihnen verraten!«

»Ich pfeife auf Ihr Wiesel«, schrie der Kakadu. »Ich kenne es nicht und es ist mir schnuppe, ob Sie es besiegten oder nicht, verstehen Sie mich?«

»Keinen Streit, meine Herren«, sagte der Gelbhaubenkakadu und wehrte seinem eifersüchtigen Freunde, der sein Gefieder gesträubt hatte und mit funkelnden Augen seinen Gegner maß. Zärtlich versuchte er ihm die Haube glatt zu streichen, aber ein Schnabelhieb des Erzürnten war die Antwort.

»Klettere auf deine Stange, altes Huhn, und mische dich nicht in Männergespräche!«

»Na, na, ruhig Blut«, mahnte die Gelbgehaubte, biß eine Erdnuß durch und legte dem Erzürnten den Kern vor. »Was ist das nur für ein Benehmen heute!«

»Was ist denn da nur los?« schrien die Aras aus ihrem Käfig herüber und drängten ihre roten Brüste an das Gitter.

»Ein dummer Kerl ist los!« rief der Kakadu und trippelte aufgeregt hinter seinem Gitter vor Hinnerk auf und ab. »Seht ihn euch an, da steht er. Aber ich lache über ihn, den stelzbeinigen alten Ritter mit seinem roten Fleischlappen auf dem Kopfe. Seht doch an, jetzt ist er klugerweise einen Schritt hinter das Gitter zurückgewichen, der Feigling!«

»Was sagen Sie?« schrie Hinnerk ergrimmt und sprang mit gespreizten Flügeln wütend nach vorn. »Einen Feigling nennen Sie mich, mich, der auf eigenen Füßen in die Welt hinausging?«

Das Drahtgitter klirrte ordentlich, so heftig war er mit Schnabel und Sporen hineingefahren. Aber da kam schon einer der Stallburschen, rückte lachend den Käfig der Kakadus ein wenig zur Seite und schob ein Brett dazwischen, damit sich die Tiere nicht mehr sahen.

»Alter Klopffechter«, schrie der Kakadu hinter dem Brett.

»Halten Sie den Schnabel, ja?« rief Hinnerk empört, »und behalten Sie Ihre alte Tute für sich.«

»Ha ha ha!« lachte der Kakadu zornig und dabei überschlug sich beinahe seine Stimme. »Hast du es gehört, Mile? Nun siehst du, was du dir da für einen Freund herangeholt hast. Ein alter Dreckhahn ist der Kerl, nichts weiter!«

»Ach, ziehen Sie ihre Haube über die Ohren!« rief Hinnerk ärgerlich, schlug mit den Flügeln, daß es klatschte und stieß ein Kikeriki aus, das siegesgewiß und lang wie ein Trompetenstoß durch den Marstall schallte.

Aber kaum war der Ruf verklungen, ahmte der Kakadu nebenan den Hahnenschrei so naturgetreu nach, daß selbst die Stallburschen darüber in Lachen ausbrachen.

Hinnerk ärgerte sich, daß ihm der Kamm blau ward. Noch einmal erhob er seine Stimme und diesmal so langgezogen und mächtig, als sollte ihm die Kehle darüber springen.

Aber es machte dem Kakadu nichts aus. Kikeriki! schrie auch er wiederum, verächtlich und höhnisch.

Nein, es nützte Hinnerk nichts, gegen den Kakadu kam er nicht auf, und schweigend und vergrämt stelzte er in seine Ecke zurück, zog das eine seiner Beine unter den Flügel und starrte trübselig vor sich hin.

Wirklich, es gab keine Freuden mehr für ihn, der auf Anntjes Hof in Worpswede ein Dutzend Hennen um sich gehabt hatte und um den sich Bet und Met gestritten hatten, als sie ihn kaum zu sehen bekamen.

»Der Hahn wird krank, wie es scheint«, sagte einer der Stallburschen ein paar Tage später zu Mister Dick. »Er steht den ganzen Tag über da, als wäre er durchgeregnet.«

»Ja, ja«, antwortete Mister Dick. »Mir ist das auch schon aufgefallen. Verteufelt, wenn er mir einginge!«

»Er muß ganz einfach aus dem Stall da heraus«, riet der Stallbursche. »Er verträgt die Einzelhaft nicht, das ist alles. Setzen Sie zum mindesten eine Henne zu ihm. Sie sollen mal sehen, wie ihn das auftaut.«

»Ich kann mir hier doch keine Hühnerzucht zulegen«, meinte Mister Dick und betrachtete mit sorgenvoller Stirn seinen Hahn.

»Dann lassen Sie ihn wenigstens über Tag ein paar Stunden spazierengehen. Vielleicht, daß ihm das gut tut!«

Wirklich öffnete ihm Mister Dick am nächsten Morgen die Tür.

»Komm, mein Hähnchen«, sagte er zärtlich. »Geh ein wenig spazieren, alter Freund, und vertritt dich ein wenig. Bis zur Probe ist es immer noch Zeit!«

Ja, das war eine Abwechslung für Hinnerk.

Stolzen Schrittes und frei stolzierte er den Gang zu den Pferden hinab.

»Guten Morgen«, sagte er leutselig, als er hinter den sechs Apfelschimmeln vorbeikam. Sie antworteten ihm nicht, zupften Heu aus ihren Raufen und schlugen nur verächtlich mit den Schwänzen.

»Wohin wollen Sie?« schrien die Aras aus ihrem Käfig und blickten ihm nach.

»Ausreißer!« schalt der Kakadu.

Aber Hinnerk sah ihn gar nicht an.

Gut, daß die Löwen nicht mehr da waren. Ihr Besitzer hatte seine Verpflichtungen gelöst und sich einem anderen Unternehmen verpflichtet. Dafür waren Eisbären da, eine ganze Herde. Aber Hinnerk schritt an ihnen vorüber, als wären sie kleine Hunde.

Erst als er an die Zebras kam, blieb er stehen – aber es waren nicht sie, die ihn fesselten. Für ihn war ein Zebra ein Pferd und die Pferde hatten ihn vorhin zu nichtssagend behandelt. Aber nicht weit von ihnen stand ein Käfig mit weißen Tauben.

»Ah«, sagte Hinnerk erfreut. »Woher kommen Sie, meine Damen? Stammen Sie vielleicht aus Worpswede?«

Er erinnerte sich, die Nachbarin von Anntje Suhr hatte einen Flug Tauben besessen, ebenso schimmernd weiß wie diese.

»Guten Morgen«, antworteten die Tauben. »Was ist Worpswede? Wir sind einigermaßen herumgekommen in der Welt, aber wir haben den Namen noch nie gehört.«

»Na, na«, meinte Hinnerk, »scherzen Sie nicht. Worpswede kennt heute jeder, der auf einige Bildung Anspruch macht. Es ist ein Weltdorf, das steht fest … ich bin nämlich Worpsweder!«

»So, so«, antworteten die Tauben. »Das erklärt vieles.«

»Nicht wahr?« fragte Hinnerk geschmeichelt und sah verliebt zu ihnen hinauf.

Es waren sechs. Ihr Gefieder war so weiß wie das eines Schwanes, und als besondere Zier trugen sie einen Schwanz wie ein Pfauenrad. Ja, sie waren ansehnlich und hübsch, das war keine Frage, aber auch anspruchsvoll und stolz, so wie sie sich in die Brust warfen und den Kopf in den Nacken legten. Aber dafür waren sie auch schön wie junge Hühner, und das war das Höchste, was Hinnerk zu ihrem Ruhm hätte sagen können.

Mit feurigen Augen musterte er sie. Die größte besonders, die noch ein wenig freundlicher zu ihm herunterblickte als die andern, fesselte ihn am meisten. Ohne Zweifel, sie war die hübscheste von allen. Wie zierlich sie sich zu putzen verstand, die Schwungfedern ihrer Flügel durch den Schnabel zog und ihren Fächerschwanz ordnete.

Ina hieß sie, und man mußte sagen, der Name paßte zu ihr.

Hinnerk machte seinen schönsten Kratzfuß, schlug mit den Flügeln und begann aus vollem Halse zu krähen. Einmal war es Freude und zum anderen wollte er sich auch in Ansehen setzen, und diesmal bekümmerte es ihn nicht, daß vom anderen Ende des Marstalls her, der Kakadu abermals sogleich seinen Ruf wiederholte.

»Was für eine Stimme Sie haben!« rief Ina anerkennend.

»Was wollten Sie eben mit ihrem Gekreisch sagen?« fragte eine andere Taube spitz und machte dumme Augen.

Aber Hinnerk antwortete ihr nicht darauf.

»Guten Morgen«, sagte er. »Ich muß weiter. Aber es war mir eine aufrichtige Freude! Auf Wiedersehen! Hoffentlich kann ich meinen Besuch vor Ihrem Hause bald wiederholen.«

»Wenn es Ihnen nicht zu viele Mühe macht?« sagten die Tauben, ruckten mit den Köpfen und gingen an ihren Futternapf.

Ja, das war eine Sprache, wie Hinnerk sie liebte. »Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht!« hatten sie gesagt. Soviel Entgegenkommen und Freundlichkeit hatte er lange nicht mehr gefunden.

Mit erhöhtem Selbstgefühl setzte er seinen Spaziergang fort, fuhr aber nach wenigen Schritten vor den hin- und herschwingenden Rüsseln der Elefanten zurück, an deren Stand er nun gelangt war, und flog entsetzt auf die nächste Heuraufe.

»Tock – tock – tock!« schrie er aufgeregt, und das hieß in seiner Sprache: »Was das nur bedeuten soll, einem einen solchen Schrecken einzujagen? Was ist das überhaupt für eine Gesellschaft, diese wackelnden Lehmberge da, und wozu haben sie so drohend mit den Ohren zu klappen?«

Aber dann kam ein Stallbursche, der den Stand der Elefanten gesäubert hatte und eben mit seiner Arbeit fertig war; griff Hinnerk bei den Beinen und setzte ihn dem nächsten Elefanten auf den Rücken.

»Wie entsetzlich!« schrie Hinnerk und rannte aufgeregt auf dem breiten Rücken des Elefanten hin und her.

»Regen Sie sich nicht auf, junger Herr!« sagte der Elefant und tastete mit seinem Rüssel nach Hinnerk. »Wir sind friedlicher, als Sie denken. Gehen Sie ruhig da oben spazieren. Unser Rücken ist breit genug dazu für so einen Zwerg wie Sie.«

Aber Hinnerk dankte und rettete sich in weitem Flugbogen auf die Erde zurück.

»Was ist das für eine Art!« schrie er, ohne den lachenden Stallburschen noch eines Blickes zu würdigen. »Wer sind Sie überhaupt und woher kommen Sie?«

»Aus Indien«, sagten die Elefanten, »wenn Sie das interessiert.«

»Ach so, aus Indien!« entgegnete Hinnerk, der keine Ahnung hatte. »Das erklärt allerdings manches, sozusagen. Hören Sie nur endlich auf, mit Ihren Nasen zu wackeln. Es schwindelt einem ja vor den Augen. Noch dazu, wenn Sie dauernd von einem Fuß auf den anderen treten.«

»Wir machen uns ein wenig Bewegung«, entgegneten die Elefanten. »Wenn Sie, wie wir, tagelang an einem Platze stehen müßten, noch dazu mit einer Kette am Fuß, wackelten Sie sicher auch!«

»Das ist immerhin möglich«, sagte Hinnerk ein wenig versöhnt, denn für die Leiden der Gefangenschaft hatte er Verständnis.

»Zum Kuckuck noch mal, wer hat den Hahn laufen lassen?« scholl da eine Stimme.

»Ich!« sagte Mister Dick, der Hinnerk langsam nachgegangen war.

»Das geht aber nicht! Sperren Sie das dumme Vieh gefälligst wieder ein. Hahnenfedern im Heu? Die Pferde sollen wohl Kolik kriegen, was? Jagen Sie ihn lieber vor die Tür. Draußen kann er meinethalben so viel herumlaufen, wie er will!«

»Das ist auch meine Absicht«, sagte Mister Dick, öffnete eine schmale Tür und ließ den Hahn ins Freie.

Es war ein großer Platz, auf den Hinnerk gelangte. Mehr als dreißig Wohnwagen standen dort mit zierlichen weißen Gardinen und kleinen Treppen vor den Türen. Aber sie waren es nicht, die Hinnerks Aufmerksamkeit fesselten. In einem ähnlichen Gefängnis aus Holz und Glas hatte er seine Dressur einst bekommen. Er kannte das und hatte genug davon. Nein, es war der Geruch des frischen, von den Rädern aufgewühlten Erdbodens und das strahlende Licht der Sonne, die ihn berauschten. Herrlich, herrlich, herrlich! Er klatschte vor Freude mit den Flügeln und begann sofort eifrig zu scharren, zu picken und winzige Grashälmchen, die eben dem frühlingsjungen Erdboden entsprossen, mit dem Schnabel zu pflücken.

Nein, wie erfrischend die Luft hier draußen war, und wie wohl ihm die Sonne tat! Wohlig wie seit langem nicht, scharrte er sich eine flache Mulde in die Erde, schüttelte die lockere Erde mit den Flügeln auf und ließ sie sich über die Haut rieseln. Ein Bad, endlich einmal wieder ein Bad, wie es ihm ein Bedürfnis war.

Mister Dick hatte sich eine Zigarette angezündet und ging ihm langsam nach, als er von seinem Staubbad aufstand und den Platz wechselte.

Halloh, da hatte er sogar einen Regenwurm aus der Erde gescharrt. Mit lockenden Balzlauten hielt er ihn im Schnabel, wie er es gewöhnt war, wenn er seinen Hennen schöntun wollte und ihnen die besten Bissen präsentierte, die er nur zu finden vermochte.

Aber hier verhallte seine Stimme ungehört und keine Henne eilte herbei, seine Spende entgegenzunehmen und sich ihm dankbar zu erweisen.

Aber am drittfolgenden Tage war es mit der Freiheit für Hinnerk schon wieder zu Ende. Der Zirkus reiste und Hinnerk saß wieder in seinem Käfig, der in einen halbdunklen Eisenbahnwagen verladen war, und hatte von neuem ausgiebig Zeit, trübselige Betrachtungen anzustellen.

Rumtumtum – machten die Räder. Immer wieder rumtumtum – – einen ganzen Tag lang und einen folgenden dazu.

Hinnerk war ganz dumm im Kopfe von den unausgesetzten Stößen auf den Schienen. Es war nicht zum erstenmal, daß er das Geräusch hörte, und längst hatte es alles Beunruhigende für ihn verloren. Aber es machte ihm doch jedesmal wieder Übelkeit, so daß er während einer solchen Fahrt kaum etwas fraß.

Gut, daß die Kakadus in einen anderen Wagen verladen worden waren. Sie hätten ihm vollends die Laune verdorben. Dafür waren diesmal die Tauben mit hereingestellt worden, die der jungen Italienerin gehörten, die mit ihnen als »Tauben vom Markusplatz« auftrat. Sie hatten gelernt, Briefe aus einem hingehaltenen Kästchen zu nehmen und nach einem kurzen Fluge ins Publikum fallen zu lassen. Das war etwas! Dazu verstanden sie, auf kleinen Schaukeln und Trapezen zu arbeiten, in geschlossenem Zuge hintereinander durch vorgehaltene Reifen zu fliegen, auf ein Händeklatschen in der Luft zu wenden, im Fluge eine Acht zu ziehen und sich zu benehmen, als wären sie wirklich die klügsten Tiere, die jemals in einem Zirkus gezeigt wurden.

Von ihrem Anblick entzückt stand Hinnerk in seinem Käfig und stierte zu ihnen hinüber. Aber sie beachteten ihn nicht, pickten Gerstenkörner aus ihrem Futternapf, tranken ein wenig und flogen wieder auf ihre Stangen.

»Fräulein Ina«, rief Hinnerk zuletzt leise und zärtlich, senkte die Flügel ein wenig und stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Wünschen Sie vielleicht etwas?« fragte die Angeredete zurück und fuhr fort ihr Gefieder zu ordnen.

Freilich wünschte er etwas. Aber er hätte nicht sagen können, was. So begnügte er sich, einen langgezogenen leisen Laut aus seiner Kehle zu pressen, der soviel bedeuten sollte als: »Ich seufze! Kann man etwas anderes tun, wenn man Sie sieht, Fräulein Ina?«

Aber das verstand die Taube nicht.

»Wie stehen Sie denn nur da?« fragte sie. »Halten Sie doch ihren Kopf nicht so schief und starren Sie bitte nicht unausgesetzt zu mir herüber. Es ist peinlich für mich.«

»Verzeihen Sie«, sagte Hinnerk gekränkt, zog das eine Bein hoch und nahm sich vor, überhaupt nicht mehr hinzusehen.

Beleidigt zog er die Nickhaut bald vor das eine, bald vor das andere Auge.

»Habe ich Sie gekränkt?« fragte die Taube nach einer Weile, als sie merkte, daß Hinnerk sich nicht mehr um sie bekümmerte.

»Oh, durchaus nicht!« antwortete Hinnerk sogleich, zog die Nickhaut weg und warf Ina einen traurigen Blick zu. Es war doch zu reizend, daß sie ihn anredete und jetzt viel freundlicher zu ihm sprach als vorhin. »Es ist nur die Sehnsucht«, stammelte er. »Und die Einsamkeit. Sie verstehen, es ist so schwer in meiner Lage, ein wenig Anschluß und Verständnis zu finden.«

»Sind Sie Witwer?« fragte die Taube. »Ich meine, haben Sie ihre Henne verloren?«

»Henne?« fragte Hinnerk stolz. »Ich hatte zwölf, und nur Gewalt hat mich von ihnen getrennt.«

»Zwölf?« fragte die Taube. »Pfui!«

»Wie meinen Sie das?« fragte Hinnerk verwundert. »Pfui? Ich wüßte nicht, warum? Ein rechter Hahn hat selten weniger. Mindestens fünf oder sechs. Es ist sonst zu wenig wirtschaftlich, wissen Sie.«

»Wie war das?« fragte die Taube. »Nicht wirtschaftlich?«

»Nach Meinung der Leute, jawohl! Ein Hahn gilt ja immer nur als ein unnützer Fresser. Hühner legen Eier, nicht wahr, und wenn es mit dem Futter einmal knapp wird, greift man immer zuerst nach dem Hahn, um ihn zu schlachten.«

»Wie entsetzlich«, sagte die Taube.

»Ja, es ist ein trübes Thema. Reden wir von etwas anderem.«

»Das möchte ich auch wohl vorschlagen. Wissen Sie nichts zu erzählen, haben Sie nichts erlebt?«

»Oh«, sagte Hinnerk, »wenn es darum geht? Ich habe mehr erlebt, als ich Ihnen erzählen kann. Es ist mir nicht leicht geworden, durchs Leben zu kommen, und ich habe mehr Erfahrungen gemacht, als mir zuweilen lieb waren.«

»Erzählen Sie«, sagten die Tauben.

»Wovon soll ich Ihnen erzählen?« fragte Hinnerk. »Von meinem Kampf mit dem Wiesel oder mit den Schwänen? Von der alten Urleburle im Teufelsmoor oder von meiner Zusammenkunft mit dem Storch? Er begegnete mir so hochfahrend wie möglich, aber ich kann Ihnen sagen, ich habe ihn abgefertigt!«

»Erzählen Sie uns von der schönsten Henne, die Sie bei sich hatten!« schlugen die Tauben vor.

»Von der schönsten Henne?« fragte Hinnerk gedankenvoll. »Ich muß sagen, daß mir die Auswahl da nicht leicht fällt. Soll ich von Bet und Met erzählen oder von Thinka aus der Familie der Houdans?«

»Von Thinka«, entschieden sich die Tauben, denn sie glaubten, daß es eine besonders vornehme Henne gewesen sei, ihr Name klang so nach Vornehmheit, Rasse und Aristokratie.

»Wie Sie wollen«, sagte Hinnerk. »Um es gleich vorweg zu sagen, es war die außerordentlichste Henne, die jemals über die Erde gegangen ist. Wer sie erblickte, blieb stehen vor Bewunderung. Man war einfach sprachlos!«

»Und liebte Sie?« fragten die Tauben und ruckten mit den Köpfchen. »Sie haben zärtliche Stunden mit ihr verlebt?«

»Ja«, sagte Hinnerk, »wenn Sie mich gerade heraus darnach fragen. Aber über solche Dinge spreche ich nicht.«

»Selbstverständlich nicht!« sagten die Tauben. Aber sie waren doch ein wenig enttäuscht.

»Niemand soll von mir sagen, daß ich in solchen Dingen das Vertrauen nicht gewahrt hätte!«

»Wie alt war Frau Thinka?« fragte eine Taube. »Denn das ist wichtig zu wissen.«

»Oh, was glauben Sie, meine Damen? Sie stand im vollen Glanze der Jugend, und niemals hat es eine Henne gegeben, die anmutiger unter ihrer Haube herumspaziert wäre!«

»Sie trug eine Haube?« fragten die Tauben interessiert. »Sieh doch an! Hatte sie auch ein Jabot unter der Kehle wie unsere Verwandten aus der Familie der Möwchen?«

»Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Hinnerk, der nicht wußte, was die Tauben meinten. »Jedenfalls war sie schöner als alle, war aber durchaus nicht für Putz und Firlefanz. Im Gegenteil. Sie war durchaus praktisch veranlagt. Es verging kein Tag, an dem sie nicht ein Ei gelegt hätte. Selbst als man sie gefangengenommen und eingesperrt hatte, hörte sie nicht auf damit! Es war ihr einziger Trost sozusagen.«

»Ja, das ist viel«, gaben die Tauben zu. »Jeden Tag ein Ei! Wieviel Kinder muß sie da gehabt haben!«

»Das war es eben«, phantasierte Hinnerk. »Sie blieb trotzdem kinderlos.«

»Was Sie sagen!« riefen die Tauben. »Wie war das möglich? Wir legen höchstens alle 6-8 Wochen und niemals mehr als zwei Eier. Wir halten das auch für vollkommen genügend.«

»So«, sagte Hinnerk, kurz und enttäuscht.

»Aber erzählen Sie«, drängten die Tauben. »Also Frau Thinka blieb kinderlos?«

»Wie ich schon sagte«, antwortete Hinnerk und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Fragen Sie mich nicht weiter.«

»Oh«, sagten die Tauben, »haben wir Sie an trübe Dinge erinnert? Wie leid uns das tut!«

»Man nahm ihr jedesmal die Eier weg, ganz einfach!« erklärte Hinnerk. »Nicht eins, das man ihr ließ. Man war wie versessen darauf.«

»Und was tat man damit, bitte?« fragte eine junge Taube und reckte den Kopf.

»Man aß sie auf. Jawohl. Ich fürchte, daß es nur zu dem Zwecke geschah. Uns überließ man die Schalen, sehen Sie wohl. Die Eier des schönsten Huhnes, das jemals hinter einem Drahtgitter saß, ich bitte Sie, meine Damen.«

»Ja«, nickten die Tauben. »Es ist nicht auszusagen! Aber erinnern Sie sich nicht weiter an so trübe Dinge. Wir meinten, Sie würden uns eine heitere Geschichte erzählen? Wir hören so gern etwas Lustiges!«

»Bedauere sehr«, antwortete Hinnerk. »Ich habe zu wenig Heiteres erlebt, sehen Sie. Das Leben ist kein Witz, wenigstens für unsereinen nicht. Nur Einsichtslosigkeit könnte das Gegenteil behaupten. Der einzige Trost ist, aus den Erfahrungen seines Lebens etwas gelernt zu haben.«

»Immerhin. Sie haben es aber doch zu etwas gebracht«, versuchten ihn die Tauben zu trösten.

»Das ist wahr«, gab Hinnerk zu. »Nicht jeder Hahn bringt es so weit. Dafür habe ich auch schon von Jugend an einen Drang in mir gespürt, in die Welt hinauszukommen, und nicht nachgegeben, bis sich mein Wunsch erfüllte. Hätte die Natur mich nicht so stiefmütterlich behandelt und könnte ich fliegen wie Sie und stundenlang in der Luft bleiben, – ich hätte mich bis zur Sonne emporgeschwungen, vom Mond gar nicht zu reden!«

»Hm!« sagten die Tauben. »Ja, mit Ihnen ist nicht zu spaßen!« Und dann lachten sie in ihre Kröpfe hinein. Aber Hinnerk bemerkte es nicht, denn der Zug war eben in einen Tunnel eingefahren.

»Nein, wie kurz die Tage schon werden!« riefen die Tauben, als es dunkel um sie geworden war. »Gute Nacht denn!«

Aber Hinnerk war nicht so leicht zu täuschen, und als der Zug den Tunnel hinter sich hatte und es wieder hell im Wagen wurde, erklärte er, es sei eine Sonnenfinsternis gewesen, nichts weiter.

»Wenn man einigermaßen in der Welt herumgekommen ist, kennt man solche Dinge.«

»Eine Sonnenfinsternis?« fragten die Tauben und horchten auf. »Was es für merkwürdige Dinge gibt. Wir haben nie gesehen, daß sich die Sonne verfinsterte.«

»Ich habe schon in meiner Jugend für solche Dinge ein Auge gehabt«, entgegnete Hinnerk. »Es war während einer Sonnenfinsternis, als ich einen gefährlichen Kampf mit einer Schlange bestand.«

»Ist es zu glauben?« riefen die Tauben. »Sie haben mit einer Schlange gekämpft? War es eine giftige?«

»Selbstverständlich«, sagte Hinnerk. »Giftig wie eine Ratte. Sie wissen doch, daß auch Ratten giftig sind?«

Nein, das wußten die Tauben nicht. Nun ja, sie waren eben nicht klüger. Aber es war ihnen interessant, es zu erfahren.

»Ja. Ich bin diesen Tieren immer aus dem Wege gegangen«, fuhr Hinnerk fort. »Offengestanden schaudert es mich jedesmal, wenn ich eine erblicke. Ich bin mehr als einer Ratte begegnet und spreche aus Erfahrung. Aber ich sage Ihnen, daß ich sie sehr kurz behandelt habe.«

»Sie wollten von ihrem Kampf mit der Schlange erzählen«, erinnerten ihn die Tauben.

»Es ist nicht der Rede wert, darauf zurückzukommen«, erwiderte Hinnerk. »Es war eine Kreuzotter, wie sie in meiner Heimat im Moore zuweilen vorkommen, wenn sie auch nur selten sind. Ich kam bei einem Spaziergange so über die Heide, da kam eine aus einem Ginsterbusch auf mich zugekrochen. Sie hatte Augen so scharf und spitz wie meine Sporen, jawohl. Sie können denken, meine Damen, daß ich ihr nicht sehr freundlich entgegengetreten bin. Ich tötete sie. Basta. Ersparen Sie sich die Einzelheiten. Die Federn würden sich Ihnen sträuben. Es ist kein Gespräch für Damen, über solche Dinge zu reden.«

Hinnerk verstummte und nahm mit einer nachlässigen Kopfbewegung ein Gerstenkorn auf, das er beim Fressen liegen gelassen hatte.

Auch die Tauben schwiegen, rückten auf ihrer Stange enger zusammen und sahen mit bewundernden Blicken zu Hinnerk hinüber.

Er war doch ein Kerl, einer, der das Herz auf dem rechten Flecke hatte, ohne Zweifel.

+++

Der Zirkus war aus dem Süden wieder nach dem Norden zurückgekehrt, als Mister Dick endlich so weit war, seine Tiere vorführen zu können. Die Katze hatte auf den letzten Proben ihre Sache leidlich gut gemacht und auf die übrigen drei glaubte er sich seit langem verlassen zu können.

An allen Anschlagsäulen der Stadt stand es zu lesen: Die vier Bremer Stadtmusikanten in ihren staunenerregenden musikalischen und anderen Leistungen, vorgeführt von Mister Dick.

Mister Dick fieberte vor Aufregung, als die Vorstellung begann. Alles hing für ihn von dem Erfolg seiner Nummer ab, und niemals hatte er so viel Sorge gehabt als vor dieser Vorführung. Wenn die Katze, unberechenbar wie sie war, in ihrer Launenhaftigkeit versagte, die Tiere durch die ungewohnte Gegenwart der schaulustigen Menge scheu und kopflos wurden, war alles verloren. Er war entschlossen, die ganze Nummer lieber aufzugeben, als zum drittenmal wieder von vorn zu beginnen. Seine Geduld ertrug vieles, aber vielleicht hatte er sich mit den vier Tieren überhaupt zuviel vorgenommen. Schließlich konnte man von einer unvernünftigen Kreatur nicht Unmögliches verlangen.

Der Gedanke machte ihn ein wenig ruhiger. Er mußte dann sehen, etwas anderes zu finden, irgendeinen neuen Trick ersinnen, um für die nächsten Jahre gesichert zu sein. Verdammt schade würde es ja sein! Es war eine so gute Idee mit den vier Bremer Stadtmusikanten. Noch nie, daß jemand darauf gekommen war, und wenn sie gelang, hatte er Aussicht auf eine Reihe gut bezahlter Verpflichtungen. Schließlich wollte jeder leben, selbst ein so armer Teufel von Artist, wie er einer war, der Zeit seines Lebens noch nicht auf einen grünen Zweig gekommen war. In verwegenen Augenblicken hatte er sich bereits reich und berühmt gesehen, sah sein Bild bereits in den illustrierten Blättern: Mister Dick, einer der erfolgreichsten Dresseure der Welt, mit seinen vier Bremer Stadtmusikanten. Denn die Tiere würden mit ihm berühmt werden, das war keine Frage. Für alle Fälle hatte er schon vor einigen Tagen die Pyramide, die sie zu bilden hatten, photographieren lassen, und es nahm sich prächtig aus, wie der Hund auf dem Rücken des Esels, die Katze auf dem Kopfe des Hundes und der Hahn auf den Schultern der Katze stand und alle vier ihre Stimme erhoben. Ha ha ha! Bisher hatte man geglaubt, daß so etwas nur im Märchen möglich sei …

Unruhig stand er da und wartete, und wenn nicht die Schminke sein Gesicht so völlig bedeckt und unkenntlich gemacht hätte, hätte man sehen können, wie bleich er war. Die Zeit, bis seine Dressurnummer kam, dünkte ihn diesmal eine Ewigkeit. Wieder und wieder kraulte er der Katze das Fell, gab ihr alle Schmeichelnamen, die er für sie erfunden hatte, tätschelte ihr den Kopf und atmete erleichtert auf, als es endlich so weit war, und er mit den Tieren in die Manege ziehen konnte.

»So passen Sie doch auf!« knurrte er unwillig, als einer der Stallburschen aus Unachtsamkeit dem Hahn beinahe auf die Füße getreten hätte, daß der gute Hinnerk mit einem ängstlichen Gegacker zur Seite flog, und erst gelockt werden mußte, um mitzukommen.

Kopf an Kopf gedrängt erwartete ihn drinnen das Publikum, und ein schmetternder Tusch der Trompeten im Orchester verstärkte die Spannung, die man seiner Nummer entgegenbrachte …

»Die Bremer Stadtmusikanten kommen!« rief eine Stimme unter Lachen.

»Wo? Wo?« antworteten ein paar Kinder und stellten sich auf die Bänke, um besser sehen zu können.

Aber da kam Mister Dick auch schon auf dem Esel reitend in die Manege galoppiert, wurde auf einen heimlichen Druck seiner Schenkel prompt in den Sand geworfen und kugelte unter Ach- und Wehgeschrei durch das halbe Sandrondell. Während er noch dalag und so tat, als habe er sich sämtliche Rippen im Leibe gebrochen und könne in seinem Leben nicht wieder aufstehen, und dazu jämmerlich wimmerte und schrie, machte der Esel, wie er es gelernt hatte, wieder kehrt, lief zum Reitergang zurück und holte den Hund ab, der dort so lange zu warten hatte. Nachdem die beiden einen Rundgang um die Manege gemacht hatten, schloß sich ihnen die Katze an, die sich mittlerweile fast unbemerkt auf die Piste beim Eingang gesetzt hatte. Als sich den dreien, nachdem sie unter dem Jubel des Publikums einen zweiten Rundgang um den Zirkus gemacht hatten, nun auch noch der Hahn anschloß und mit komisch wichtigen Schritten neben den anderen einherging, belohnte die vier bereits der prasselnde Beifall der Zuschauer.

Aber nun kam es erst.

Mister Dick hatte sich wieder emporgerappelt, begegnete jetzt wie zufällig den Tieren und redete sie an: »Na – wer seid denn bloß ihr? Und woher kommt ihr denn?« Da er dann keine Antwort bekam, ging es ihm plötzlich von selber auf, daß es vielleicht die vier Bremer Stadtmusikanten seien, die ihm da in den Weg gelaufen seien, ließ von den Stallknechten den Musikapparat hereintragen, um die vier auf die Probe zu stellen, und das Konzert begann.

Argwöhnisch beobachtete Mister Dick die Tiere und hatte dabei besonders die Katze im Auge, aber sie tat diesmal wirklich, was sie sollte, und als hinterher alle vier, eines auf dem Rücken des anderen, ihre Stimme erhoben, der Esel »I – a!« schrie, der Hund zu bellen begann, die Katze miaute und der Hahn sein »Kikeriki« in den Zirkus hineinrief, brach in den Reihen der Zuschauer eine stürmische Heiterkeit aus und ein lautes Klatschen belohnte die Leistungen seiner Tiere.

Aber das nahm die Katze nun doch übel und wollte erschreckt mit einem Satze aus der Manege verschwinden, wurde jedoch im letzten Augenblick von einem der Stallburschen gegriffen und an ihren Platz zurückgebracht. Aber von diesem Augenblick an wollte sie nun durchaus nicht mehr, saß da, böse und falsch, mit zurückgelegten Ohren, so daß Mister Dick es für am klügsten hielt, die Vorführung abzukürzen und sich dafür ein wenig länger mit Hinnerk zu beschäftigen, der mit seinen künstlich verlängerten Schwanzfedern und dem aufgesetzten Kamm auf dem Kopfe, die meiste Aufmerksamkeit erregte. Als er dann wirklich nach den Worten, die Mister Dick an ihn gerichtet hatte, aus der dargebotenen Schachtel eine Zigarette nahm, im Schnabel behielt und neben Mister Dick, der mit komischem Schritt neben ihm ging, die Manege verließ, kannte der Beifall der belustigten Zuschauer keine Grenzen mehr. Man klatschte, schrie und winkte dem glücklichen Clown zu und ruhte nicht eher, bis er noch einmal aus dem Reitergang in die Manege zurückkehrte und sich wieder und wieder verneigen konnte … Es war kein Zweifel, der Erfolg war trotz der böswilligen Katze für ihn so groß, wie er kaum zu hoffen gewagt hatte. Ja, der Beifall hielt auch dann noch an, als er bereits die Manege endgültig verlassen hatte. Augenscheinlich wollten die Zuschauer eine Wiederholung seiner Nummer erzwingen, er war aber klug genug, sein Glück heute abend nicht noch ein zweites Mal auf die Probe zu stellen. Auch war die Trapezkünstlerin, die am fliegenden Reck unter der Kuppe des hohen Raumes ihre Sprünge vollführte, bereits in die Manege geeilt und stieg schon auf der schmalen Strickleiter zu ihrem luftigen Turngerät empor.

»Vertracktes Vieh, die Katze«, sagte Mister Dick, als der Direktor ihm nach Schluß der Vorstellung gratulierte und ihm eine Verlängerung seines Vertrages anbot.

»Im Gegenteil«, meinte dieser lachend, »es war am Ende ganz gut, daß sie nicht wollte. So etwas zeigt dem Publikum die Schwierigkeit der Dressur und alles, was gelingt, wird desto höher bewertet. Ich wünschte, die Katze versagte jedesmal, – wenn sie nur am Beginn der Nummer mitmacht.«

Der gute Hinnerk hatte kein Verständnis für das, was geschehen war, und hätte nie begriffen, warum Mister Dick zu so ungewohnter Stunde Esel, Hund und Katze einmal über das andere Mal liebkoste und ihm selber die schönsten Weizenkörner hinstreute. Gedankenvoll stand er in seinem Käfig, hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und dachte an Ina, die Taube, die er seit der gemeinsamen Eisenbahnfahrt nicht mehr wiedergesehen hatte. Daher kam es auch wohl, daß sich ihr Bild in ihm so merkwürdig verändert hatte … Sie stand höher auf den Beinen, als es in Wirklichkeit der Fall war, auf dem Kopfe saß ein niedriger rosig schimmernder Kamm, und der Schwanz war dachförmig geworden und hatte wenig Ähnlichkeit mehr mit einem Taubenschwanz … Aus Ina, der Taube, war in Hinnerks Vorstellung ein – Huhn geworden.

Wohin hatte man sie mit ihren Schwestern gebracht? Hinnerk wußte es nicht, er wußte nur, daß er sie liebte, und die einzige Möglichkeit, sie zu sehen und sich an ihrem Anblick zu erfreuen, war, den Kopf unter den Flügel zu stecken und von ihr zu träumen. Und das tat er, lange und ausgiebig.

Etwa ein Jahr später – Mister Dick hatte seinen Vertrag mit dem Zirkus längst gelöst und war mit seinen Tieren von einer Spezialitätenbühne zur anderen gezogen – schloß er einen Vertrag mit einem Varieté in Bremen. In dieser Stadt, meinte er, müßte seine Dressurnummer besonderen Beifall finden und ihm einen der größten Erfolge erringen, der überhaupt mit ihr zu erzielen sei, kannte doch jedes Kind dort »die Bremer Stadtmusikanten«, und er war sicher, besonders volle Häuser und Kassen zu machen.

Aber es war eine unglückliche Fahrt für Mister Dick. Schon unterwegs begann es: die Katze erkrankte. So oft sie Mister Dick auch durch ihre Launen und ihre Widersetzlichkeit verdrossen hatte, hing er doch an dem Tiere mit zärtlicher Liebe, und er verdoppelte die Sorgfalt, die er bisher schon in der Pflege seiner vier Reisegefährten bewiesen hatte.

Niemand wußte, woran und durch welche Ursache die Katze erkrankt war. Auch die Tierärzte, die er zu Rate zog, standen vor einem Rätsel. Der eine vermutete Gift, ein anderer Schwindsucht. Der eine wollte ihr eine Einspritzung machen, der andere verordnete ihr eine Arznei, die Mister Dick dem leidenden Tiere mit rührender Sorgfalt einzuflößen versuchte. Aber nach wenigen Augenblicken erbrach sie die Flüssigkeit wieder und wurde mit jedem Tage hinfälliger und elender.

Mister Dick hatte sich in einem Hause am Rande der Stadt eingemietet, wo er seine Tiere, von denen er sich niemals zu trennen pflegte, in dem geräumigen Hofe hinter dem Hause unterbringen konnte. Die Katze hatte er mit sich ins Zimmer genommen, wo er bekümmert und sorgenvoll dem qualvollen Leiden der Erkrankten zusah, ohne ein Mittel zu finden, ihr zu helfen. Zu seinem Mitleid kam die Sorge, was aus seiner Dressurnummer und seinem Auftreten werden sollte, wenn ihm die Katze einging. Einige Tage hindurch glaubte er wieder Hoffnung schöpfen zu dürfen, daß er sie durchbringen werde. Sie hatte freiwillig ein wenig angewärmte Milch genommen, stand auch einige Male von ihrem Lager auf und schlich mit merkwürdig ruhelosen, wenn auch kraftlosen und taumelnden Schritten durch das Zimmer. Nach einer Nacht, in der Mister Dick zum erstenmal wieder mit einiger Ruhe geschlafen hatte, mußte er sich aber am anderen Morgen zu seinem Schrecken davon überzeugen, daß ihr Zustand nur noch hoffnungsloser geworden war.

Am Abend starb sie.

Mister Dick war wie verzweifelt. Alle seine Hoffnungen waren vernichtet. Er mußte den geschlossenen Vertrag wieder lösen und wußte viel zu gut, daß es viele Monate, ja vielleicht ein Jahr oder noch länger dauern werde, bis er ein zweites Tier für seine Nummer abgerichtet haben konnte.

Aber ein Unglück kommt selten allein.

Zwei Tage nachdem er die Katze im Hofe in einer kleinen Kiste vergraben hatte, geriet der Jagdhund, den er auf einen Spaziergang mitgenommen hatte, um dem Tier nach der langen Haft im Hofe ein wenig Bewegung zu verschaffen, in eine Beißerei mit anderen Hunden und wurde dabei so kläglich zugerichtet, daß er mit einer klaffenden Wunde auf der Schulter und jämmerlich auf drei Pfoten hinter seinem Herrn herhinkend, von diesem mit in ein Auto genommen werden mußte, um ihn nach Hause zu schaffen. Da das Tier die Wunde mit der Zunge nicht erreichen und also selber nicht reinlecken konnte, ging sie nach einigen Tagen unter dem angelegten Verband trotz aller angewendeten Sorgfalt in Eiterung über, und Mister Dick mußte das Tier, als Wundfieber und Krämpfe dazu kamen, vom Tierarzt mit blutendem Herzen töten lassen.

Über diesen neuen Schlag verging dem alternden Mann völlig der Mut. Zu der Trauer über die beiden Tiere, die er so unverhofft in wenigen Tagen verloren hatte, kam die Sorge um seine Existenz. Zuletzt sah er keinen anderen Weg, als zunächst wieder ein Angebot, als Clown in einem Zirkus aufzutreten, anzunehmen. Er konnte dann immer noch sehen, was er tun wollte, und ob es ratsam war, noch einmal die mühevolle und unsichere Dressur neuer Tiere für seine Nummer zu beginnen. Den Esel und den Hahn mit auf die Reise zu nehmen, war jedenfalls zunächst nicht ratsam, und so schwer er sich von den Tieren trennte, überließ er den Hahn für die nächste Zeit seinen Wirtsleuten und brachte den Esel gegen ein entsprechendes Pflegegeld in einem Reitstall unter. Mutlos und verdrossen entschloß er sich dann, seine neue Verpflichtung anzutreten.

Von diesem Tage an war Hinnerk im wesentlichen wieder sich selber überlassen. Verlassen und einsam spazierte er täglich auf dem Hofplatz umher, wo er alle Freiheit hatte, die er nur verlangen konnte. Aber soviel er hier auch in der Erde scharren durfte, wurde ihm bei der Einzelhaft, zu der er sich verurteilt sah, doch zuletzt die Zeit lang. Dazu kam das Frühjahr, das seine Sehnsucht nach seinesgleichen so gewaltig in ihm weckte, daß er es eines Tages, als er in einem der Nachbarhöfe ein paar Hühner gackern hörte, einfach nicht mehr aushielt und kurz entschlossen und mit klatschenden Schwingen über den hölzernen Bretterzaun zu fliegen versuchte, der den Hof einschloß.

Entweder aber war der Zaun höher, als er ihn geschätzt hatte oder seine Kraft war geringer geworden. Es gelang ihm jedenfalls nicht hinüberzukommen, er rutschte vielmehr kläglich an ihm wieder herunter und stand mit verplustertem Gefieder und ein wenig zerschundenem Kehllappen nach wenig Augenblicken wieder da, wo er vorher gewesen war.

Aber so leicht war Hinnerk nicht zu entmutigen, und er versuchte es noch einmal. Aber der Erfolg war der gleiche wie vorher, und beschämt vor sich selber zog Hinnerk den Kopf zwischen die Schultern und schielte mit schiefgewendetem Kopfe zu dem Rand des Zaunes hinauf, der ihn von dem Nachbarhofe trennte. Trübselig hatte er sich schon in sein Schicksal ergeben, als er eine Ratte gewahrte, die soeben unter dem Zaune hindurchschlüpfte und augenscheinlich zu dem kleinen hölzernen Stall hinüberwechseln wollte, in welchem Hinnerk während der Nacht schlief und das Futtergefäß vom Morgen her noch mit reichlichen Resten lockte.

Angewidert und erschreckt trat Hinnerk ein paar Schritte zurück und schlenkerte mit seinem Kehllappen, als habe er etwas Unangenehmes in den Schnabel bekommen.

»Na, na!« sagte die Ratte. »Was soll das bedeuten bitte?«

»Gehen Sie mir aus den Augen!« antwortete Hinnerk. »Ich habe mit Ihresgleichen noch nie Gemeinschaft gehabt!«

»Als wenn das ein Grund wäre, sich aufzuregen«, erwiderte die Ratte und sah ihn aus ihren schwarzen Augen spöttisch an. »Ich wüßte jedenfalls nicht, wie Sie daraus ein Recht ableiten wollen, mir hier im Wege zu stehen? Einbildung ist jedenfalls schlimmer als Pestilenz, pflegte meine Mutter immer zu sagen und hatte recht darin. Im Grunde genommen sollten Sie mir dankbar sein, statt mit gesträubten Halsfedern vor mir zu stehen.«

»Dankbar? Ich wüßte nicht, warum?« fragte Hinnerk böse und streitlustig.

»Weil ich ein Loch unter den alten Bretterzaun gewühlt habe!« entgegnete die Ratte. »Wenn Sie es ein wenig erweiterten, könnten Sie hinausschlüpfen und ein wenig auf dem Zimmerplatz spazierengehen, der dahinter liegt!«

»Ah!« sagte Hinnerk, ein wenig freundlicher. »Das ist ein guter Vorschlag. Wenn der Erdboden nur nicht so hart und fest getreten wäre.«

»Oh«, meinte die Ratte, »solche Dinge stören mich nicht. Ich wühle solange, bis ich mir einen Durchgang verschafft habe, da können Sie sicher sein. Nicht nachgeben, das ist nun meine Losung. Ich hebe selbst schwere Steine mit meinen Schultern empor, wenn es sein muß. Sie, mein Herr, scheinen zu den Leuten zu gehören, die vor jedem Hindernis zu kapitulieren pflegen?«

»Durchaus nicht«, entgegnete Hinnerk. »Ich könnte Ihnen Beispiele anführen, die Sie beschämen würden. Aber ich verzichte darauf, Ihnen gegenüber recht zu behalten!«

»Das ist vernünftig gesprochen!« meinte die Ratte höhnisch.

Ärgerlich machte Hinnerk sich daran, das Loch, das die Ratte gewühlt hatte, mit seinen Füßen zu erweitern.

»Nun, unterhalten Sie sich gut dabei«, wünschte die Ratte und hob spöttisch ihre Nase. »Ich sehe, es schafft mehr, als ich Ihnen zugetraut hätte. Ich gehe mittlerweile ein wenig in Ihren Stall und will dort einmal nach dem Rechten sehen. Schade, daß Sie keine Henne bei sich haben.«

»Warum bedauern Sie das?« fragte Hinnerk unwirsch.

»Weil ich gern Eier esse«, entgegnete die Ratte.

»Pfui!« rief Hinnerk.

»Haben Sie sich bitte nicht so, nicht wahr? Man sieht, Sie sind noch nicht weit herumgekommen in der Welt.«

»Das bitte ich mir aber aus!« rief Hinnerk beleidigt. »Waren Sie schon einmal in einem Zirkus angestellt, wie ich? Sind Sie schon von einer Bühne zur anderen gereist, nein, nur ein einziges Mal öffentlich aufgetreten?«

»Nein, das kann ich nicht behaupten«, antwortete die Ratte. »Ich liebe die Öffentlichkeit überhaupt nicht, muß ich sagen, und wühle lieber im Verborgenen. Es ist sicherer und schafft ebensoviel.«

»Dann schlagen Sie bitte einen bescheideneren Ton an mir gegenüber!«

»Nun ja«, sagte die Ratte. »Jeder hat seine Erfahrungen. Aber es wäre mir lieber, Sie hätten gelernt, Eier zu legen. Es ist ein Mangel, muß ich sagen.«

Damit verschwand sie im Hühnerstall und ließ Hinnerk allein, der das Loch unter dem Bretterzaun so erweitert hatte, daß er, wenn er den Kopf tief auf die Erde neigte, schon hinaussehen konnte.

Draußen lag ein einsamer Zimmerplatz. Holzstücke und Späne lagen umher. Ein Stapel frisch behauener Balken gleißte im hellen Licht der Nachmittagssonne, und stärker als vorher erhob sich die Sehnsucht nach Freiheit in Hinnerk. Sollte er hier hinter dem unbarmherzigen alten Bretterzaun versauern? Es wurde Zeit, daß er sich auf und davon machte. Mister Dick war schon seit langem nicht mehr in den Hof gekommen, und wer wußte, ob er sich jemals wieder blicken ließ?

Von neuem begann er zu scharren. Die Erde flog nur so.

»Gut geschafft«, sagte die Ratte und schlüpfte an seinem Schnabel vorbei auf den Zimmerplatz zurück.

»Pfui, nein!« schrie Hinnerk und sprang zur Seite. Er war so vertieft gewesen, daß er die Ratte erst bemerkte, als sie schon an ihm vorbei war.

»Was beliebten Sie soeben zu bemerken?« erkundigte sie sich.

»Nichts«, sagte Hinnerk abweisend, dem Schreck und Abscheu zugleich die Worte verschlugen.

»So, das wollte ich mir auch ausgebeten haben«, antwortete die Ratte frech und verschwand.

Hinnerk schauderte es, und er schüttelte die Federn. Es war doch ein unausstehliches Tier! Es gab keins, das er so verabscheute.

Endlich! Das Loch mußte jetzt groß genug sein. Wenn er sich ein wenig Zwang antat und es im Kriechen versuchte, mußte es gehen.

Aber er hatte sich doch unterschätzt. Die lange Gefangenschaft und das gute Futter hatten ihn dicker werden lassen, als ihm jetzt gut war, und er kam nur so weit, daß er sich gründlich festklemmte und weder vorwärts noch rückwärts konnte.

Er drängte und schob sich mit aller Kraft vorwärts – vergeblich, es ging nicht.

Der Kamm schwoll ihm von der Anstrengung und sein Kehllappen lief so rot an wie eine überreife Erdbeere.

»Na? Wollen Sie vielleicht für immer da sitzen bleiben?« fragte die Ratte, die unter einem Haufen alter Dachsparren wieder zum Vorschein kam.

»Was denken Sie!« antwortete Hinnerk verzweifelt und schon ganz ermattet von seinen Anstrengungen sich zu befreien. »Das habe ich durchaus nicht vor. Die Sache ist einfach die, daß ich das Loch doch noch nicht weit genug gescharrt habe und nun ein wenig hier festsitze.«

»Prachtvoll!« rief die Ratte und kam näher, als Hinnerk lieb war.

»Das nennen Sie prachtvoll?« fragte Hinnerk und vor Wut sträubten sich ihm die Halsfedern.

»Allerdings«, bestätigte die Ratte. »Ich könnte Ihnen nun gut in aller Ruhe die Beine abnagen.«

»Sie Scheusal!« rief Hinnerk aufgeregt und empört. »Das sähe Ihnen ähnlich! Kommen Sie mir gefälligst nicht zu nahe, das rate ich Ihnen!«

»Warum nicht?« fragte die Ratte. »Aus der Entfernung geht es doch nicht!«

»Hüten Sie sich!« schrie Hinnerk drohend und mit zornfunkelnden Augen.

»Wovor?« fragte die Ratte höhnisch. »Doch nicht vor Ihren Sporen? Die haben Sie ja, soviel ich sehe, gut unter Ihrem Leibe verwahrt, und wenn ich mir hier einen Gang grabe, kann ich von unten her ohne jede Gefahr an Ihre Läufe kommen. So ein Hühnerbein ist eine Delikatesse. Ich weiß das aus Erfahrung. Es ist noch nicht so lange her, daß ich ein paar da drüben auf dem Kehrichthaufen gefunden habe.«

Hinnerk war es bei den Worten der Ratte siedend heiß geworden. Es war klar, daß er, hilflos eingeklemmt, der Ratte ausgeliefert war, wenn sie sich tatsächlich daran machte, sich unter dem Erdboden zu ihm hinzuwühlen.

Mochten alle Rückenfedern dabei in die Brüche gehen – er mußte frei werden, vorwärts oder rückwärts galt ihm gleich.

Aber es ging nicht, und verzweifelt und völlig erschöpft wollte er sich schon in sein Schicksal ergeben, als er auf den Gedanken kam, ob er nicht besser tat, sich seitlich herumzudrehen, ähnlich so, wie er es machte, wenn er ein Staubbad nahm? Vielleicht, daß er sich so am leichtesten ein wenig mehr Raum verschaffen könne. So war es ihm auch am Ende möglich, seine Beine vor den Zähnen der Ratte zu retten.

Mit dem Rest seiner Kraft begann er darum sich herumzudrehen. Aber auch das war leichter gedacht, als getan. Immerhin, es ging, ruckweise kam er weiter und – o Freude – jetzt bekam er auch eines seiner Beine frei, konnte mit den Zehen vor den Rand des Bretterzaunes fassen und sich dadurch kräftiger als vorher nach vorn pressen.

Noch ein Ruck, ein verzweifeltes Ziehen mit seinen Krallen, und er war frei. Die Erde aus den Federn schüttelnd, stand er auf dem Zimmerplatz, schwach in den Läufen und Zehen – aber doch heil und unversehrt.

Hurra! Das war Hilfe in der Not.

»Na, da haben Sie mehr Glück als Verstand gehabt!« rief die Ratte und zog sich vor Hinnerks Schnabel und Sporen wieder unter den alten Holzhaufen zurück, unter dem sie wohnte.

»Wagen Sie es nicht, wieder an den Tag zu kommen, solange ich hier stehe!« rief Hinnerk und senkte kampfbereit die Flügel. »Ich bin imstande und hacke Ihnen die Augen aus!«

»Dazu gehören zwei«, antwortete die Ratte frech, »einer der hackt und einer, der sich hacken läßt!«

»Kommen Sie nur her!« schrie Hinnerk wütend, »damit wir sehen, wer oben bleibt!«

Aber die Ratte zog vor zu bleiben, wo sie war.

»Gute Reise«, rief sie. »Ich sehe, Sie wollen weiter. Halten Sie sich nicht mehr lange auf, nicht wahr? Wenn Sie heute abend zurückkehren, besuche ich Sie über Nacht drüben in Ihrem Stall. Wir wollen sehen, ob Sie dann auch soviel Mut haben wie jetzt.«

»Da können Sie lange warten!« antwortete Hinnerk. »Ich habe nicht die Absicht, wieder hierher zurückzukehren.«

»So eine Bestie«, dachte er erzürnt, als er weiterging. »Schade, daß ich ihr nicht an den Pelz konnte. Aber Respekt hatte sie doch, und das ist die Hauptsache!«

Ohne große Eile ging er weiter.

Es war ein schöner Nachmittag. Die Sonne schien herrlich warm. Und die ersten Schwalben schossen über den Platz, wippten mit einem Schlag ihrer Flügel über Balken und Bretterhaufen hinweg und schwangen sich dann wieder in die Luft empor.

Neiderfüllt sah Hinnerk ihnen nach. Es war ein Jammer, daß er nicht zu fliegen vermochte wie sie. Beschämt dachte er an den Bretterzaun zurück, den er nicht hatte überfliegen können und wie ein Maulwurf unterwühlen mußte, um frei zu werden.

Auf der einsamen, noch unbebauten Straße, an welche der Zimmerplatz grenzte, sauste ein Auto vorbei und schreckte Hinnerk von der eingeschlagenen Richtung wieder ab. Nein, vor Straßenwagen und Menschen hatte er nach den schlechten Erfahrungen, die er früher mit ihnen gemacht hatte, einen gehörigen Respekt. Da war es schon besser, auf gut Glück feldeinwärts zu gehen.

Ein Graben, der den Platz vom freien Felde trennte, war bald überflogen, vor ihm dehnten sich unendliche Wiesen aus, und Hinnerk schritt tapfer aus, um davonzukommen. Um ihn war es still und menschenleer, aber er mäßigte seinen Schritt nicht eher, bis er auf eine Viehweide kam, wo ein paar Ziegen an langen Halfterketten im tiefen Grase standen und eine dumpfe Erinnerung an seine Heimat und Anntje Kiekuts Hof in ihm weckten.

Schon wollte er über den nächsten Graben fliegen, als die letzte der Ziegen verwundert den Kopf hob und mit langsamem Schritt so weit auf ihn zukam, als die Kette nur reichen wollte.

Verwundert blieb auch Hinnerk stehen.

»Ja, sind Sie es oder sind Sie es nicht?« fragte er und starrte auf den weißen Stern vor ihrer Stirn.

Wirklich, sie war es. Lena, von Anntje Kiekuts Nachbarhof. Als Hinnerk von Worpswede fortkam, war sie kaum erwachsen gewesen. Aber er hatte sie zu oft auf der Wiese hinter Anntjes Knick getroffen, wenn sie an stillen Sommertagen dort angepfählt gestanden und sich am grünen Grase gesättigt hatte.

»Hinnerk?« fragte sie. »Nein, wie ist das möglich!«

»Ja«, sagte Hinnerk, schlug vor Begeisterung und Stolz mit den Flügeln und krähte vor Freude. »Was für ein glückliches Wiederbegegnen. Wie kommen Sie denn nur hierher, meine Beste? Ist Worpswede so nahe?«

»Nein«, antwortete die Ziege. »Es wird noch ein gehöriges Ende bis dorthin sein.«

»Dann sind Sie auf und davon gegangen wie ich?« fragte Hinnerk erregt und froh.

»Durchaus nicht«, antwortete die Ziege. »Unsereiner kommt ja in seinem Leben nie von der Kette los, das wissen Sie doch. Nein, ganz einfach, die alte Trin-Aleid in Worpswede hat mich hierher verkauft. Ich bin schon lange drüben in der Stadt und jeden Abend holt man mich von der Weide wieder dorthin zurück. Das letzte Haus da drüben, das Sie sehen können … Und Sie? Wie geht es Ihnen? Sind Sie hier auch in der Nähe zu Hause?«

»Schönen Dank für die Nachfrage!« antwortete Hinnerk. »Ich bin wieder einmal durchgebrannt und wäre nicht böse, wenn ich von hier aus auf irgendeinem Wege wieder nach Worpswede zurückkäme. Wissen Sie, in welcher Richtung man gehen müßte?«

Nein, die Ziege wußte es nicht. Man hatte sie, als sie in die Stadt verkauft worden war, gefahren, und da behielt man die Richtung nicht. Es war auch schon zu lange her.

»Wenn ich nur ein wenig Aussicht gewinnen könnte«, seufzte Hinnerk. »Sie wissen, ich habe gute Augen. Aber hier in den Wiesen sieht man höchstens bis zum nächsten Graben. Aber erzählen Sie, Lena, wie mag es in Worpswede gehen? Lebt Anntje Kiekut noch?«

»Warum sollte sie nicht mehr leben?« antwortete Lena seelenruhig, rupfte einen Grashalm ab und begann ihn gelangweilt zu verzehren.

»Und wie mag es meinen Hennen gehen?« fragte Hinnerk lebhaft. »Ob sie noch alle am Leben sind?«

»Kann sein, kann auch nicht sein«, antwortete die Ziege. »Ich bin schon zu lange von dort weg, wissen Sie, und erinnere nicht einmal die Namen mehr. Ich weiß nur, daß in den Wochen, ehe ich fortkam, dort ein neuer Hahn ins Haus gekommen ist. Schneeweiß mit rotem Kamm. Ein stattlicher Kerl.«

»Wie?« rief Hinnerk empört und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. »So eine Undankbarkeit! Ich werde in die Welt hinausgestoßen und kann sehen, wie ich mein Leben friste, – und zu Hause – – nun, das gibt einen Kampf, wie er noch nicht dagewesen ist, kann ich Ihnen sagen! Lassen Sie mich nur heimkommen! Ich werde keine Gnade kennen. Meine Sporen sind nicht kürzer geworden und stumpfer auch nicht, kann ich versichern. Weiß mit rotem Kamm, sagten Sie? Pack! Der Gelbhaubenkakadu war sicher ein stattlicherer Kerl als dieser Eindringling. Sie glauben nicht, wie spielend ich mit ihm fertig geworden bin!«

»Das mag gern sein«, antwortete die Ziege gelangweilt und begann wieder zu fressen. »Ich kann Ihnen aber sagen, der junge Mann ist nicht von schlechten Eltern, wie man mir erzählte.«

»Was heißt denn das?« schrie Hinnerk wütend und aufgeregt. »Sollte er sich vielleicht mit mir vergleichen können? Ist er vielleicht als Bremer Stadtmusikant durch die Welt gezogen und jemals in einem Zirkus aufgetreten? Ich habe mehr gesehen und mehr erlebt, kann ich Ihnen sagen, als in seinen Schädel gegangen wäre. Lassen Sie mich nur heimkommen, sage ich Ihnen, dann werden wir schon sehen, wer Herr im Hause ist!«

Aufgeregt schritt er weiter.

»Sie wollen schon gehen?« fragte die Ziege.

»Allerdings! Ich meine, es wird Zeit für mich. Ein junger Hahn unter meinen Hennen? Da soll doch gleich –«

Da war er schon über den Graben. Er guckte sich nicht einmal mehr um.

Freilich, den Weg zu finden war nicht leicht. Aber bisher hatte er immer noch Glück gehabt. Weiter, nur weiter! Die Welt war groß, gewiß. Größer jedenfalls, als er sich früher jemals gedacht hatte. Aber schließlich war Worpswede kein Maulwurfshaufen, und irgendwie mußte doch hinzufinden sein.

Zu seiner Freude erblickte er am Ende der nächsten Wiese einen Storch. Langsam und bedächtig, mit richtigem Professorenschritt, spazierte er an einem Graben entlang und guckte tiefsinnig in das Wasser, das von Kraut und Entenflott bedeckt wie ein smaragdgrüner ebener Weg an der Wiese entlang ging.

»Halloh!« rief Hinnerk und näherte sich dem Storch in der Hoffnung, abermals einem alten Bekannten zu begegnen. Aber Hans Langbein sah nur verwundert auf, und Hinnerk merkte, daß er, statt seines hochmütigen Freundes aus Worpswede, einen Vetter desselben vor sich hatte.

»Entschuldigen Sie«, sagte er höflich, »ich habe mich ein wenig in der Gegend verbiestert, und da Sie wegkundiger sind als andere Leute –«

»Reden Sie keinen Stuß!« – unterbrach ihn der Storch. »Sagen Sie lieber, wohin Sie wollen!«

»Könnten Sie mir sagen, in welcher Richtung Worpswede liegt?«

»Worpswede?« wiederholte der Storch und kratzte sich mit den Zehen seines Fußes hinter den Ohren. »Den Namen habe ich noch nicht gehört, muß ich sagen. Ist das eine Hühnerfarm, wie sie jetzt allenthalben aus dem Boden schießen?«

»Nein«, antwortete Hinnerk. »Es ist nur ein Dorf, aber ein Weltdorf, wie ich mir habe sagen lassen. Es liegt am Weiherberge in der Nähe des Teufelsmoors, wenn Sie da Bescheid wissen.«

»Bescheid? Das kann ich nicht sagen. Aber meine Frau ist dort geboren und hat mir oft davon erzählt. Sie wollte immer, daß wir dorthin ziehen sollten. Aber ich bin nun einmal ein Hanseat, wissen Sie, und da sehe ich eigentlich nicht die Notwendigkeit ein.«

»So, so«, sagte Hinnerk. »Allerdings –«

»Ich bin darum auch noch nie dort gewesen«, fuhr der Storch fort, fuhr mit dem Schnabel ins Wasser, holte einen Frosch herauf und verschluckte ihn. »Ich sehe manche Dörfer und Städte, wenn ich im Herbst nach Ägypten fliege. Aber schließlich kann man nicht alles wissen, sehen Sie. Fragen Sie Ana, die Ente. Vielleicht, daß sie Ihnen Auskunft geben kann.«

»Aber wo finde ich Sie?« fragte Hinnerk enttäuscht.

»Da müssen Sie sehen! Sie hält sich selten sehr lange in einer Gegend auf und kommt auch nicht gern so nahe an die Stadt heran. Wenn Sie weiter ins Feld hinauskommen, haben Sie mehr Aussicht, ihr zu begegnen.«

Er machte ein paar Hüpfsprünge, breitete seine Flügel aus und flog davon. Es rauschte ordentlich.

Verstimmt sah Hinnerk ihm nach.

Es war doch zu ärgerlich, ihn einfach so stehen zu lassen. Aber er hatte es ja schon immer gesagt, diese Störche waren eine hochmütige Sippe. Jeder von ihnen tat, als wenn er die Weisheit mit Löffeln gegessen hätte, wenn man aber näher zusah, war nie etwas dahinter. Da sollte ihm nur einmal einer wiederkommen!

Verdrossen und mißmutig ging er weiter, überflog von neuem einen Graben, kam über eine Weide, auf der soeben die Kühe gemolken wurden, und zog es darum vor, sich am Grabenrand an den Mägden vorbeizuschleichen. Es war für alle Fälle besser, wenn er nicht gesehen wurde. Hier im freien Felde, wohin niemals einer seinesgleichen kam, aufzufallen, war sicher gefährlich.

Erst als die Sonne untergegangen und das Feld menschenleer geworden war, wagte er es, auf einem Schlagbaum am Wege sein Nachtquartier aufzuschlagen. Er hätte gern ein Stück höher gesessen, aber es war immer noch besser, in der weiten baumlosen Ebene zwei Ellen über dem Boden zu schlafen, als im Grase auf der taufeuchten Erde zu hocken.

Am anderen Morgen machte er sich in aller Frühe von neuem auf den Weg, aber bei dem Regen, der seit dem Morgengrauen vom Himmel herabrann, war er froh, als er nach kurzer Wanderung an einen Weidenbusch gelangte, unter dem er ein wenig Schutz fand und sich die Tropfen aus den Federn schütteln konnte. Nein, er liebte keinen Regen, am wenigstens einen so durchdringenden wie diesen, und wer ihn mit hängendem Schwanz, niedergeschlagen und mit klatschnassem Gefieder unter der alten Weide hätte stehen sehen, wäre über seine Stimmung nicht in Zweifel gewesen.

Endlich, gegen Mittag, hörte der Regen auf, die Sonne brach wieder durch die Wolken und begann seine Federn zu trocknen, die ihm trübselig über Hals und Sattel hingen, und von neuem Mute erfüllt, machte er sich wieder auf den Weg, überflog einen Wassergraben nach dem andern, die hier, alle hundert Hahnenschritte einer, das Gelände durchschnitten, bis er zuletzt an einen so breiten Zuggraben kam, daß er sich nicht getraute, hinüberzufliegen.

So blieb ihm nichts anderes, als vorderhand daran entlangzuspazieren und dabei nach einer Gelegenheit auszuspähen, auf andere Weise hinüberzukommen.

Kaum war er ein paar Minuten unterwegs, als sich mit heiserm Gekreisch ein Vogel von der Größe einer jungen Krähe vor ihm aus dem Grase erhob und wieder und wieder dicht vor seinem Kopfe vorüberflog. »Greta, greta, greta!« schrie er, aufgeregt und so hastig, wie er es nur herausbringen konnte.

»Haben Sie vielleicht Ihre Frau verloren?« rief Hinnerk und blieb stehen.

»Durchaus nicht«, antwortete die Pfuhlschnepfe.

»Ja, warum schreien Sie denn dann so besessen nach ihr?«

»Was geht Sie das an?« antwortete die Pfuhlschnepfe zornig, faltete ihre Flügel zusammen und ließ sich dicht vor Hinnerk nieder. Dabei hob sie kampfentschlossen ihren langen Schnabel und sträubte die Halsfedern.

»Friedlich! Friedlich!« mahnte Hinnerk. »Was soll die Aufregung? Sie wirkt nur komisch bei einem Kerl, wie Sie einer sind.«

»Noch einen Schritt weiter – und ich bohre Ihnen meinen Schnabel in die Brust, darauf können Sie sich verlassen!« schrie die Pfuhlschnepfe.

»Langsam, langsam!« antwortete Hinnerk und zupfte verächtlich einen Grashalm ab. »Darf man fragen, warum Sie mir hier kurzerhand den Weg verbieten?«

»Haben Sie vielleicht keine Augen im Kopfe?« schrie die Pfuhlschnepfe.

»Ich denke doch«, entgegnete Hinnerk.

»Und dann sehen Sie nicht, daß Sie nahe daran sind, mein Nest zu zertreten und meine Jungen dazu, wenn Sie so dummfrech weitergehen?«

»Ach so«, sagte Hinnerk gedehnt. »Das hätten Sie doch nur gleich sagen können. Ich habe durchaus nicht vor, einen Kindermord zu begehen. Wo haben Sie Ihr Nest denn? Alle Achtung! Sieben Stück!«

»Nicht mehr und nicht weniger!« antwortete die Pfuhlschnepfe. »Es ist bereits das zweite Gelege. Das erste hat die Überschwemmung uns genommen, die wir noch vor einigen Wochen hier auf den Wiesen hatten. Einen Tag vor dem Schlüpfen lagen die Eier im Wasser und trieben mit der Flut davon. Ja, wir haben es nicht leicht gehabt hier in diesem Jahre. Sie verstehen, daß man da mißtrauisch wird und doppelt scharf aufpaßt!«

»Gewiß! Aber diese hier sind prächtig, das muß man sagen!« antwortete Hinnerk und sah mit langem Halse auf das Nest herab, das, in eine Bodenvertiefung gebettet, wohl verborgen im hohen Grase lag. Es gehörten schon Falkenaugen dazu, um es zu entdecken.

Ein wenig beruhigt über Hinnerks Absichten, lief die Pfuhlschnepfe jetzt zu den kläglich piepsenden Jungen hin und deckte sie mit den Flügeln zu.

»Wie kommen Sie überhaupt hierher?« fragte sie. »Und was wollen Sie hier in den Wiesen? Ich niste hier schon im dritten Jahre, aber Ihresgleichen habe ich hier noch nie gesehen.«

»Das glaube ich wohl«, sagte Hinnerk. »Ich komme aus der Stadt und will nach Worpswede. Das ist meine Heimat, wissen Sie. Ich habe nämlich eine Reise um die Welt gemacht und habe den Kram über, verstehen Sie?«

»Eine Reise um die Welt?« fragte die Pfuhlschnepfe verwundert. »Ja, das ist etwas! Unsereiner kommt ja in jedem Jahre über Winter auch ein gutes Stück in der Welt herum, aber soweit versteigen wir Pfuhlschnepfen uns doch nicht. Da müssen Sie übrigens ganz ausgezeichnet fliegen können?«

»Durchaus nicht«, sagte Hinnerk mit edlem Freimut. »Alles zu Fuß, verstehen Sie? Es ist mir nicht so leicht gemacht worden wie Ihnen. Wenn ich Sie wäre – ich flöge mit den Wolken, das kann ich Ihnen sagen.«

»So, so! Mit den Wolken! Sieh doch einer an! Auf was für Gedanken man doch kommen kann! Aber nun gehen Sie weiter, wenn ich bitten darf. Meine Kinder bedürfen der Ruhe, und ich kann nicht stillsitzen, solange Sie hier um das Nest herumspazieren.«

»Wissen Sie vielleicht den Weg nach Worpswede?« fragte Hinnerk. »Ich wäre Ihnen dankbar. Es muß nicht mehr sehr weit hin sein, wenn mich nicht alles täuscht. Wenn ich nur irgendwo ein wenig Aussicht gewinnen könnte, würde ich es sicher entdecken.«

»Worpswede?« fragte die Pfuhlschnepfe nachdenklich. »Ich meine allerdings, daß ich den Namen schon einmal gehört hätte …«

»Wenn Sie nicht mehr wissen –!«

»Fragen Sie den Kiebitz!« riet ihm die Pfuhlschnepfe. »Der kommt ein gutes Stück in der Welt herum. Vielleicht, daß er es weiß. Dort drüben fliegt er. Sie kennen ihn doch?«

»Natürlich!« antwortete Hinnerk. »Aus Worpswede sein und keinen Kiebitz kennen! Im Gegenteil: Er ist ein guter Bekannter von mir. Na, dann auf Wiedersehen also! Lassen Sie sich da auf dem Nest die Zeit nicht zu lang werden. Wozu übernehmen Sie überhaupt solche Dinge. Lassen Sie doch Ihre Frau für die Kinder sorgen. Ich habe noch nie einen Versuch unternommen, Kücken aufzuziehen.«

»Das macht nun jeder nach seiner Weise!« antwortete die Pfuhlschnepfe gekränkt.

»Na ja, ich meine nur so! Deswegen brauchen Sie doch nicht gleich beleidigt zu sein. Es ist ja durchaus möglich, daß Ihre Frau zu dumm oder zu faul dazu ist.«

»Was fällt Ihnen eigentlich ein?« rief die Pfuhlschnepfe empört. »Wenn ich nun behaupten wollte, daß Sie zu dumm oder zu faul wären, an Ihre Kinder zu denken?«

Aber Hinnerk hatte ihr schon den Rücken zugewandt und überhörte die Worte.

»Denn dumm genug sind Sie«, fuhr die Pfuhlschnepfe fort. »Das hat sich schon vorhin gezeigt, als Sie auf mein Nest losmarschierten. Und jetzt sind Sie auf dem besten Wege, in die Wasserlache da drüben hineinzulaufen! Nicht da herum, Mann!« schrie sie ihm nun mit lauter Stimme nach.

»Warum nicht?« fragte Hinnerk und wendete sich um.

»Sehen Sie denn nicht, daß die Stelle sumpfig ist?« rief die Pfuhlschnepfe. »Wenn ein Kerl wie Sie hineintritt, können Sie das schönste Schwimmbad nehmen. Gehen Sie lieber auf die Hundsblumen zu, die Sie vor sich sehen. Dort ist der Boden höher und trockner. Das sollten Sie eigentlich selber wissen.«

»Danke!« rief Hinnerk, der zu stolz war, die gutgemeinte Warnung zu beachten. »Ich bin nicht bange vor dem bißchen Wasser, das hier zwischen dem Grase steht, wenn ich auch keine Storchbeine mitbekommen habe.«

»Na, denn lop to«, brummte die Pfuhlschnepfe.

»Hätte ich nur gehorcht«, dachte Hinnerk, als er eine Weile weitergegangen war, der Boden immer weicher und nachgiebiger wurde und ihm das Wasser allmählich bis an den Leib heraufstieg. »Verwünschte Bescherung!« Und dabei hatte die Fläche unter den hohen Grashalmen so harmlos ausgesehen.

Nein, da half nun alles nichts – er mußte die Flügel gebrauchen –, wenn er nicht elend in diesem Sumpfe steckenbleiben wollte. Aber auch das war leichter gesagt als getan, und er war froh, als er durchnäßt und auf den Tod ermattet bei der Löwenzahngruppe auf einer höhergelegenen Stelle landete und sich verschnaufen konnte.

Ärgerlich schüttelte er sich die Wassertropfen aus den Federn. Im Wasser herumzupatschen war seine Sache nicht. Schließlich war er keine Pfuhlschnepfe.

Entrüstet ging er weiter.

»Sieh, sieh, sieh!« schrien ein paar Mauersegler und schossen wie Pfeile über seinen Kopf hinweg.

»Sieh, sieh, sieh? Was soll ich denn sehen? Sagen Sie mir lieber, wie ich auf dem kürzesten Wege nach Worpswede komme.«

Aber die Segler waren schon längst davon und hörten nicht mehr, was er rief.

Ja, es war ärgerlich. Dieses Takelzeug! Kaum waren sie da, waren sie schon wieder davon. »Fliegenjäger!« schimpfte Hinnerk ihnen nach. Er war zu wütend.

Mit schiefgewendetem Kopfe stelzte er weiter und steuerte, ohne es zu ahnen, auf ein Kiebitznest los.

»Nanu?« rief ihn der Kiebitz an. »Schlafen Sie vielleicht mit offenen Augen?«

»Entschuldigen Sie bitte«, antwortete Hinnerk verwirrt, während der Kiebitz, der aufgeregt von seinem Nest aufgestanden war, ihm mit klatschenden Flügeln um den Kopf flog. »Wohin man hier kommt, läuft man Gefahr auf eine Kinderwiege zu treten. Es ist wirklich zum Nervöswerden!«

»Ach was!« schrie der Kiebitz. »Passen Sie gefälligst auf, wenn Sie hier im Felde spazierengehen wollen. Gestern habe ich erst einen Kampf mit einer Kuhmagd ausgefochten und heute früh mit einer Wasserratte. Nun kommen Sie noch und schützen Dummheit vor! Sie sind der Frechste von allen dreien.«

»Finden Sie?« fragte Hinnerk geschmeichelt. Ja, mit ihm war nicht gut Kirschen essen, am wenigsten heute morgen. Er machte aber doch einen Bogen um das Nest, das von Grasbüscheln umstanden auf der nackten Erde lag.

»Es sah wirklich aus, als hätten Sie keine andere Absicht, als mir das Gelege zu zertrampeln«, meinte der Kiebitz, ein wenig versöhnt.

»Durchaus nicht«, versuchte Hinnerk ihn vollends zu beruhigen. »Ich weiß, daß Sie sehr zerbrechliche Eier zu legen pflegen. Jedenfalls halten sie keinen Vergleich mit einem Hühnerei aus.«

»Was soll das heißen?« erboste sich der Kiebitz von neuem. »Gehen Sie jetzt weiter oder nicht?« Aufgeregt und tollkühn schoß er abermals an Hinnerks Kopf vorbei, kam – hui! – sofort im Bogen wieder herum und hackte abermals nach Hinnerks Augen.

»Benehmen Sie sich!« schrie Hinnerk ärgerlich. »Sie sehen doch, daß ich Ihre Eier völlig ungeschoren lasse! Eben vorhin habe ich einen ähnlichen Auftritt mit der Pfuhlschnepfe gehabt. Aber ich muß sagen, Sie hat sich gebildeter im Umgang erwiesen als Sie! Sie wußte wenigstens abzuschätzen, wen sie vor sich hatte.«

Endlich war er weit genug vom Nest entfernt und der Kiebitz ließ sich ins Gras hinab, um auf einem Zickzackwege zu seinem Gelege zurückzukehren.

»Wissen Sie, wie ich auf dem nächsten Wege nach Worpswede komme?« rief Hinnerk aus der Entfernung.

»Ach, lassen Sie mich gefälligst in Ruhe«, antwortete der Kiebitz unwirsch. »Gehen Sie gefälligst Ihrem Schnabel nach. Für uns Kiebitze wird auch kein Wegweiser ins Feld gestellt.«

»Was sind das für Redensarten!« schrie Hinnerk. »Sie wollen doch nicht am Ende frech werden, wie? Haben Sie vielleicht Lust, meine Sporen kennenzulernen? Ich möchte doch sehen, wo Sie blieben, wenn Sie sich im Ernste mit mir messen wollten! Aber Sie sind kein Gegner für mich. Ein Großmaul sind Sie, und ein Frechdachs dazu, verstehen Sie mich?«

Nein wirklich, herumzufragen hatte keinen Zweck. Man holte sich nur freche Antworten und hatte am Ende nur noch den Spott dazu. Nein, selbst war der Mann, und keine Seele würde er wieder fragen. Basta. Fertig.

Er marschierte nun wieder dicht am Zuggraben entlang, aber seine Hoffnung, endlich an einen Steg zu kommen, der hinüberführte, war vergeblich. Ja, nach einer halben Stunde sah er zu seinem Schrecken, daß der Graben in einen Fluß mündete, der gemächlich und breit durch die unabsehbar weiten Wiesen zog. Hinüber zu fliegen wäre der sichere Tod für ihn gewesen. Ratlos und verzweifelt blieb er stehen.

Aber die Hilfe war näher, als er angenommen hatte. Mit braunem Segel kam langsam vor dem Wind ein Torfboot den Fluß herauf. Der Torfbauer, der in der Stadt seinen Torf verkauft hatte und nun mit leerem Boote wieder nach Hause fuhr, stand mit einer langen Ruderstange am Ende des schweren Bootes und steuerte es, um die Strömung besser zu überwinden, so ruhig und geschickt am Ufer hin, daß die Bordwand seines Schiffes die raschelnden Schilfstengel streifte, die dort aus dem braunen Wasser emporwuchsen.

War es Verzweiflung oder Schläue? Mit kühnem Schwung und ohne sich lange zu besinnen war Hinnerk auf das langsam vorbeitreibende Schiff und die niedrige Rahe geflattert, die das braune Segel trug.

Triumphierend klatschte er mit den Flügeln, als er den Platz erreichte, den er sich ausersehen hatte und rief ein freudiges »Kikeriki!« über Fluß und Wiesen hin.

Dem Torfschiffer fiel vor Verwunderung beinahe die Pfeife aus dem Mundwinkel. Das war ihm doch noch an keinem Tage passiert! Mehr als hundertmal war er mit seinem Schiff nach der Stadt und wieder zurück gefahren, aber ein Hahn war ihm nicht ein einziges Mal dabei zugeflogen, am wenigsten hier in den einsamen Wümmewiesen.

Lebhafter geworden, als sonst seine Art war, hielt er sogleich auf die Mitte des Flusses zu. Dort konnte der Hahn so leicht nicht wieder vom Schiff, und wenn es Abend wurde, konnte er langsam, Stück für Stück, das Segel herunterlassen, den Hahn bei den Beinen nehmen, in einen Sack stecken und als Sonntagsbraten mit nach Hause nehmen. Nur Geduld!

Ein schöner Kerl, wie er da oben saß und den Schwanz mit den langen bunten Federn vor der braunen Wand des Segels herabhängen ließ. Und so selbstverständlich und ruhig saß er da, als gehöre er nirgend anders hin, als gerade hierher, nur daß er mit klugen feurigen Augen ein wenig mißtrauisch auf den Bauern heruntersah, der keine Miene machte, ihn von seinem Sitze zu vertreiben oder sich ihm überhaupt zu nähern.

Das war ja eine ausgezeichnete Reisegelegenheit! Er brauchte weder Beine noch Flügel zu rühren und kam doch schneller weiter, als bei seinem Marsch durch die endlos weiten Wiesen.

Gut, daß das Segel in dem flauen Wind so ruhig unter ihm hing und ihm das Sitzen dort oben nicht ungemütlich machte. Nur das Knarren des Eisenringes, der die Rahe am Maste festhielt, erschreckte ihn zuweilen.

Wenn er nur nicht hungrig geworden wäre da oben. Unruhig erhob er sich zuletzt und begann auf der Rahe hin- und her zu rücken.

Der Bauer ahnte seinen Kummer.

Lockend brach er von den Schwarzbrotschnitten, die er in einem kleinen Korbe verwahrte, kleine Brocken ab und warf sie vor den Augen des hungrigen Hinnerk auf den Schiffsboden.

Mit schief gewendetem Kopfe blickte dieser mißtrauisch hin. Aber der Hunger überwand zuletzt alle seine Bedenken – und mit klatschenden Flügelschlägen flatterte er hinab.

Hoppla! Beinahe wäre er dabei über Bord gegangen. Aber es ging gut, und das Brot schmeckte vortrefflich, beinahe ebenso gut wie die Stücke, die es früher zuweilen bei Anntje Kiekut auf dem Hühnerhofe gegeben hatte.

Da flog ein besonders schöner Brocken zu ihm herüber, so groß und stattlich, daß er ihn unmöglich auf einmal bewältigen konnte.

Eifrig hatte er eben begonnen, ihn mit dem Schnabel zu bearbeiten, da wurde es plötzlich dunkel über ihm, und ehe er noch erschreckt zur Seite springen konnte, fiel etwas Weiches auf ihn herab und bedeckte ihn so völlig, daß er in der plötzlichen Dunkelheit vor seinen Augen nur wild mit den Flügeln um sich schlagen konnte.

Aber da hatten ihn auch schon die Fäuste des Bauern ergriffen. Lachend zog ihn dieser unter dem alten Sack hervor, den er über ihn geworfen hatte, steckte ihn in den Henkelkorb, den er vorher für ihn geleert hatte, setzte ihn durch die Luke in die kleine Kombüse und ließ im nächsten Augenblick den geteerten Lukendeckel wieder zufallen … Hinnerk war abermals ein Gefangener! Niedergeschlagen saß er im Dunkel unter dem weidengeflochtenen Deckel des engen Korbes, in den ihn der Torfbauer gesteckt hatte, und während das Wasser draußen an die Wände des Schiffes klatschte und bullerte, fuhr der gute Hinnerk in dem blinden Glück, das ihn zeit seines Lebens nicht verlassen hatte, ahnungslos und in dumpfem Hinbrüten wieder seiner Heimat entgegen, die er so lange vergeblich gesucht hatte.

+++

Am andern Morgen fühlte er sich über Land getragen, auf einer rauchigen Lehmdiele bei den Flügeln aus dem Korb gehoben und sah sich ein paar Augenblicke später auf einen Wiemen gesteckt, auf dem neben ihm ein gutes Dutzend Hühner saß und darauf wartete, hinaus und ins Freie gelassen zu werden, eines immer noch schöner als das andere.

Verdutzt und sprachlos stand Hinnerk eine Weile da, ohne sich zu bewegen. Ja, war es denn zu glauben? Die Welt war doch ein wunderliches Ding, und wenn man im tiefsten Elend saß, brauchte man nur den andern Morgen abzuwarten, um ohne Mühe in hellstem Glück zu stehen …

»Kikeriki!« schrie er, in plötzlich hervorbrechender Freude und entzückt von der anmutigen und zahlreichen Gesellschaft, in die er sich plötzlich versetzt sah. »Ergebenster Diener, meine Damen! Ich bin Hinnerk, Weltfahrer, Zirkuskünstler, Wieselbesieger und Schlangentöter. Aber haben Sie keine Angst, ich weiß, wie Damen zu behandeln sind …«

»So eine Unverschämtheit!« erklang da aus der Ecke die Stimme eines anderen Hahnes, den Hinnerk in dem Halbdunkel des Stalles noch gar nicht gesehen hatte. »Wagen Sie es nicht, meine Hennen zu belästigen!«

Drohend kam der Halskragen seines Gegners, der sich durch die Schar der Hühner herzugedrängt hatte, in die Höhe und ein Paar Augen funkelten ihn an, daß Hinnerk einen Schritt zurücktrat.

»Was soll das heißen?« rief er verächtlich und senkte gleichfalls den Kopf zum Angriff.

»Machen Sie, daß Sie aus meinem Stall kommen!« schrie der rotbrüstige Hahn, der bisher Alleinherrscher auf dem Hofe gewesen war. »Wer sind Sie überhaupt und wie kommen Sie hierher?«

»Was geht Sie das an?« antwortete Hinnerk. »Sie sind ein Gelbschnabel in meinen Augen, verstehen Sie mich?«

»Was sagten Sie? Ich – ein Gelbschnabel? Das wollen wir sehen, mein Herr! Ein Gelbschnabel! Sagten Sie nicht so? Das werden Sie büßen!«

Mutig stürzte er sich auf Hinnerk und fuhr ihm mit den Sporen ins Gesicht, als habe sich der gute Junge lange nicht gekämmt und er müsse es nun energisch bei ihm nachholen.

Aber Hinnerk kannte solche Späße, zog gewandt und zur rechten Zeit den Kopf zurück, stieß im nächsten Augenblick selber mit dem Schnabel zu und hackte seinem Gegner in den Kamm, daß ihm das Blut in die Kopffedern tropfte.

Aber das war nur der Anfang!

Erschreckt drängten sich die Hühner in die hinterste Ecke des Stalles zusammen, um den beiden Kampfhähnen Platz zu machen und nicht unversehens einen Stoß mit abzubekommen.

Das gab einen Kampf – die Federn flogen nur so! Hinnerk war stärker und schwerer, aber sein Gegner gewandter und schneller. Auch kannte er den Kampfplatz besser. Hinnerk stieß sich bei dem dämmerigen Licht hier an einer Stange, dort an die Latten, die den Stall von der Diele abschlossen. Aber allmählich gewann er doch die Oberhand und hätte seinen Gegner getötet, wenn nicht der Bauer gekommen wäre und die streitsüchtigen Hähne auf die Diele herabgeworfen hätte.

Aber auch da gab es noch keinen Frieden.

»Machen Sie jetzt endlich, daß Sie davon kommen?« schrie der Rotbrüstige mit blutunterlaufenen Augen. »Was? Hier mir nichts dir nichts in meinen Stall einzudringen und meinen Hennen schönzutun?«

Ritsch – ratsch! Kritz – kratz! Hick – hack!

Nein, es gab noch lange keinen Frieden zwischen den beiden. Zuletzt kam die Bäuerin und trieb sie mit dem Reisigbesen auseinander.

»Takelzeug!« schrie sie auf plattdeutsch. »Kaum im Hause und schon nichts als Streit und Elend. Vertragt euch!«

Kaum, daß sie den Rücken wandte, stürzten die beiden von neuem aufeinander los, jeder entschlossen, nicht eher zu weichen, bis der andere am Platze liege. So blieb denn nichts anderes übrig, als zuletzt einen der beiden unter einen Kückenkorb zu sperren.

Niemand war stolzer als Hinnerk, nun er seinen Gegner unter den Korb gesteckt sah. Er krähte so laut, durchdringend und anhaltend, daß es weit über die nächsten Höfe in Bergedorf hinschallte.

Denn in Bergedorf war er gelandet, ein Dorf, keine halbe Stunde von Worpswede, seiner Heimat, entfernt!

Aber noch ahnte er nicht, wie nahe er dem Hofe der guten Anntje Kiekut gekommen war. Selbstbewußt spreizte er seine Flügelfedern und schrammte zu den Hennen hinüber, ihnen seinen Antrittsbesuch zu machen, der nun so gnädig aufgenommen wurde, wie er es erwarten durfte.

Ha! Er, der als Bremer Stadtmusikant durch halb Europa gereist war, mit Tieren aller Art Wand an Wand gewohnt und vor den Augen von tausend und abermals tausend Zuschauern durch die Manege stolzierte, der Liebling Mister Dicks, sollte vor einem Gelbschnabel, wie dem da drüben unter dem Korbe, sich davonweisen und in seinen natürlichen Rechten beschränken lassen?

Zärtlich lockend stolzierte er mit seinen Hennen in den Obstgarten hinaus, in dem die Bienen schwärmten, die Apfelbäume in voller Blüte standen und das Gras süß und saftig aus der braunen Moorerde emporwuchs. Und hinter dem Garten lagen Roggenfelder in ihrem ersten Grün – ein so heimatlicher und vertrauter Anblick für Hinnerk, daß er vor Freude auf den Zaun flog, um hinüberzuwechseln und einen Morgenspaziergang zu unternehmen. Willig folgten ihm die Hennen dabei auf dem Fuße, wenn sie es auch vorzogen, unter dem Zaun hindurchzuschlüpfen.

Aber kaum im Freien, gab es bereits neue Händel.

Eine Elster hatte einen Knochen gefunden, der zu schwer war, als daß sie ihn hätte forttragen können, und begann wütend zu scheckern, als sich ihr die Hühner zu nähern begannen, spreizte die Flügel und sperrte angriffslustig und zornig den Schnabel auf.

Erschreckt wichen ihr denn auch die Hennen aus, aber das war nur ein Signal für Hinnerk.

»Wollen Sie machen, daß Sie auf Ihren Baum kommen?« schrie er und drang auf die Elster ein. »Hier auf dem Erdboden haben wir das Regier, und wenn Sie Ihren Knochen nicht mitnehmen können, so überlassen Sie ihn gefälligst uns!«

Verdutzt gab die Elster den Knochen preis, hüpfte ein paar Schritte davon und strich dann schimpfend und mit hängendem Schwanz ab.

»Alter Spitzbub!« schrie sie wütend und bäumte auf der nächsten Föhre auf.

»Wie?« entrüstete Hinnerk sich. »Kommt hierher auf unser Feld, eignet sich ohne zu fragen einen Knochen an und schilt dann andere Leute Spitzbuben?«

Aber der Ärger war bald vergessen, und der Freudentag, der für Hinnerk angebrochen war, wäre unter der herrlichen Frühlingssonne, einem leisen Wind und schimmernd weißen, segelnden Wolken, die wie Freudenfahnen am Himmel hingen, ungestört zu Ende gegangen, wären nicht drüben im Hause schon alle Hände beschäftigt gewesen, für die Kindtaufe zu rüsten, die am nächsten Sonntage gefeiert werden sollte.

Für die Bäuerin war es dabei klar, daß einer der beiden Hähne, nun sie so unerwartet durch Hinnerk Zuwachs erhalten hatte, zu diesem Tage in den Topf mußte und der Bauer eine Suppe haben sollte, so gut sie ein Hahn nur geben kann. Sie überlegte hin und her, welchen der Hähne sie dazu schlachten wollte. Hinnerk gefiel ihr besser – aber schließlich war es doch wohl gescheiter, den fremden abzutun. Man konnte nie wissen, wem das Tier gehörte, und sicher war sicher.

So zog sich für Hinnerk, der sich so wohlgeborgen glaubte, bereits wieder ein neues Gewitter zusammen, lebensgefährlicher als alle andern, die er bisher überstanden hatte. Aber wie gesagt, er war nun einmal ein Glücksvogel und jedesmal, wenn es ihm am brenzligsten zu gehen schien, kam eine unerwartete Wendung, die alles Finstere und Drohende lächelnd in sein Gegenteil verkehrte.

So ging es auch diesmal wieder, denn als er abends mit seinen Hühnern auf die Hausdiele zurückkehrte, um nach dem Abendfutter für die Nacht wieder auf den Wiemen zu steigen, stand eine Frau neben der Bäuerin auf der Diele, die, als ihr Auge zufällig auf Hinnerk fiel, vor Staunen beide Hände über dem Kopfe zusammenschlug.

»Hinnerk!« rief sie. Ja, war er es oder war er es nicht?

Aber dann sah sie, daß er es war! Seine Größe und die Farbe seines Gefieders nicht nur – der fehlende Bartlappen, den er seinerzeit in seinem Kampfe gegen das Wiesel eingebüßt hatte, waren ein so sicheres Erkennungszeichen, daß Anntje Kiekut nicht zweifelte, niemand anders als ihren vielgeliebten Hahn vor sich zu haben, den sie vor Jahren ihrem Vetter für das Preiskegeln in seiner Gastwirtschaft verkauft hatte. Ihr Erstaunen, Hinnerk, von dem sie sich ungern genug getrennt hatte, so unvermutet hier in Bergedorf wieder zu begegnen, kannte keine Grenzen. Was doch der Zufall nicht alles zuwege brachte! War sie doch nur heute von Worpswede herübergekommen, um der Bäuerin, die ein Geschwisterkind von ihr war, bei den Vorbereitungen zur Kindtaufe ein wenig an die Hand zu gehen.

Als sie nun zu ihrem noch größeren Erstaunen hörte, daß der Bauer den Hahn in den Wümmewiesen hinter der Stadt aufgegriffen habe, gab es für sie keinen Zweifel mehr, – war doch ihr Hinnerk seinerzeit nach Bremen verspielt worden! Da war er nun wohl auf irgendeine Weise frei gekommen und hatte sich sogleich auf den Weg zu ihr gemacht?

»Nee, so wat!« rief sie aus und mußte sich auf den Stuhl am Herd niedersetzen, um nicht völlig aus der Fassung zu kommen.

»Hinnerk! Ole Rumdriver!« sagte sie zärtlich und lockte ihn zu sich. Und als Hinnerk in wahrem Zirkusgang und ohne Scheu auf sie zukam und ihr ein paar Haferkörner aus der Hand fraß, kannte ihre Freude keine Grenzen.

Hatte jemand schon einmal eine solche Anhänglichkeit und Treue gesehen?

Natürlich wurde es nichts mehr mit der Hühnersuppe, und Anntje bekam ihren Hinnerk wieder, wenn sie von Rechts wegen auch kein Eigentumsrecht an ihm hatte. Selig und verklärt trug sie ihn am Abend nach der Kindtaufe in einem Deckelkorbe wieder nach Hause.

Hinnerk traute seinen Augen nicht, als er am andern Morgen auf seinem heimatlichen Wiemen erwachte. Von den Hühnern waren freilich die meisten schon hinüber. Aber Gret' war noch da, die alte Bruthenne, und Trin' auch, die fast noch ein Kücken gewesen war, als Hinnerk Haus und Hof verlassen hatte. Auch das Morgenfutter hatte sich nicht verändert: Weizenkleie und gestampfte Kartoffeln in dem hölzernen Trog drüben beim Schweinekoben. Hurra! – Ja, die Welt war schön, und es war eine unvergleichliche Wonne, wieder zu Hause zu sein! Selbst der Storch stand wieder wie früher in seinem Neste auf dem Nachbarhause und guckte mit schiefen Augen auf Hinnerk herab.

»Na?« sagte er herablassend. »Sie sind ja recht lange unterwegs gewesen, wie mir scheint?«

»Allerdings«, antwortete Hinnerk. »Wenn ich nur nach Ägypten gewollt hätte, wäre ich längst zurück gewesen. Aber ich habe halb Europa bereist, sehen Sie. Das ist etwas anderes.«

Stolz schrammte er davon, um Gret' zu beglückwünschen, die heute einmal ausnahmsweise schon in aller Frühe ein Ei gelegt hatte und eben vom Neste kam.

Anntje Kiekut aber erzählte jedem, der es hören wollte, von ihrem Hinnerk, seiner beispiellosen Treue, Anhänglichkeit und Klugheit. Niemals gab es einen Hahn wieder wie ihn, und es war selbstverständlich, daß er das Gnadenbrot bei ihr bekommen sollte, wenn er als Haushahn einmal gar zu alt geworden war.

Wirklich, er war wert, ein Denkmal zu erhalten. Vielleicht, daß man sich bereitfinden ließ, ein Standbild Hinnerks als Wetterfahne auf den Turm der Worpsweder Kirche setzen zu lassen? Über dem dicken, kupfernen Knauf würde sich niemand so gut ausnehmen wie er. Noch jahrhundertelang konnte er sich dann da oben mit dem Winde drehen und über das weite Moor und die Hammewiesen hinblicken … Vielleicht, wenn sie eine Stiftung dazu machte?

Ja, das war ein guter Gedanke! Hoch gesessen hatte er ja immer gern, und ein Herumtreiber war er in Anntje Kiekuts Augen auch Zeit seines Lebens gewesen. Da paßte es gut, wenn ihn noch nach seinem Tode der Wind da oben herumtrieb …

Hätte die gute Anntje gar gewußt, was Hinnerk in Wahrheit alles erlebt hatte, als er auf Reisen gewesen war, sie wäre wahrscheinlich mit einem Standbild für ihn auf dem Kirchturm noch nicht einmal zufrieden gewesen … Darum war es gut, wenn sie meinte, er wäre nur von Bremen nach Worpswede gelaufen – – er, der halb Europa bereiste! …


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