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Man sollte meinen, daß es mit diesen Abenteuern für einen Hahn genug gewesen wäre. Aber Hinnerk war nun einmal ein außergewöhnlicher Kerl, ein Baas von einem Hahn, muß man sagen, einer, der doppelt soviel Unternehmungslust und Mut mitbekommen hatte, als jemals einer aus seiner Sippe. Da ist es kein Wunder, wenn ihn das Schicksal nicht lange auf seinen Lorbeeren ausruhen ließ und ihn eines Tages unversehens in neue Abenteuer stürzte, weit unerhörter als vorher.
Den Anstoß dazu gab ein Kegelfest in Deepenmoor, und wenn dieses Dorf auch über eine Stunde von Worpswede entfernt lag – das Schicksal hat mitunter merkwürdige Launen und einen langen Arm. Ein Vetter von Anntje Kiekut, der in Deepenmoor eine Gastwirtschaft betrieb, kam nämlich auf den Einfall, dem schlechten Geschäft in seiner Gaststube am kommenden Sonntag durch ein Preiskegeln ein wenig aufzuhelfen. Er machte sich darum auf den Weg nach Worpswede, um eine Reihe von Gegenständen einzukaufen, die er als Gewinne aussetzen konnte.
Er hatte bereits einige gläserne Blumenvasen, Milch- und Zuckertöpfchen, ein Kästchen mit versilberten Kaffeelöffeln und andere für einen bäuerlichen Haushalt begehrte, wenn auch ziemlich überflüssige Sachen erstanden, als er sich entschloß, den Rest des Tages zu einem Besuch bei seiner Base Anntje zu benutzen und dort in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken. Anntje, die sich freute, den Vetter nach langer Zeit einmal wiederzusehen, bewunderte die eingekauften Sachen nicht wenig. Nur eine Weckuhr, die mit geschäftigem Klickklack aufdringlich in die sommerliche Stille ihrer Stube fiel, nötigte ihr wenig Hochachtung ab und lächelnd äußerte sie, daß sie an Hinnerk einen viel besseren Wecker besitze, der noch dazu nicht einmal aufgezogen zu werden brauche.
Darüber kam ihr Vetter auf den Gedanken, ihr den Hahn abzukaufen und als Sonderpreis für sein Wettkegeln auszusetzen. Wirklich ruhte er nicht, bis ihm Anntje, durch einen guten Preis willig gemacht, das Tier verkaufte. Er lockte also den guten Hinnerk, der sich nichts Böses versah, mit einigen Brotstückchen auf die Diele und schloß die Tür hinter ihm, packte ihn dann, wie man einen Verbrecher beim Kragen nimmt, stopfte ihn mir nichts dir nichts in einen alten Sack und machte sich mit ihm, seinen Blumenvasen und Kaffeelöffeln wieder auf den Weg nach Hause.
Richtig hatte er am Sonntag keinen geringen Zulauf, und bei dem sommerlich warmen Wetter ging es auf seiner Kegelbahn her wie bei einem Gewitter, so rollten und polterten die Kugeln, schlugen die Würfe mit prasselndem Getöse in die aufgestellten Kegel. Gegen Abend hatten denn auch alle ausgesetzten Preise ihren Mann gefunden, nur um Hinnerk, der in einer Kiste hinter einem Drahtgeflecht in der Kegelbahn ausgestellt war, mühte man sich noch immer, – hatte der schlaue Wirt doch die Bedingungen für den Gewinner des Hahns besonders schwer gemacht. Endlich aber warf ein Viehhändler aus der Stadt, der im Dorfe auf Einkauf gewesen war, viermal nacheinander alle neun, und da er zudem die geforderte Anzahl von Würfen hinter sich hatte, war nichts weiter daran zu drehen, der Hahn gehörte ihm und das Dorf mußte zusehen, wie der Händler mit dem stolzesten Gewinn des Tages davonzog, den guten Hinnerk mit gefesselten Beinen und Flügeln in das Kabriolett legte, in dem er von der Stadt herausgefahren war, und sich wieder auf den Weg nach Bremen machte.
Hinnerk kam über dem Rumpeln und Pumpeln des Wagens erst wieder zu sich, als er, aus dem Kasten genommen, eine Frauenstimme sagen hörte: »Nein, was für ein Kerl das ist! Da hast du aber Glück gehabt, Mann! Sperr ihn vorderhand nur in den Pferdestall. Da sitzt er warm und gut und kann mit der Liese aus der Krippe fressen.«
Verplustert und mit steifen Gelenken stand Hinnerk, von seinen Fesseln befreit, ein paar Augenblicke später in dem alten hölzernen Pferdestall, der in einer Ecke des gepflasterten Hofraumes errichtet war, einen Geruch von Torfstreu und Pferdedünger in den Nasenlöchern, der ihn lieblich und heimatlich zugleich anmutete. Der Viehhändler war mit seiner Frau ins Haus gegangen und in der eingetretenen Stille hörte er nur das gleichmäßige Mahlen der Zähne des Pferdes, das ihm gegenüber hinter seiner Krippe stand und gleichmütig seinen Hafer kaute.
»Guten Abend!« sagte Hinnerk und schüttelte seine Federn zurecht. »Wo bin ich hier, wenn ich fragen darf?«
Aber das Pferd schnob nur durch seine Nüstern, um den Häcksel wegzublasen, den man ihm zwischen die Körner gemischt hatte.
»Auf eine höfliche Frage gehört eine Antwort!« wollte Hinnerk sagen, kam aber nicht dazu, seine Belehrung auszusprechen, denn der Viehhändler kehrte noch einmal zurück, hängte dem Pferd eine Laterne bei der Krippe auf, tränkte es, ergriff Hinnerk ohne viele Umstände bei den Flügeln und setzte ihn für die Nacht auf die Heuraufe, damit er ein wenig höher sitze, schlug dann die Tür wieder hinter sich zu und stapfte ins Haus zurück.
Langsam gewöhnte sich Hinnerk an die Beleuchtung und blickte um sich. Es war ein windschiefes altes Gebäude, in dem er sich befand. Heuhalme und Spinngewebe hingen von der Decke herab, und unter ihm stand das Pferd, schüttelte hin und wieder seine Mähne und fraß so eifrig und selbstvergessen, als wäre es nicht im geringsten verwundert, plötzlich Gesellschaft bekommen zu haben.
»Ich heiße Hinnerk und stamme aus Worpswede, wenn Ihnen der Ort vielleicht bekannt sein sollte«, stellte Hinnerk sich vor.
»So, so!« sagte das Pferd und fraß weiter. »Ja, das Dorf ist mir bekannt. Ich war wiederholt dort. Ein ganz elendes Nest, muß ich schon sagen. Ich begreife nicht, was die Menschen dorthin treibt. An Sonntagen jagen sie auf Autos und Motorrädern wie verrückt dorthin. Unsereiner ist sich auf der Landstraße bald seines Lebens nicht mehr sicher.«
»Oh«, sagte Hinnerk ein wenig enttäuscht, »ich muß sagen, daß es mir dort ganz gut gefallen hat. Jedenfalls besser als hier in diesem Stall, wenn ich Sie damit nicht kränke.«
»Warum sind Sie denn nicht dort geblieben?« antwortete das Pferd.
»Man hat mich nicht darum gefragt, wenn ich es gerade heraus sagen soll.«
»Da haben Sie wohl recht«, seufzte das Pferd. »Uns Tiere fragt niemand, wo wir sein und bleiben möchten. Was mich betrifft, so wäre mir draußen im freien Felde auch wohler als hier. Aber man muß sich schicken lernen, das ist nicht anders. Na, schlafen Sie gut. Wenn man den ganzen Tag auf den Beinen gewesen ist, ist man müde.«
»Verzeihen Sie«, sagte der Hahn. »Sind hier keine Hühner im Stall? Ich bin an Gesellschaft gewöhnt und Einsamkeit ist eigentlich meine Sache nicht.«
»Hühner?« fragte das Pferd verächtlich zurück. »Nein. Aber draußen im Hofe hängt unter dem Küchenfenster ein Bauer an der Wand, in dem eine Elster sitzt, wenn es Sie nach Gesellschaft verlangt. Sie hat einen ziemlich losen Schnabel, muß man sagen, aber vielleicht lieben Sie das? Sie scheinen ja selber nicht auf den Schnabel gefallen zu sein.«
»Meinen Sie?« fragte Hinnerk geschmeichelt. Aber er bekam keine Antwort mehr. Das Pferd schwieg und ließ den Kopf sinken. Es schlief wohl schon halb.
Aber dann kam der Händler noch einmal in den Stall zurück, überzeugte sich, daß das Pferd aufgehört hatte zu fressen, nahm die Laterne vom Nagel, ging hinaus und riegelte die Tür hinter sich ab.
Nun war es düstere Nacht um Hinnerk. Nur durch ein kleines vergittertes Fenster fiel ein Strahl des Mondlichts herein und stand bleich auf dem steinernen Fußboden.
Um ihn war alles still. Nur die gleichmäßigen Atemzüge des Pferdes klangen zu ihm herauf. Aber dann unterbrach plötzlich ein Wispern, Knistern, Scharren und Nagen die Stille, und Hinnerk, der selber schon im Einnicken gewesen war, sah im Mondlicht eine Wanderratte am Pfeiler hinaufklettern und in die Krippe schlüpfen, um ein paar vergessene Haferkörner zu fressen.
»Was machen Sie da?« fragte Hinnerk entrüstet, der selber hungrig genug war und über all dem Ungewohnten und Aufregenden völlig um sein Abendfutter gekommen war.
»Was geht Sie das an?« antwortete die Ratte frech. »Mischen Sie sich nicht in Dinge, die nicht Ihre Sache sind, verstehn Sie mich? Sind Sie heute nicht zum erstenmal hier, und da wollen Sie hier gleich das große Wort haben? Hüten Sie sich, daß ich Ihnen nicht die Beine abnage, alter Mistkratzer!«
»Das werden wir sehen«, antwortete Hinnerk, dem vor Ärger und Wut der Kamm schwoll. »Unterstehen Sie sich nicht, hier heraufzukommen, sie alter Ratterich, sonst können Sie einmal meinen Schnabel und meine Sporen kennen lernen. Fragen Sie das Wiesel und lassen Sie sich erzählen, wie ich mit ihm fertig geworden bin!«
»Ach, reden Sie hier keinen Stuß, alter Bauerngockel, ja?« höhnte die Ratte giftig. Aber die Erwähnung des Wiesels hatte ihr doch einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Aber sie wollte es sich nicht merken lassen und setzte darum hinzu: »Sie wollen ja nur ein paar Haferkörner abhaben und ärgern sich, daß ich Ihnen nichts übrig lasse.«
»Nein«, sagte Hinnerk, »ich danke. Mit Ihnen esse ich nicht aus einer Schüssel, wenn Sie das noch nicht wissen sollten, und wenn Sie blanken Weizen darin hätten. Ich kann Sie nicht sehen, ohne daß mir zum Brechen übel wird. So, nun wissen Sie es.«
»Ach, sieh an!« pfiff die Ratte. »Sie dünken sich wohl etwas Besseres als unsereiner? Aber mein Schwanz ist ebenso lang wie der Ihre und besteht nicht etwa nur aus Federn! Verstehen Sie vielleicht den Ihren so zu ringeln und zu bewegen, wie ich den meinen? Nein, nicht wahr? Dann weiß ich nicht, mit welchem Recht Sie hier so Ihren ungewaschenen Schnabel aufreißen!« Damit sprang sie wieder aus der Krippe und verschwand in ihr Loch.
»So ein altes Ekel!« murrte Hinnerk und setzte sich wieder. Gut, daß sie davon war. Er hatte es ihr jedenfalls gehörig gegeben.
In aller Frühe erwachte er aus seinem Schlafe. Soeben hatte er im Traum mit der Ratte gekämpft und war gerade daran gewesen, ihr den Garaus zu machen, als er von der unwillkürlichen Bewegung seiner Flügel erwacht war. Wirklich, es wurde schon Tag, und eilig erhob er sich auf die Zehen und begann zu krähen.
»So etwas müssen Sie hier entschieden unterlassen!« rief das Pferd, das, aus seinem Schlafe emporgeschreckt, unmutig zu ihm hinaufsah.
»Warum?« fragte Hinnerk verwundert.
»Es wird sowieso jeden Morgen zu früh Tag! Aber das können Sie nicht verstehen.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Hinnerk verwirrt. »Ich dachte, es mache Ihnen Freude, aufzuwachen.«
»Nein, durchaus nicht«, antwortete das Pferd und schüttelte energisch seinen Kopf. »Ich habe täglich zu arbeiten, sehen Sie, während Sie nur spazierengehen und Ihren Hennen schön tun.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Hinnerk. »Es muß kein ganz leichtes Leben sein, wenn man als Pferd auf die Welt gekommen ist. Aber Sie irren sich, wenn Sie meinen, daß ich nichts anderes zu tun hätte, als spazierenzugehen. Es ist nicht so leicht, zwischen einem Dutzend Hennen fertig zu werden und bald der einen, bald der anderen ein Korn aus der Erde zu kratzen.«
»So, mag sein. Ich verstehe nichts davon«, antwortete das Pferd. »Schließlich hat jeder von uns sein Teil zu tragen. Aber nun lassen Sie mich weiterschlafen.«
Es kam aber nicht mehr dazu. Der Viehhändler polterte die Treppe in den Hof hinab, öffnete den Stall, schüttete dem Pferd sein Morgenfutter in die Krippe, legte ihm, während es fraß, schon sein Geschirr auf, spannte es dann vor den Wagen und fuhr mit ihm durch die Torfahrt vom Hofe auf die Straße hinaus.
Zum Glück hatte er die Stalltür offen gelassen, so daß Hinnerk auf den Hofplatz hinauskommen konnte.
Es war ein nebliger und regnerischer Morgen. Von dem Dach des Pferdestalles klatschten einige Wassertropfen auf das Steinpflaster des Hofes, während gegenüber verrußte Hauswände stumm und steinern in die Höhe wuchsen.
Niedergeschlagen und mit gesenktem Schwanz stand Hinnerk in der Stalltür und blickte in den engen Hofplatz hinaus, der leer und öde vor ihm lag. Einige Wasserlachen auf dem Pflaster machten den Anblick, der sich ihm bot, noch trostloser.
»Wohin bin ich hier nur geraten?« dachte er verzagt, zog den Kopf zwischen die Schultern und begann nachzudenken.
»Halloh! Wie kommen Sie denn mit einem Male hierher?« rief eine Stimme. Es war die Elster, die aus ihrem vergitterten Bauer an der Hauswand mit klugen schwarzen Augen auf Hinnerk herabsah.
»Ach, sieh an!« antwortete Hinnerk, sichtlich erfreut und überrascht. »Wenigstens eine lebende Seele! Guten Morgen, meine Beste, ich wünsche wohl geruht zu haben! Wie ich hierher komme? Ja, das ist eine dumme und fatale Geschichte. Sie beginnt mit einem Kegelfest und endet mit der Gefangenschaft hier auf diesem trostlosen Hofe.«
»Nein«, lachte die Elster. »Sie endet im Kochtopf, kann ich Ihnen verraten. Todsicher! Wenn ich nicht eine Elster wäre, wäre es mir längst genau so ergangen.«
»Meinen Sie?« fragte Hinnerk entsetzt.
»Ohne Frage«, antwortete die Elster. »Man wird Sie ein paar Wochen füttern und Sie dann eines guten Tages einen Kopf kürzer machen. Sehen Sie, da regnet es schon Hafer und Kartoffeln. Die mästen gut.«
Es war das Dienstmädchen, das eins der Küchenfenster geöffnet hatte und dem Hahn sein Morgenfutter in den Hof hinauswarf.
Hinnerk war bei den Worten der Elster kein geringer Schreck in die Glieder gefahren. Oh, er kannte das und zweifelte keinen Augenblick, daß die Elster recht hatte.
Aufgeregt blickte er um sich.
»Wenn ich Ihnen raten soll, machen Sie sich beizeiten auf und davon«, riet die Elster.
»Ja, Sie haben gut reden«, sagte Hinnerk und schritt über den Hof in die Einfahrt hinaus. Aber das Tor war geschlossen. Er konnte nur durch das Gitter auf die Straße hinausblicken, auf der es für einen Hahn ebenso trostlos aussah, wie in dem engen Hofe.
Verzweifelt kehrte er wieder um.
»Ich sollte nur soviel Freiheit haben wie Sie«, sagte die Elster und sprang von der einen Stange ihres Käfiges auf die andere. »Ich versuche jeden Tag, das Gitter zu zerbeißen, das diesen abscheulichen Kasten verschließt. Aber es ist zäher, als Sie denken.«
»Nein«, sagte Hinnerk mit festem Entschluß, »ehe ich mir hier den Kopf vom Rumpfe trennen lasse, riskiere ich die Flucht, es mag gehen, wie es will. Schlimmer kann es so leicht nicht werden.«
»Sehen Sie«, sagte die Elster, »das nenne ich mutig gesprochen. Frisch gewagt ist halb gewonnen!«
»Hätte ich nur für eine Stunde Ihre Flügel! Aber unsereiner ist nun einmal an die Erde gebunden!« seufzte Hinnerk und begann ein paar Körner aufzunehmen, um sich ein wenig für den Tag zu stärken und seinen schlimmsten Hunger zu stillen. Schließlich hatte er auch keine Ursache, alles den Sperlingen zu überlassen, die sich von den Dächern herab gierig auf sein Futter gestürzt hatten.
»Gestatten Sie«, sagte er.
»Wir gestatten gar nichts«, schrien die Sperlinge, und einer der unverschämtesten nahm ihm eine halbe Kartoffel vor dem Schnabel weg und flog damit fort. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, das ist schon immer so gewesen.«
»Hacken Sie ihnen doch die Köpfe ein!« rief die Elster zänkisch und wütend. »Sie lassen sich viel zuviel gefallen. Sie sind wohl vom Lande, wie? Hier in der Stadt denkt jeder nur an sich selbst, das werden Sie noch erfahren!«
»Allerdings bin ich vom Lande«, gab Hinnerk zu, »und bin stolz darauf, jawohl. Ich bin aus Worpswede, falls Sie den Ort kennen.«
»Aus Worpswede?« schrie die Elster erstaunt. »Sieh doch an, da sind wir ja die engsten Landsleute! Ich bin in den Kiefern am Weiherberge geboren, und wenn nicht der verdammte Bauernjunge gekommen und mich, ehe ich zu fliegen verstand, aus dem Nest genommen hätte, säße ich hier nicht gefangen! Wenn ich aber einmal aus meinem Gefängnis herauskomme, wird mein erster Flug nach Worpswede gehen und wehe, wenn mir der Bursche begegnet! Ich schlage ihm meine Flügel um die Ohren, daß ihm Hören und Sehen vergeht!«
»Meinen Segen haben Sie«, sagte Hinnerk und putzte sich den Schnabel auf den Steinen, »aber nun wird es Zeit für mich. Hier bleibe ich keine Stunde mehr. Leben Sie wohl, Fräulein Elster! Schade, daß Sie nicht mitkönnen!«
»Wie, Sie wollen schon davon?« schrie die Elster und kreischte vor Ärger und Wut, daß sie nicht mitkonnte.
»Schreien Sie doch nicht so! Sie machen ja das ganze Haus aufmerksam. Das nenne ich keine Freundschaft.«
»Ach was, Freundschaft hin, Freundschaft her!« zankte die Elster. »Soll ich allein hier bleiben und mich noch freuen, daß Sie mich hier sitzen lassen? Das hat man davon, wenn man anderen einen guten Rat gibt!«
Aber Hinnerk hörte sie schon nicht mehr. Er war in die Einfahrt gelangt, die vom Hofe auf die Straße führte, und stand nun vor dem Gitter des mannshohen Tores.
Jetzt galt es! Entweder – oder! Es gab keinen anderen Weg aus seinem Gefängnis.
Aufgeregt duckte er sich und schwang sich dann mit wilden, klatschenden Flügelschlägen in die Höhe. Wirklich erreichte er mit der Brust den obersten Rand, wäre aber um ein Haar wieder herabgeglitten, wenn er nicht unter neuen heftigen Flügelschlägen doch zuletzt mit den Füßen einen Halt gefunden hätte.
Uff! Die Pforte war doch ein erhebliches Stück höher, als Anntje Kiekuts Schweinekoben. Zum Überfluß war sie auf ihrem oberen Rande mit Nägeln besetzt, an denen er sich die Brust verletzt hatte, daß ihm ein paar dicke Blutstropfen in die Halsfedern quollen. Aber er merkte es kaum. Auch galt hier kein langes Besinnen. Ohne sich umzublicken und blind gegen das, was ihn erwarten mochte, stürzte er sich auf die Straße hinab.
Verwundert blickte er sich um.
Hauswände und Fensterscheiben, wohin er blickte. Hier und da ein paar steinerne Treppenstufen. Aber nirgends Baum oder Strauch, Feld oder Wiese, Busch oder Garten. Steine, Steine, Steine, wohin er auch blickte. Kein Halm und kein Blatt und nicht die kleinste Gelegenheit, wo er Schutz und Deckung hätte finden können.
Aufgeregt begann er die Straße hinabzuschreiten. »Nur fort«, dachte er, »nur fort!«
Er hatte Glück. Es war noch früh am Morgen und die Straße fast menschenleer. Nur ein Bäckerjunge kam übermütig pfeifend um die Ecke. Er wollte sich totlachen, als er den Hahn die Gasse hinabflüchten sah. Aber dann setzte er plötzlich den Korb hin und begann hinter Hinnerk herzulaufen, um ihn einzufangen und sich vielleicht ein gutes Fundgeld zu verdienen.
Entsetzt begann Hinnerk noch schneller zu laufen als vorhin und rannte die Straße hinab, als wäre Urleburle mit dem Schlachtmesser hinter ihm.
Plötzlich öffnete sich die enge Straße vor ihm, und Hinnerk stürzte in die Hauptverkehrsader der Stadt hinaus.
Donnernd kam im selben Augenblick eine elektrische Bahn die Straße herabgebraust und der Fahrer mußte lachend und mit aller Gewalt bremsen, sonst hätte er den völlig verdatterten Hahn, der unsicher, wohin er sich wenden sollte, auf den Schienen Halt gemacht hatte, überfahren.
Aber dann gewann Hinnerk seine Besinnung wieder und flog mehr, als er ging, quer über die Straße und stürzte blindlings davon.
Eine neue Querstraße nahm ihn auf, noch enger als die, durch die er gekommen war. Aber hier drohte neue Gefahr. Ein Zeitungsausträger, der soeben seinen Botengang beendet hatte und wieder nach Hause wollte, versperrte ihm mit gespreizten Beinen den Weg.
Aber Hinnerk ließ sich nicht dadurch beirren. Er sah auch kaum, was ihm drohte. Er wußte nur, daß die breite und belebte Straße hinter ihm noch furchtbarer war, als das vor ihm liegende Hindernis, und mit gockelndem Geschrei flatterte er über den Kopf des Zeitungsausträgers hinweg, mit Halloh! und in hallendem Laufschritt von dem Zeitungsmann verfolgt, dem sich, um das Unglück vollzumachen, nun auch noch ein Hund anschloß, ein Rattenfänger, der vor Vergnügen über die unvermutete Hetzjagd bellend ebenfalls hinter Hinnerk herzusetzen begann.
Aber da winkte Hilfe in der Not! Die Gasse öffnete sich und die städtischen Anlagen taten sich vor ihm auf, grüne Rasenflächen, Büsche und Bäume winkten ihm – und mit letzter Anstrengung gelang es Hinnerk, den niedrigen Ast einer alten Kastanie zu erreichen, die mit breiter Krone und den ersten herbstlich gelben Blättern sich über den alten Stadtgraben neigte.
Von seinem Aste aus war es ein kleines für Hinnerk, höher und höher in die Krone des Baumes hinaufzugelangen, und bald war er durch das dichte Blattwerk vor den Blicken seiner Verfolger verborgen. Sein Herz klopfte wie rasend, und mit vor Atemnot geöffnetem Schnabel fühlte er sich mehr tot als lebendig.
»Ruh'! Ruh'!« mahnte eine Stimme über ihm.
Erschreckt spähte Hinnerk nach oben. Es war aber nur eine Holztaube, die im Gezweige saß und auf ihn herabäugte.
»Ruhe?« antwortete er. »Sie haben gut reden und sitzen da oben auf ihrem Zweige so sicher, wie Sie es nur wünschen können. Da sollten Sie mal in meinen Federn stecken. Ich bin auf der Flucht und noch ganz atemlos von der Hetze, die ich hinter mir habe. Die Flügel hängen mir nur noch soeben am Leibe, so bin ich gerannt. Gut, daß die alte Kastanie mir in den Weg kam. Ich wäre einfach verloren gewesen!«
»Verfolgt man Sie noch?«
»Und ob!«
»Dann kommen Sie doch eine Etage höher herauf. Hier oben sind Sie völlig sicher.«
»Nein, danke. Das will ich doch lieber unterlassen. Die Zweige dort oben sind mir zu dünn. Dafür bin ich eine zu gewichtige Persönlichkeit, müssen Sie wissen.«
»Ganz wie Sie meinen«, sagte die Taube. »Ja, man muß sich in acht nehmen hier in der Stadt. Sie sind wohl noch nicht ganz lange hier?«
»Nein«, sagte Hinnerk, ein wenig beruhigt, daß er Gesellschaft gefunden hatte. »Aber ist das ein Grund, mich wie einen Verbrecher zu verfolgen? Ich versichere Ihnen, daß ich durchaus still und friedlich meines Weges gegangen bin. Leiden die Straßen vielleicht darunter, wenn unsereiner in ihnen spazieren geht? Aber die Menschen waren rein toll und verrückt. Vielleicht waren sie besorgt, daß ich ihnen die Pflastersteine aus dem Boden kratzen würde.«
Die Taube lachte. »Nein«, sagte sie, »es war das Ungewöhnliche, wissen Sie.«
»Daß ich ein so ungewöhnlicher Kerl bin, meinen Sie?« fragte Hinnerk geschmeichelt.
»Jedenfalls sind Sie hier in den Straßen der Stadt eine ungewöhnliche Erscheinung«, erklärte ihm die Taube. »Es ging mir anfangs durchaus nicht anders. Sogar geschossen hat man auf mich.«
»Pfui!« sagte Hinnerk.
»Aber nun hat man sich an meine Erscheinung gewöhnt und läßt mich in Ruhe. Vielleicht wird es Ihnen ähnlich gehen. Immerhin wäre es gut, wenn Sie im Fliegen ein wenig gewandter wären.«
»Ja, ja«, seufzte Hinnerk. »Ich hätte es vielleicht in meiner Jugend mehr üben sollen. Immerhin habe ich meine Beine, und im Laufen holt mich so leicht keiner ein, besonders wenn ich die Flügel mit hinzunehme.«
»Nun, dann wünsche ich Ihnen weiterhin alles Gute«, sagte die Holztaube und flog davon.
»Schade«, dachte Hinnerk, »es plauderte sich so nett mit ihr.«
Die Stadt war nun ganz erwacht. Auf den Straßen hupten die Autos, klingelten die Straßenbahnen, riefen fahrende Verkäufer ihre Waren aus, und die klare Spätsommersonne strahlte golden in das Blattwerk der alten Kastanie, auf der Hinnerk saß.
Seine Verfolger schienen sich verlaufen zu haben. Es war ihnen wohl zu langweilig geworden, in die Krone der alten Kastanie hinaufzustarren und den Hahn mit den Augen zu suchen, der in einer Astgabel saß und von dem unteren Blattwerk gut verborgen wurde.
Unter ihm lagen Anlagen mit weiten herrlich grünen Rasenflächen, Busch- und Baumgruppen, schimmerte der dunkle Spiegel des Stadtgrabens, gingen die ersten Spaziergänger vorüber, setzten sich auf die aufgestellten Bänke und lasen ihre Morgenzeitung.
Nein, Hinnerk hätte sich keinen schöneren Platz denken können, wenn nur der Hunger nicht gewesen wäre, der ihn je länger desto mehr zu quälen begann.
Hätte er sich doch vorhin auf dem Hofe des Viehhändlers wenigstens ordentlich satt gefressen! Aber die besten Bissen hatten ihm die Sperlinge vor der Nase weggenommen, und dazu hatte er es vielleicht gar zu eilig gehabt, davonzukommen. Am liebsten wäre er jetzt von seinem Sitze auf die Erde hinabgeflogen. Aber die Aussicht, wieder gejagt zu werden, womöglich in neue Gefangenschaft zu geraten, war doch zu groß. Da blieb er lieber sitzen, wo er war.
Langsam verging so der Tag. Einsam und verlassen saß Hinnerk auf seinem verborgenen Platz. Wenn doch wenigstens die Holztaube zurückgekommen wäre! Statt dessen trieben sich nur ein paar Sperlinge in den Bäumen herum, stürzten sich auf die Brotkrumen, welche die Kinder fallen ließen, die von ihren Wärterinnen geführt auf den Wegen spielten. Hinnerk verging beinahe vor Neid und Hunger, wenn er die Sperlinge mit den aufgepickten weißen Brotbröckchen im Schnabel davonfliegen sah.
Um ihn kümmerte sich niemand, nur ein Buchfink, der durch die alte Kastanie kam, erblickte ihn und sprang vor Schreck auf den nächsten Zweig.
»Nun, nun«, beruhigte ihn Hinnerk. »Haben Sie nur keine Angst, junger Mann, ich fresse Sie nicht!«
»Sie machen aber ein Gesicht darnach«, sagte der Buchfink.
»Soll man nicht ärgerlich werden, wenn man Hunger hat und diese Sperlinge fressen sieht wie Scheunendrescher?«
»Ja, es ist ein Kreuz mit ihnen«, bestätigte der Buchfink. »Aber ärgern Sie sich nicht zu sehr. Es gibt für unsereinen immer noch genug, um satt zu werden.«
»Nur für mich nicht!« entgegnete Hinnerk gallig und nervös. »Oder glauben Sie, ich brauchte auf meinem Aste hier nur den Schnabel aufzusperren?«
»Warum sitzen Sie denn auch so faul da?« fragte der Buchfink. »Da wundert es mich nicht, wenn Sie Hunger haben. Man muß sich rühren, wenn man durchkommen will, das ist nun nicht anders!« Damit flog er davon.
»Da hat man zu seinem Unglück nun noch den Spott dazu!« dachte Hinnerk, und zog grollend und verärgert wieder den Kopf zwischen die Schultern.
Aber da! Was war das? Kroch da nicht eine Raupe am Stamm herauf? Sieh doch an! Wenn er nur noch ein wenig wartete, mußte sie ihm gerade in den Schnabel spazieren . . . Jetzt war sie bald nahe genug, und er beugte schon den Kopf zu ihr hinab.
»Rühren Sie mich nicht an!« sagte die Raupe, die die Gefahr erkannte, in die sie unvermutet geraten war.
»Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Hinnerk, »haben Sie in Ihrem Leben genug gefressen und haben vor, sich hier oben irgendwo zu verpuppen?«
»Allerdings«, sagte die Raupe.
»Dann tun Sie das bitte in meinem Magen, wenn es Ihnen gefällig ist!« sagte Hinnerk. Da hatte er sie schon und schluckte sie hinunter.
Das war wenig, aber es war etwas.
Langsam wurde es Abend. Aber die Straße, an der die alte Kastanie stand, wurde nicht stiller. Autos mit blitzenden Lichtern flitzten vorüber, Wagen rasselten, Ströme von Menschen bewegten sich vor den Kaufläden vorüber und ganze Scharen von Kindern kamen aus den engen Gassen und zogen mit leuchtenden Papierlaternen in die dunklen Anlagen hinaus.
»Sonne, Mond und Sterne«, sangen sie.
»Wann geht man hier in der Stadt eigentlich zur Ruhe?« fragte sich Hinnerk verwundert. War die Sonne nicht längst untergegangen, und war es nicht höchste Zeit geworden zu schlafen? Nein, da war er doch ein solideres Leben gewohnt. Früh ins Bett und früh wieder heraus, das war nun seine Weise.
Trotz der Unruhe unter ihm schlief er zuletzt doch ein.
Als er erwachte, graute der Morgen. Jetzt endlich schien man in der Stadt zu Bett gegangen zu sein. Trotz des festlich heiteren Morgenlichtes lagen auch die Anlagen nun völlig menschenleer und still unter ihm, träumte die Straße mit erloschenen Laternen in den jungen Tag.
Entschlossen und mit neuem Mut erhob sich Hinnerk auf seinem Ast, reckte sich, schlug klatschend mit den Flügeln und stieß ein Kikeriki aus, daß es weit über die Anlagen hinaus und in die stillen Straßen hinein drang.
Mochte daraus werden, was wollte! Er konnte es nun einmal nicht lassen, trotzdem ihm die Feldmaus im Moore seinerzeit geraten hatte, vorsichtiger mit seiner Stimme umzugehen.
Von Ast zu Ast sprang er dann abwärts und endlich mit kühnem Schwung auf die morgenfrische Erde hinab, die unter einem leuchtenden Morgennebel wie unter einer silberweißen Decke lag.
Ausgehungert begann Hinnerk sogleich eifrig nach Futter zu suchen und so wild zu kratzen und zu scharren wie noch an keinem Tage. Von dem Rasenplatz, den er bald überquerte, drang er in die Gebüschgruppen ein, die sich bis an den Stadtgraben hinunter erstreckten. Hier konnte er sich wenigstens ohne Gefahr sattfressen. Der Erdboden, auf dem bereits die ersten rostgelben und sommermüde gewordenen Blätter der Linde und einige flammend rote eines Ahornbaumes lagen, bot Würmer und Insekten genug. Dazu gab es zarte grüne Grasspitzen, soviel er nur wollte. Nein, hier entbehrte er nichts. Dazu war alles ringsumher so friedlich und still, wie er es nur wünschen konnte. Selbst die Enten auf dem Wasser des Stadtgrabens schliefen noch und trieben, den Kopf unter den Flügeln, auf dem grünen Wasser, bis es einem Enterich einfiel, mit ohrenbetäubendem Gekreisch zu verkünden, daß er aufgewacht sei, und mit klatschenden Flügeln nicht weit von Hinnerk ans Land zu steigen.
»Was machen Sie hier?« fragte er, als er Hinnerk erblickte, streng und unfreundlich.
»Ich frühstücke«, antwortete Hinnerk, »wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Doch, ich habe etwas dagegen!«
»Darf man fragen, was?« verwunderte sich Hinnerk.
»Daß Sie nicht hierher gehören, Sie langbeiniger alter Soldat! Ich wohne seit zwei Jahren hier auf diesem Graben, aber ich habe noch niemals bemerkt, daß ein solches Stelzbein wie Sie hier zugelassen gewesen wäre. Packen Sie sich gefälligst, oder ich rufe die Schwäne!«
»Pah! Tun Sie, was Sie nicht lassen wollen, Sie Gelbschnabel«, sagte Hinnerk, empört und beleidigt. Noch nie war ihm so ein zänkischer Erpel vorgekommen. Da waren die Enten, denen er vor Wochen unten im Teufelsmoor begegnet war, doch weit höflicher gewesen.
Wütend erhob der Enterich auf Hinnerks verächtliche Worte ein so lautes Geschrei, daß wirklich selbst die Schwäne aufmerksam wurden, ihre Köpfe auf den schlanken Hälsen reckten und mit böse blickenden Augen herbeiruderten. Es rauschte ordentlich im Wasser, so ungestüm stießen sie sich vorwärts.
»Was ist?« zischten sie den Enterich an.
»Da – da – da!« stotterte der, wütend und aufgeregt und wies mit dem gelben Schnabel auf Hinnerk. »Seht Ihr den Rotkopf nicht? Da unter dem Busch steht er.«
»Wenn es weiter nichts ist!« sagten die Schwäne, steckten die langen Hälse ins Wasser und begannen gelangweilt zu gründeln.
»Aha!« dachte Hinnerk, dem beim Anblick der gewaltigen Vögel doch ein wenig bang geworden war. »Wie es scheint, haben sie Respekt vor mir, und darum wagen sie nicht, mir etwas zu sagen!« Immerhin hätte er es vorgezogen, sich unauffällig außer Sicht zu bringen, wenn er nicht gefürchtet hätte, dem dummen Enterich einen Triumph zu bereiten.
Gelassen und stolz schritt er darum zum Wasser hinab, begann seinen Durst zu stillen und ließ sich das kühle Wasser die Kehle hinabrinnen. Ah, wie wohl das tat!
Aber jetzt stieg ein Arbeiter eine kleine Steintreppe zum Wasser hinab und begann den Schwänen und Enten in einem hölzernen Troge, der halb im Wasser stand, Mais und Gerste hinzuschütten.
Eilig schwammen die Tiere von allen Seiten herbei, streckten die Schnäbel in den Trog und schnabbelten und schnatterten, als hätten sie seit einer Woche gefastet. Ja, einer der Schwäne, der wohl nicht gut geschlafen hatte, fuhr dem naseweisen Enterich, über den Hinnerk sich so geärgert hatte, mit dem Schnabel in die Haube, daß er aufschrie und scheltend flüchtete.
»Siehst du!« dachte Hinnerk befriedigt. »Das war dir gesund, alter Aufspieler!«
Gar zu gern wäre er wie alle anderen herbeigestürzt, um mitzufressen. Wo es so viel Futter gab, wäre es auf eine Handvoll für ihn sicher auch nicht angekommen. Aber mißtrauisch blieb er von weitem stehen, und erst als alle Tiere sich sattgefressen hatten und auch die Schwäne, schweigend und stolz, wieder davongezogen waren, trat er näher, um ein paar Körner aufzulesen, welche die letzten der Enten liegengelassen hatten.
Kaum war er aber an den Trog getreten, als ihn der Arbeiter bemerkte, der den Tieren zugesehen hatte und soeben mit seinem Futtersack wieder davongehen wollte.
Halloh! verwunderte er sich und zog die Augenbrauen hoch. Der war gewiß irgendwo entlaufen und es gab eine gute Belohnung im Fundamt, wenn er ihn einfing und ablieferte?
»Tüt, tüt!« lockte er und begann Hinnerk aus seinem leeren Futtersack einige hängengebliebene Maiskörner hinzustreuen.
Glücklich über die gewohnten Locktöne und die Freundlichkeit, die man ihm erwies, kam Hinnerk näher und begann eifrig zu picken und zu schlucken, hütete sich aber wohl, näherzukommen, als unbedingt nötig war. Auch hob er nach jedem Korn, das er aufnahm, sogleich hastig wieder den Kopf. Aber der Arbeiter war geschickter, als Hinnerk vermutete, und als er ihm ein besonders großes Maiskorn so hinwarf, daß Hinnerk sich umdrehen mußte, um es aufzunehmen, flog ihm plötzlich der leere Futtersack über den Kopf, daß ihn der hinzuspringende Arbeiter im nächsten Augenblick bei den Flügeln packen konnte.
Armer Hinnerk! Erschreckt und verwirrt sah er sich nun am Wasser entlang zu einem Schuppen getragen und dort unter einen umgestülpten Korb gesteckt.
Bedrückt kauerte er sich darunter nieder und erwartete herzklopfend, was weiter mit ihm geschehen würde. Wieder einmal, daß er seine Freiheit verloren hatte! Als er sich aber erst an das Dämmerdunkel des Raumes gewöhnt hatte, in dem Spaten und Rechen, Kisten und Kasten umherstanden und der den Arbeitern, die in den Anlagen beschäftigt waren, als Geräteschuppen diente, kehrten ihm langsam Mut und Hoffnung zurück. Vielleicht, daß sich doch eine Gelegenheit fand, wieder davonzukommen. Es hieß nur klug sein und die Augen offen halten. War er nicht immer ein Glücksvogel gewesen und immer noch heil und unversehrt aus allen Gefahren hervorgegangen? Wer konnte überhaupt wissen, was ihm bevorstand? Vielleicht brachte man ihn auf einen Hühnerhof, größer und schöner, als er ihn je gesehen hatte? Im Geiste sah er sich schon zwischen einem Dutzend junger Hennen herumspazieren, von allen bewundert und geehrt, ein Held, der mit dem Wiesel gekämpft und es besiegt hatte, der auf dem Preiskegeln in Deepenmoor als Sondergewinn ausgestellt war, aus einem verschlossenen Hofe in der Stadt davonlief und wie ein Verbrecher verfolgt wurde, aber allen entkam, in den städtischen Anlagen wie ein Wildvogel auf einem Baume geschlafen hatte und nur durch Verrat und Hinterlist in neue Gefangenschaft geraten war!
Träumend zog er die Nickhaut vor die Augen. Nein, es war keine Frage, er war noch zu Außerordentlichem berufen. Er sah sich auf einem Hühnerhofe stehen, von einem ganzen Schwarm von Hennen umgeben, schwarzen, weißen, gesperberten, gold- und silbergetupften, einige trugen einen Kamm, andere Hauben. Er hätte einfach nicht sagen können, welche die schönste war. Vielleicht die schwarze mit der schneeweißen Haube, oder die weiße mit dem feuerroten Kamm?
Da wurde der Korb plötzlich aufgenommen und Hinnerk fuhr erschreckt aus seinen Träumen. Es wurde heller um ihn. Frische Luft wehte durch das Geflecht des Korbes – er fühlte sich davongetragen, horchte gespannt auf jedes Geräusch, und versuchte zu erspähen, wohin die Reise ging.
Da war sie wieder, die gepflasterte Straße mit Wagen, Autos, Straßenbahnen und Menschen, ein Anblick, der ihn geradezu elend machte und wenig angenehme Erinnerungen in ihm weckte. Dazu kam das Schwanken und Stoßen, mit dem der Korb getragen wurde, bis er sich plötzlich in einem Hofe abgesetzt sah, in dem in vergitterten Käfigen hauptsächlich Katzen und Hunde kauerten oder unruhig in ihren Verließen hin- und herliefen.
»Nanu, wohin bin ich denn hier geraten?« dachte Hinnerk und reckte verwundert seinen Hals.
Aber ehe er noch eine Antwort auf seine Frage fand, wurde der Deckel seines Korbes ein wenig gelüftet, eine braune Hand fuhr herein, packte ihn bei den Flügeln, hob ihn heraus und steckte ihn in einen der leeren Käfige, die den Platz umsäumten.
»Wo haben Sie denn den aufgegriffen?« fragte ein Mann in blauer Bluse den Arbeiter, der Hinnerk hergetragen hatte. »Der sieht ja merkwürdig aus! Einen Kehllappen hat er nur mehr, und zerzaust ist er, wie ein alter Strauchritter.«
»In den Anlagen drüben vor dem Tor«, lachte der Angeredete. »Ich dachte, hier im Tierasyl wäre er am besten aufgehoben. Wenn er von seinem Eigentümer zurückgefordert wird, gibt es ein Fundgeld, und sonst habe ich vielleicht einen guten Sonntagsbraten an ihm.«
Verdutzt über die neue Wendung in seinem Schicksal sah Hinnerk den beiden nach, und musterte dann den Käfig, in den man ihn gesetzt hatte. Er war eng und an beiden Seiten mit Brettern verwahrt, so daß Hinnerk nicht zu sehen vermochte, wer in dem Käfig neben ihm hauste. Dazu stieg ein unbekannter scharfer Geruch vom Fußboden auf. Dunkel entsann er sich, ihn schon einmal gerochen zu haben, damals, als der Tierarzt in Anntje Suhrs Hause gewesen war und nach ihrer Ziege gesehen hatte, als sie nach dem Lammen krank geworden war, ein Geruch, der ihm Übelkeit erregte und ihn auch heute nicht vergnüglicher stimmte.
Wütend rannte er gegen das Drahtgeflecht, mit dem sein Käfig vergittert war. Aber es gab nirgends nach, und er stieß sich nur Kamm und Backen daran blutig. Nein, hinaus konnte er nicht, das sah er ein. Ganz so einfach war es doch nicht, seine Freiheit wieder zu gewinnen.
Verstimmt schüttelte er seine Federn zurecht und ließ den Kopf hängen. Als er aber bald nachdem mit Futter und Wasser versehen wurde, ließ er sich durch seine Enttäuschung nicht länger die Laune verderben, fraß sich endlich einmal wieder in Ruhe den Kropf voll und setzte sich dann, müde von dem gebückten Stehen vorhin im Korbe, in eine Ecke.
Aufmerksam spähte er zu den Käfigen hinüber, die ihm gegenüber an der anderen Seite des Hofes standen.
Wütend lief dort eine Dogge hinter ihrem Gitter auf und ab. Von Zeit zu Zeit hob sie die Schnauze in die Höhe und heulte, daß es schauerlich von den Hauswänden zurückschallte. Kläffend antwortete ein Terrier, der neben ihr untergebracht war, während ein Jagdhund mit hängenden Ohren in der Ecke seines Käfigs saß und trübselig und teilnahmlos ins Leere stierte.
»Das ist ja eine merkwürdige Versammlung hier«, dachte Hinnerk, und spähte zu den Katzenkäfigen hinüber, die weiter hofeinwärts lagen. Aber dort war alles still. Zusammengerollt lagen die meisten Katzen in den Ecken ihrer Käfige und taten, als ginge ihr Schicksal sie nichts an. Aber Hinnerk wußte, daß das Verstellung war, und wenn erst der Abend kam, würden auch sie ihre Stimmen erheben und ruhelos hinter den Drahtgittern hin- und herschleichen und eine Lücke suchen, um zu entfliehen.
»Ja, ja«, seufzte Hinnerk, »wir alle sind gefangen. Die Menschen machen mit unsereinem, was ihnen gefällt, und fragen nicht, ob es uns paßt. Wenn wenigstens noch ein paar Sandkörner in dieser elenden Kiste zu finden wären! Sand unterstützt so angenehm die Verdauung.«
Pickend klopfte er mit dem Schnabel auf die hölzernen Planken des Fußbodens.
»Tick tick tick!« kam von nebenan unvermutet Antwort.
»Ah!« rief Hinnerk. »Wer wohnt da neben mir, wenn man fragen darf?«
»Thinka!« antwortete die Stimme eines Huhns . . . »Thinka Fünfzeh.«
»Fünfzeh?« fragte Hinnerk verwundert. »Ordentliche Hühner pflegen vier Zehen zu haben.«
»Aber ich habe fünf, wenn Sie nichts dagegen haben! Und bin stolz darauf, jawohl!«
»Vielleicht ein Geburtsfehler?« fragte Hinnerk.
»Durchaus nicht. Ein Vorzug vielmehr, und zwar einer, der nur wenigen Hühnern zuteil wird. Mein Vater war ein Houdan, wenn es Sie interessiert, und die Houdans tragen fünf Zehen statt vier. Es gibt keinen in unserer Familie, der es nicht täte. Dazu einen doppelten Kamm und eine Haube. Schade, daß Sie meinen Vater nie erblickt haben. Er sah stattlich aus, kann ich Ihnen sagen. Sporen wie Dolche und ein Kleid –«
»Prahlen Sie nicht«, antwortete Hinnerk. »Hat er vielleicht mit dem Wiesel gekämpft? Oder ist er als Sonderpreis verkegelt worden? – Sehen Sie, da könnte ich Ihnen andere Geschichten erzählen! Ahnenstolz mag ganz schön sein, aber er paßt nicht in unsere Zeit, und man läuft Gefahr, sich damit lächerlich zu machen. Leisten Sie selber etwas, das ist gescheiter. Wieviel Eier legen Sie in der Woche, wenn man fragen darf?«
»Ich zähle sie nicht«, antwortete es von nebenan. »Ich lege, wenn es mir Spaß macht und sooft es mir Spaß macht. Ich meine, das ist genug. Und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Hinnerk«, antwortete der Hahn.
»Aus welcher Familie?« fragte die Henne zurück.
Verdutzt schwieg Hinnerk einen Augenblick. Aber er wollte sich nicht lumpen lassen und sagte aufs Geratewohl: »Familie der Goldhälse«. Das klang wenigstens nach etwas, wenn es auch nichts war.
»So, so«, sagte die Henne. »Haben Sie das Gold am Halse oder drin?«
»Beides«, antwortete Hinnerk stolz. »Wenn Sie mich krähen gehört haben, werden Sie mir zugeben müssen, daß ich recht habe. Dazu bin ich in Worpswede geboren, und wenn mich mein Schicksal nicht in die Welt hinausgeführt hätte, wäre ich ohne Frage schon gemalt worden und auf ein Bild gekommen . . . Aber Sie kennen das Dorf nicht.«
»Ach, Sie sind vom Dorfe?« rief die Henne enttäuscht. »Na, da wundert mich ihre Art zu reden nicht sehr.«
»Was soll das heißen?« entrüstete sich Hinnerk. »Sie glauben wohl, weil eine Bretterwand zwischen uns ist, könnten Sie mir ungestraft Grobheiten sagen? Ich bin stolz darauf, ein Landkind zu sein, jawohl, und muß sagen, daß ich vor der Stadt hier auch nicht den mindesten Respekt habe. Es ist eine gottverlassene Gegend, wenn ich es rein heraussagen soll. Weder Wiesen noch Moor, weder Wald noch Heide, von Schweinekoben und Lehmdielen ganz zu schweigen. Nichts, auch gar nichts, was unsereinem Freude machen könnte. Dazu Verrat und Hinterlist auf allen Seiten. Ich danke. Und nun erst dieser Hofplatz hier mit seinem Stank, ja, mag der Teufel wissen, was es ist. Nur Tierärzte riechen so. Da ist mir ein Kuhstall auf dem Dorfe weit lieber, muß ich sagen, und wenn es auch nur ein Ziegenstall wäre.«
»So, so, na ja«, gab das Huhn nach und schwieg. Es war in einem Hofe in der Stadt aufgewachsen und hatte in seinem Leben nichts gesehen als Haus- und Bretterwände.
»Da können Sie wohl nicht mitreden?« fragte Hinnerk. »Sehen Sie! Nur immer vorsichtig mit Worten und Meinungen. Erzählen Sie mir lieber, wie Sie hierher gekommen sind!«
»Auf die unschuldigste Weise«, antwortete es von nebenan. »Es wurde mir mit der Zeit zu eng auf unserem Hofe. Darum flog ich über die Planke, jawohl.«
»Gut gemacht!« schrie Hinnerk. »Das imponiert mir! Sie hätten meine Lebensgefährtin werden sollen. Niemals bin ich einer Henne begegnet, die Mut genug gehabt hätte, mit mir in die Welt hinaus zu gehen. Alle, die ich kennen lernte, waren entweder zu bequem, zu feige oder zu träge. Wie schade, daß ich Sie nicht einmal sehen kann. Ich glaube, ich würde mich auf den ersten Blick sterblich in Sie verlieben! Wie sagten Sie doch, tragen Sie Kamm oder Haube?«
»Eine Haube!« antwortete das Huhn. »Ich sagte Ihnen doch, daß alle Houdans –«
»Schon recht!« unterbrach Hinnerk sie. »Ich war ein wenig unachtsam, verzeihen Sie. Natürlich eine Haube!«
»Ein Kamm wäre gewiß schöner, aber die Haube ist unser Familienwappen, und wenn man sie nur ein wenig in Ordnung hält –«
»Ganz recht«, sagte Hinnerk. »Schließlich kommt es darauf an, daß man keine Grütze im Kopf hat, mag Haube oder Kamm darauf sitzen.«
»Oh, was das betrifft«, antwortete das Huhn. »Schon meine Mutter pflegte zu meinen Geschwistern zu sagen: Die Thinka ist klüger als ihr alle zusammen! Und ich glaube, daß ich es bewiesen habe.«
»Womit?« fragte Hinnerk. »Blieben Sie in dem Nachbarhofe, als Sie bei ihrer Flucht über die Planke flogen?«
»Durchaus nicht«, sagte die Henne, »was denken Sie von mir? Einmal unterwegs kam es mir auf eine überflogene Planke mehr oder weniger nicht an.«
»Ha! Ausgezeichnet!« schrie Hinnerk und seine Augen funkelten.
»Ich nahm sozusagen ein Hindernis nach dem andern, kann ich wohl sagen«, fuhr die Henne fort, »bis ich auf die Straße gelangte!«
»Wie ich!« schrie Hinnerk begeistert und trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Genau wie ich!«
»Aber das war mein Verderben. Ich sage Ihnen, tausend Hände griffen nach mir. Die Menschen müssen es als ein unerhörtes Verbrechen betrachten, wenn unsereines ihre Straßen betritt. Alles Laufen, Flattern und Schreien nützte mir nichts. Ich geriet zuletzt völlig außer Atem, und mein Herz schlug so rasend schnell wie in den Tagen meiner allerersten Kindheit. Das schlimmste aber war, daß die Federn meiner Haube mir die Augen bedeckten. Es ist das einzige Mal gewesen, daß ich meine Haube verwünscht habe . . .«
»Oh!« rief Hinnerk, »ich habe das Glück, einen Kamm zu tragen, aber ich habe Ähnliches durchgemacht, kann ich Ihnen sagen.«
»Das Ende war, daß ich in einen Kellereingang geriet. Dort griff mich dann jemand, hart und rücksichtslos muß ich sagen – es wurde dunkel vor meinen Augen – – bis ich mich hier an diesem abscheulichen Orte wiederfand, eingesperrt wie ein Verbrecher. Oh, ich bin todunglücklich hier. Die Einsamkeit ist so schwer zu ertragen. Nur Hunde und Katzen zur Gesellschaft. Nachts ist es am schlimmsten. Man bekommt einfach keine Ruhe. Die große graue Katze da drüben schreit dann wie eine Besessene. Sowie es dunkel wird, geht es los damit. Sie ist ein wenig leidend, wie es scheint. Aber hat man darum das Recht, alle Anwesenden im Schlafe zu stören?«
Aufmerksam blickte Hinnerk nach den Käfigen der Katzen hinüber.
»Welche ist es denn?« fragte er.
»Die im letzten Käfig. Sehen Sie sie nicht? Sie reckt sich gerade und tut, als wenn über Nacht nichts Besonderes gewesen wäre.«
»Ach, die dunkelgrau getigerte dort«, fragte Hinnerk, »die sich jetzt gerade auf die Hinterpfoten setzt und zu uns herüberstarrt?«
»Ganz recht«, sagte die Henne. »Aber sehen Sie nicht zu lange hinüber. Sie könnte sich vielleicht etwas einbilden.«
»Guten Tag«, rief Hinnerk hinüber. »Heißen Sie vielleicht Mieze?«
Aber die Katze antwortete nicht.
»Da haben Sie es«, sagte das Huhn. »Bei Tage schweigt sie gegen jedermann. Aber lassen Sie es nur Abend werden.«
»Oh«, sagte Hinnerk, »ich kenne das. Zu Hause in Worpswede war eine Katze auf der Nachbarschaft, die mich oft genug mit ihrem Geschrei aus dem Schlafe geschreckt hat. Es klang, als würden ihr die Gedärme aus dem Leibe gerissen. Am anderen Morgen aber lief sie heil und gesund über den Hof. Man hatte ihr auch nicht ein Härchen gekrümmt. Man muß sich nicht täuschen lassen. Katzen haben nun einmal eine besondere Art, ihre Gefühle auszudrücken.«
Nein, die Henne hatte nicht übertrieben. Als es Abend geworden war und Hinnerk längst seinen Kopf unter den einen seiner Flügel gesteckt hatte und eingeschlafen war, begann ein Konzert, das auch einen schwereren Schläfer als Hinnerk geweckt hätte. Die Dogge heulte, der Jagdhund bellte, der Terrier kläffte und sämtliche Katzen begannen zu klagen und zu schreien, als hätte man sie auf glühende Kohlen gesetzt. Sogar ein Papagei, der im Vogelhause saß, war aufgewacht und schrie seine Vokabeln in den Lärm.
»Wacker! Wacker! Wacker! Kommt der Herr? Halt die Luft an, Jule! Herr Doktor, Herr Doktor! Sachte, Kinder, sachte! Redet doch keinen Stuß! Gute Nacht, Lisette!«
Es war ein Höllenlärm, und Hinnerk war nicht wenig froh, als endlich der Morgen graute und die Tiere still wurden. Aber jetzt hielt es Hinnerk nicht mehr. Mit einem schmetternden Kikeriki!, das weit über Höfe und Dächer hinklang, begrüßte er den aufsteigenden Tag.
Eine Stunde später kam der Wärter und fütterte die Tiere. Diesmal war sein Junge mit ihm, der neugierig von einem Zwinger zum anderen eilte, um die neu Eingelieferten zu betrachten, und die, mit denen er schon Freundschaft geschlossen hatte, zu streicheln.
»Der Jagdhund wird heute wohl befördert werden!« sagte sein Vater zu ihm, als sie vor den Käfig des Tieres getreten waren.
»Wie schade«, sagte der Kleine, der ganz gut wußte, daß »befördern« soviel wie töten hieß, ein Schicksal, dem zuletzt alle Tiere verfielen, wenn sich ihr Eigentümer nicht meldete, oder sich ein Käufer für sie nicht fand.
»Vielleicht kommt noch jemand, der ihn kauft«, sagte er mitleidig, öffnete die Tür ein wenig und streichelte ihn.
Sein Vater zuckte die Achseln. »Kann sein, kann auch nicht sein. Eigentlich ist er ja heute das Futter nicht mehr wert. Na, vielleicht ist es seine Gnadenmahlzeit. Wir wollen es nicht so genau nehmen damit. Friß nur, alter Hasenjäger.«
»Der Gockel da ist erst gestern eingeliefert«, erklärte der Wärter seinem Jungen. »Guck, er hat nur einen Kehllappen mehr. Aber ein stattlicher Kerl. Beine wie Roland . . . Ach, sieh da!« rief er, als er in den Käfig der Henne blickte. »Die junge Dame hat über Nacht ein Ei gelegt! So etwas! Nimm es heraus. Da, das kannst du Mutter mitnehmen.«
Die Augen des Jungen strahlten. »Und sie hat nicht einmal ein Nest in ihrem Käfig«, sagte er und steckte das Ei vorsichtig in die Tasche.
»Sie haben ein Ei gelegt?« fragte Hinnerk zärtlich, als die beiden gegangen waren.
»Mehr aus Schreck als aus Interesse!« antwortete die Henne. »Als der Jagdhund drüben so rasend zu bellen anfing, ist es mir weggerutscht. Ja, ja, man hat sich immer noch nicht genügend in der Gewalt«, setzte sie seufzend hinzu. »Von Rechts wegen hätte man ja an einer solchen Stelle wie hier einfach streiken sollen!«
Ein paar Stunden später kam der Wärter mit einem Herrn zurück, den er vor den Käfig der Henne führte.
»Natürlich«, rief er, »da haben wir sie ja! Gut, daß es noch ehrliche Leute gibt. Ich wollte mir erst gar nicht den Weg darum machen, aber dann sagte ich mir, nachfragen kannst du immerhin einmal. Das Tier ist nämlich wertvoller für meine Zucht, als Sie vielleicht glauben! Auf der nächsten großen Ausstellung im Herbst hoffe ich nämlich einen Preis auf die Henne zu bekommen, und ich glaubte schon, der ehrliche Finder habe ihr wohl schon den Hals umgedreht und sie in den Topf gesteckt.«
Die Tür im Käfig wurde geöffnet, der Wärter nahm die Henne heraus, und jetzt bekam Hinnerk seine Nachbarin zum erstenmal zu sehen. Ein schönes Tier, mit weißen und schwarzen Federn und einer dichten Haube auf dem Kopfe.
»Fassen Sie sie doch ein wenig behutsamer an!« rief er, als die Henne unter ängstlichem Geschrei in einen Tragkorb gesteckt wurde.
Aber niemand hörte auf ihn.
Alles war so schnell gegangen, daß er ihr nicht einmal Lebewohl hatte sagen können.
»Was bin ich schuldig?« fragte der fremde Herr.
»Gehen Sie bitte ins Büro«, antwortete der Wärter. »Außer dem Fundgeld und den Futterkosten haben Sie keine Verpflichtungen.«
Damit gingen sie davon, und Hinnerk überfiel eine lähmende Einsamkeit. Die Einzige, mit der er ein vernünftiges Wort hatte reden können, war ihm genommen.
Traurig ließ er den Kopf sinken. Was würde nur mit ihm werden? Ob auch der Viehhändler kam und nachsah, ob man ihn hier eingeliefert hatte und ihn wieder auf den engen Hofplatz hinter seinem Hause zurücktrug?