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Der Zirkus war aus dem Süden wieder nach dem Norden zurückgekehrt, als Mister Dick endlich so weit war, seine Tiere vorführen zu können. Die Katze hatte auf den letzten Proben ihre Sache leidlich gut gemacht und auf die übrigen drei glaubte er sich seit langem verlassen zu können.
An allen Anschlagsäulen der Stadt stand es zu lesen: Die vier Bremer Stadtmusikanten in ihren staunenerregenden musikalischen und anderen Leistungen, vorgeführt von Mister Dick.
Mister Dick fieberte vor Aufregung, als die Vorstellung begann. Alles hing für ihn von dem Erfolg seiner Nummer ab, und niemals hatte er so viel Sorge gehabt als vor dieser Vorführung. Wenn die Katze, unberechenbar wie sie war, in ihrer Launenhaftigkeit versagte, die Tiere durch die ungewohnte Gegenwart der schaulustigen Menge scheu und kopflos wurden, war alles verloren. Er war entschlossen, die ganze Nummer lieber aufzugeben, als zum drittenmal wieder von vorn zu beginnen. Seine Geduld ertrug vieles, aber vielleicht hatte er sich mit den vier Tieren überhaupt zuviel vorgenommen. Schließlich konnte man von einer unvernünftigen Kreatur nicht Unmögliches verlangen.
Der Gedanke machte ihn ein wenig ruhiger. Er mußte dann sehen, etwas anderes zu finden, irgendeinen neuen Trick ersinnen, um für die nächsten Jahre gesichert zu sein. Verdammt schade würde es ja sein! Es war eine so gute Idee mit den vier Bremer Stadtmusikanten. Noch nie, daß jemand darauf gekommen war, und wenn sie gelang, hatte er Aussicht auf eine Reihe gut bezahlter Verpflichtungen. Schließlich wollte jeder leben, selbst ein so armer Teufel von Artist, wie er einer war, der Zeit seines Lebens noch nicht auf einen grünen Zweig gekommen war. In verwegenen Augenblicken hatte er sich bereits reich und berühmt gesehen, sah sein Bild bereits in den illustrierten Blättern: Mister Dick, einer der erfolgreichsten Dresseure der Welt, mit seinen vier Bremer Stadtmusikanten. Denn die Tiere würden mit ihm berühmt werden, das war keine Frage. Für alle Fälle hatte er schon vor einigen Tagen die Pyramide, die sie zu bilden hatten, photographieren lassen, und es nahm sich prächtig aus, wie der Hund auf dem Rücken des Esels, die Katze auf dem Kopfe des Hundes und der Hahn auf den Schultern der Katze stand und alle vier ihre Stimme erhoben. Ha ha ha! Bisher hatte man geglaubt, daß so etwas nur im Märchen möglich sei . . .
Unruhig stand er da und wartete, und wenn nicht die Schminke sein Gesicht so völlig bedeckt und unkenntlich gemacht hätte, hätte man sehen können, wie bleich er war. Die Zeit, bis seine Dressurnummer kam, dünkte ihn diesmal eine Ewigkeit. Wieder und wieder kraulte er der Katze das Fell, gab ihr alle Schmeichelnamen, die er für sie erfunden hatte, tätschelte ihr den Kopf und atmete erleichtert auf, als es endlich so weit war, und er mit den Tieren in die Manege ziehen konnte.
»So passen Sie doch auf!« knurrte er unwillig, als einer der Stallburschen aus Unachtsamkeit dem Hahn beinahe auf die Füße getreten hätte, daß der gute Hinnerk mit einem ängstlichen Gegacker zur Seite flog, und erst gelockt werden mußte, um mitzukommen.
Kopf an Kopf gedrängt erwartete ihn drinnen das Publikum, und ein schmetternder Tusch der Trompeten im Orchester verstärkte die Spannung, die man seiner Nummer entgegenbrachte . . .
»Die Bremer Stadtmusikanten kommen!« rief eine Stimme unter Lachen.
»Wo? Wo?« antworteten ein paar Kinder und stellten sich auf die Bänke, um besser sehen zu können.
Aber da kam Mister Dick auch schon auf dem Esel reitend in die Manege galoppiert, wurde auf einen heimlichen Druck seiner Schenkel prompt in den Sand geworfen und kugelte unter Ach- und Wehgeschrei durch das halbe Sandrondell. Während er noch dalag und so tat, als habe er sich sämtliche Rippen im Leibe gebrochen und könne in seinem Leben nicht wieder aufstehen, und dazu jämmerlich wimmerte und schrie, machte der Esel, wie er es gelernt hatte, wieder kehrt, lief zum Reitergang zurück und holte den Hund ab, der dort so lange zu warten hatte. Nachdem die beiden einen Rundgang um die Manege gemacht hatten, schloß sich ihnen die Katze an, die sich mittlerweile fast unbemerkt auf die Piste beim Eingang gesetzt hatte. Als sich den dreien, nachdem sie unter dem Jubel des Publikums einen zweiten Rundgang um den Zirkus gemacht hatten, nun auch noch der Hahn anschloß und mit komisch wichtigen Schritten neben den anderen einherging, belohnte die vier bereits der prasselnde Beifall der Zuschauer.
Aber nun kam es erst.
Mister Dick hatte sich wieder emporgerappelt, begegnete jetzt wie zufällig den Tieren und redete sie an: »Na – wer seid denn bloß ihr? Und woher kommt ihr denn?« Da er dann keine Antwort bekam, ging es ihm plötzlich von selber auf, daß es vielleicht die vier Bremer Stadtmusikanten seien, die ihm da in den Weg gelaufen seien, ließ von den Stallknechten den Musikapparat hereintragen, um die vier auf die Probe zu stellen, und das Konzert begann.
Argwöhnisch beobachtete Mister Dick die Tiere und hatte dabei besonders die Katze im Auge, aber sie tat diesmal wirklich, was sie sollte, und als hinterher alle vier, eines auf dem Rücken des anderen, ihre Stimme erhoben, der Esel »I–a!« schrie, der Hund zu bellen begann, die Katze miaute und der Hahn sein »Kikeriki« in den Zirkus hineinrief, brach in den Reihen der Zuschauer eine stürmische Heiterkeit aus und ein lautes Klatschen belohnte die Leistungen seiner Tiere.
Aber das nahm die Katze nun doch übel und wollte erschreckt mit einem Satze aus der Manege verschwinden, wurde jedoch im letzten Augenblick von einem der Stallburschen gegriffen und an ihren Platz zurückgebracht. Aber von diesem Augenblick an wollte sie nun durchaus nicht mehr, saß da, böse und falsch, mit zurückgelegten Ohren, so daß Mister Dick es für am klügsten hielt, die Vorführung abzukürzen und sich dafür ein wenig länger mit Hinnerk zu beschäftigen, der mit seinen künstlich verlängerten Schwanzfedern und dem aufgesetzten Kamm auf dem Kopfe, die meiste Aufmerksamkeit erregte. Als er dann wirklich nach den Worten, die Mister Dick an ihn gerichtet hatte, aus der dargebotenen Schachtel eine Zigarette nahm, im Schnabel behielt und neben Mister Dick, der mit komischem Schritt neben ihm ging, die Manege verließ, kannte der Beifall der belustigten Zuschauer keine Grenzen mehr. Man klatschte, schrie und winkte dem glücklichen Clown zu und ruhte nicht eher, bis er noch einmal aus dem Reitergang in die Manege zurückkehrte und sich wieder und wieder verneigen konnte . . . Es war kein Zweifel, der Erfolg war trotz der böswilligen Katze für ihn so groß, wie er kaum zu hoffen gewagt hatte. Ja, der Beifall hielt auch dann noch an, als er bereits die Manege endgültig verlassen hatte. Augenscheinlich wollten die Zuschauer eine Wiederholung seiner Nummer erzwingen, er war aber klug genug, sein Glück heute abend nicht noch ein zweites Mal auf die Probe zu stellen. Auch war die Trapezkünstlerin, die am fliegenden Reck unter der Kuppe des hohen Raumes ihre Sprünge vollführte, bereits in die Manege geeilt und stieg schon auf der schmalen Strickleiter zu ihrem luftigen Turngerät empor.
»Vertracktes Vieh, die Katze«, sagte Mister Dick, als der Direktor ihm nach Schluß der Vorstellung gratulierte und ihm eine Verlängerung seines Vertrages anbot.
»Im Gegenteil«, meinte dieser lachend, »es war am Ende ganz gut, daß sie nicht wollte. So etwas zeigt dem Publikum die Schwierigkeit der Dressur und alles, was gelingt, wird desto höher bewertet. Ich wünschte, die Katze versagte jedesmal, – wenn sie nur am Beginn der Nummer mitmacht.«
Der gute Hinnerk hatte kein Verständnis für das, was geschehen war, und hätte nie begriffen, warum Mister Dick zu so ungewohnter Stunde Esel, Hund und Katze einmal über das andere Mal liebkoste und ihm selber die schönsten Weizenkörner hinstreute. Gedankenvoll stand er in seinem Käfig, hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und dachte an Ina, die Taube, die er seit der gemeinsamen Eisenbahnfahrt nicht mehr wiedergesehen hatte. Daher kam es auch wohl, daß sich ihr Bild in ihm so merkwürdig verändert hatte . . . Sie stand höher auf den Beinen, als es in Wirklichkeit der Fall war, auf dem Kopfe saß ein niedriger rosig schimmernder Kamm, und der Schwanz war dachförmig geworden und hatte wenig Ähnlichkeit mehr mit einem Taubenschwanz . . . Aus Ina, der Taube, war in Hinnerks Vorstellung ein – Huhn geworden.
Wohin hatte man sie mit ihren Schwestern gebracht? Hinnerk wußte es nicht, er wußte nur, daß er sie liebte, und die einzige Möglichkeit, sie zu sehen und sich an ihrem Anblick zu erfreuen, war, den Kopf unter den Flügel zu stecken und von ihr zu träumen. Und das tat er, lange und ausgiebig.
Etwa ein Jahr später – Mister Dick hatte seinen Vertrag mit dem Zirkus längst gelöst und war mit seinen Tieren von einer Spezialitätenbühne zur anderen gezogen – schloß er einen Vertrag mit einem Varieté in Bremen. In dieser Stadt, meinte er, müßte seine Dressurnummer besonderen Beifall finden und ihm einen der größten Erfolge erringen, der überhaupt mit ihr zu erzielen sei, kannte doch jedes Kind dort »die Bremer Stadtmusikanten«, und er war sicher, besonders volle Häuser und Kassen zu machen.
Aber es war eine unglückliche Fahrt für Mister Dick. Schon unterwegs begann es: die Katze erkrankte. So oft sie Mister Dick auch durch ihre Launen und ihre Widersetzlichkeit verdrossen hatte, hing er doch an dem Tiere mit zärtlicher Liebe, und er verdoppelte die Sorgfalt, die er bisher schon in der Pflege seiner vier Reisegefährten bewiesen hatte.
Niemand wußte, woran und durch welche Ursache die Katze erkrankt war. Auch die Tierärzte, die er zu Rate zog, standen vor einem Rätsel. Der eine vermutete Gift, ein anderer Schwindsucht. Der eine wollte ihr eine Einspritzung machen, der andere verordnete ihr eine Arznei, die Mister Dick dem leidenden Tiere mit rührender Sorgfalt einzuflößen versuchte. Aber nach wenigen Augenblicken erbrach sie die Flüssigkeit wieder und wurde mit jedem Tage hinfälliger und elender.
Mister Dick hatte sich in einem Hause am Rande der Stadt eingemietet, wo er seine Tiere, von denen er sich niemals zu trennen pflegte, in dem geräumigen Hofe hinter dem Hause unterbringen konnte. Die Katze hatte er mit sich ins Zimmer genommen, wo er bekümmert und sorgenvoll dem qualvollen Leiden der Erkrankten zusah, ohne ein Mittel zu finden, ihr zu helfen. Zu seinem Mitleid kam die Sorge, was aus seiner Dressurnummer und seinem Auftreten werden sollte, wenn ihm die Katze einging. Einige Tage hindurch glaubte er wieder Hoffnung schöpfen zu dürfen, daß er sie durchbringen werde. Sie hatte freiwillig ein wenig angewärmte Milch genommen, stand auch einige Male von ihrem Lager auf und schlich mit merkwürdig ruhelosen, wenn auch kraftlosen und taumelnden Schritten durch das Zimmer. Nach einer Nacht, in der Mister Dick zum erstenmal wieder mit einiger Ruhe geschlafen hatte, mußte er sich aber am anderen Morgen zu seinem Schrecken davon überzeugen, daß ihr Zustand nur noch hoffnungsloser geworden war.
Am Abend starb sie.
Mister Dick war wie verzweifelt. Alle seine Hoffnungen waren vernichtet. Er mußte den geschlossenen Vertrag wieder lösen und wußte viel zu gut, daß es viele Monate, ja vielleicht ein Jahr oder noch länger dauern werde, bis er ein zweites Tier für seine Nummer abgerichtet haben konnte.
Aber ein Unglück kommt selten allein.
Zwei Tage nachdem er die Katze im Hofe in einer kleinen Kiste vergraben hatte, geriet der Jagdhund, den er auf einen Spaziergang mitgenommen hatte, um dem Tier nach der langen Haft im Hofe ein wenig Bewegung zu verschaffen, in eine Beißerei mit anderen Hunden und wurde dabei so kläglich zugerichtet, daß er mit einer klaffenden Wunde auf der Schulter und jämmerlich auf drei Pfoten hinter seinem Herrn herhinkend, von diesem mit in ein Auto genommen werden mußte, um ihn nach Hause zu schaffen. Da das Tier die Wunde mit der Zunge nicht erreichen und also selber nicht reinlecken konnte, ging sie nach einigen Tagen unter dem angelegten Verband trotz aller angewendeten Sorgfalt in Eiterung über, und Mister Dick mußte das Tier, als Wundfieber und Krämpfe dazu kamen, vom Tierarzt mit blutendem Herzen töten lassen.
Über diesen neuen Schlag verging dem alternden Mann völlig der Mut. Zu der Trauer über die beiden Tiere, die er so unverhofft in wenigen Tagen verloren hatte, kam die Sorge um seine Existenz. Zuletzt sah er keinen anderen Weg, als zunächst wieder ein Angebot, als Clown in einem Zirkus aufzutreten, anzunehmen. Er konnte dann immer noch sehen, was er tun wollte, und ob es ratsam war, noch einmal die mühevolle und unsichere Dressur neuer Tiere für seine Nummer zu beginnen. Den Esel und den Hahn mit auf die Reise zu nehmen, war jedenfalls zunächst nicht ratsam, und so schwer er sich von den Tieren trennte, überließ er den Hahn für die nächste Zeit seinen Wirtsleuten und brachte den Esel gegen ein entsprechendes Pflegegeld in einem Reitstall unter. Mutlos und verdrossen entschloß er sich dann, seine neue Verpflichtung anzutreten.
Von diesem Tage an war Hinnerk im wesentlichen wieder sich selber überlassen. Verlassen und einsam spazierte er täglich auf dem Hofplatz umher, wo er alle Freiheit hatte, die er nur verlangen konnte. Aber soviel er hier auch in der Erde scharren durfte, wurde ihm bei der Einzelhaft, zu der er sich verurteilt sah, doch zuletzt die Zeit lang. Dazu kam das Frühjahr, das seine Sehnsucht nach seinesgleichen so gewaltig in ihm weckte, daß er es eines Tages, als er in einem der Nachbarhöfe ein paar Hühner gackern hörte, einfach nicht mehr aushielt und kurz entschlossen und mit klatschenden Schwingen über den hölzernen Bretterzaun zu fliegen versuchte, der den Hof einschloß.
Entweder aber war der Zaun höher, als er ihn geschätzt hatte oder seine Kraft war geringer geworden. Es gelang ihm jedenfalls nicht hinüberzukommen, er rutschte vielmehr kläglich an ihm wieder herunter und stand mit verplustertem Gefieder und ein wenig zerschundenem Kehllappen nach wenig Augenblicken wieder da, wo er vorher gewesen war.
Aber so leicht war Hinnerk nicht zu entmutigen, und er versuchte es noch einmal. Aber der Erfolg war der gleiche wie vorher, und beschämt vor sich selber zog Hinnerk den Kopf zwischen die Schultern und schielte mit schiefgewendetem Kopfe zu dem Rand des Zaunes hinauf, der ihn von dem Nachbarhofe trennte. Trübselig hatte er sich schon in sein Schicksal ergeben, als er eine Ratte gewahrte, die soeben unter dem Zaune hindurchschlüpfte und augenscheinlich zu dem kleinen hölzernen Stall hinüberwechseln wollte, in welchem Hinnerk während der Nacht schlief und das Futtergefäß vom Morgen her noch mit reichlichen Resten lockte.
Angewidert und erschreckt trat Hinnerk ein paar Schritte zurück und schlenkerte mit seinem Kehllappen, als habe er etwas Unangenehmes in den Schnabel bekommen.
»Na, na!« sagte die Ratte. »Was soll das bedeuten bitte?«
»Gehen Sie mir aus den Augen!« antwortete Hinnerk. »Ich habe mit Ihresgleichen noch nie Gemeinschaft gehabt!«
»Als wenn das ein Grund wäre, sich aufzuregen«, erwiderte die Ratte und sah ihn aus ihren schwarzen Augen spöttisch an. »Ich wüßte jedenfalls nicht, wie Sie daraus ein Recht ableiten wollen, mir hier im Wege zu stehen? Einbildung ist jedenfalls schlimmer als Pestilenz, pflegte meine Mutter immer zu sagen und hatte recht darin. Im Grunde genommen sollten Sie mir dankbar sein, statt mit gesträubten Halsfedern vor mir zu stehen.«
»Dankbar? Ich wüßte nicht, warum?« fragte Hinnerk böse und streitlustig.
»Weil ich ein Loch unter den alten Bretterzaun gewühlt habe!« entgegnete die Ratte. »Wenn Sie es ein wenig erweiterten, könnten Sie hinausschlüpfen und ein wenig auf dem Zimmerplatz spazierengehen, der dahinter liegt!«
»Ah!« sagte Hinnerk, ein wenig freundlicher. »Das ist ein guter Vorschlag. Wenn der Erdboden nur nicht so hart und fest getreten wäre.«
»Oh«, meinte die Ratte, »solche Dinge stören mich nicht. Ich wühle solange, bis ich mir einen Durchgang verschafft habe, da können Sie sicher sein. Nicht nachgeben, das ist nun meine Losung. Ich hebe selbst schwere Steine mit meinen Schultern empor, wenn es sein muß. Sie, mein Herr, scheinen zu den Leuten zu gehören, die vor jedem Hindernis zu kapitulieren pflegen?«
»Durchaus nicht«, entgegnete Hinnerk. »Ich könnte Ihnen Beispiele anführen, die Sie beschämen würden. Aber ich verzichte darauf, Ihnen gegenüber recht zu behalten!«
»Das ist vernünftig gesprochen!« meinte die Ratte höhnisch.
Ärgerlich machte Hinnerk sich daran, das Loch, das die Ratte gewühlt hatte, mit seinen Füßen zu erweitern.
»Nun, unterhalten Sie sich gut dabei«, wünschte die Ratte und hob spöttisch ihre Nase. »Ich sehe, es schafft mehr, als ich Ihnen zugetraut hätte. Ich gehe mittlerweile ein wenig in Ihren Stall und will dort einmal nach dem Rechten sehen. Schade, daß Sie keine Henne bei sich haben.«
»Warum bedauern Sie das?« fragte Hinnerk unwirsch.
»Weil ich gern Eier esse«, entgegnete die Ratte.
»Pfui!« rief Hinnerk.
»Haben Sie sich bitte nicht so, nicht wahr? Man sieht, Sie sind noch nicht weit herumgekommen in der Welt.«
»Das bitte ich mir aber aus!« rief Hinnerk beleidigt. »Waren Sie schon einmal in einem Zirkus angestellt, wie ich? Sind Sie schon von einer Bühne zur anderen gereist, nein, nur ein einziges Mal öffentlich aufgetreten?«
»Nein, das kann ich nicht behaupten«, antwortete die Ratte. »Ich liebe die Öffentlichkeit überhaupt nicht, muß ich sagen, und wühle lieber im Verborgenen. Es ist sicherer und schafft ebensoviel.«
»Dann schlagen Sie bitte einen bescheideneren Ton an mir gegenüber!«
»Nun ja«, sagte die Ratte. »Jeder hat seine Erfahrungen. Aber es wäre mir lieber, Sie hätten gelernt, Eier zu legen. Es ist ein Mangel, muß ich sagen.«
Damit verschwand sie im Hühnerstall und ließ Hinnerk allein, der das Loch unter dem Bretterzaun so erweitert hatte, daß er, wenn er den Kopf tief auf die Erde neigte, schon hinaussehen konnte.
Draußen lag ein einsamer Zimmerplatz. Holzstücke und Späne lagen umher. Ein Stapel frisch behauener Balken gleißte im hellen Licht der Nachmittagssonne, und stärker als vorher erhob sich die Sehnsucht nach Freiheit in Hinnerk. Sollte er hier hinter dem unbarmherzigen alten Bretterzaun versauern? Es wurde Zeit, daß er sich auf und davon machte. Mister Dick war schon seit langem nicht mehr in den Hof gekommen, und wer wußte, ob er sich jemals wieder blicken ließ?
Von neuem begann er zu scharren. Die Erde flog nur so.
»Gut geschafft«, sagte die Ratte und schlüpfte an seinem Schnabel vorbei auf den Zimmerplatz zurück.
»Pfui, nein!« schrie Hinnerk und sprang zur Seite. Er war so vertieft gewesen, daß er die Ratte erst bemerkte, als sie schon an ihm vorbei war.
»Was beliebten Sie soeben zu bemerken?« erkundigte sie sich.
»Nichts«, sagte Hinnerk abweisend, dem Schreck und Abscheu zugleich die Worte verschlugen.
»So, das wollte ich mir auch ausgebeten haben«, antwortete die Ratte frech und verschwand.
Hinnerk schauderte es, und er schüttelte die Federn. Es war doch ein unausstehliches Tier! Es gab keins, das er so verabscheute.
Endlich! Das Loch mußte jetzt groß genug sein. Wenn er sich ein wenig Zwang antat und es im Kriechen versuchte, mußte es gehen.
Aber er hatte sich doch unterschätzt. Die lange Gefangenschaft und das gute Futter hatten ihn dicker werden lassen, als ihm jetzt gut war, und er kam nur so weit, daß er sich gründlich festklemmte und weder vorwärts noch rückwärts konnte.
Er drängte und schob sich mit aller Kraft vorwärts – vergeblich, es ging nicht.
Der Kamm schwoll ihm von der Anstrengung und sein Kehllappen lief so rot an wie eine überreife Erdbeere.
»Na? Wollen Sie vielleicht für immer da sitzen bleiben?« fragte die Ratte, die unter einem Haufen alter Dachsparren wieder zum Vorschein kam.
»Was denken Sie!« antwortete Hinnerk verzweifelt und schon ganz ermattet von seinen Anstrengungen sich zu befreien. »Das habe ich durchaus nicht vor. Die Sache ist einfach die, daß ich das Loch doch noch nicht weit genug gescharrt habe und nun ein wenig hier festsitze.«
»Prachtvoll!« rief die Ratte und kam näher, als Hinnerk lieb war.
»Das nennen Sie prachtvoll?« fragte Hinnerk und vor Wut sträubten sich ihm die Halsfedern.
»Allerdings«, bestätigte die Ratte. »Ich könnte Ihnen nun gut in aller Ruhe die Beine abnagen.«
»Sie Scheusal!« rief Hinnerk aufgeregt und empört. »Das sähe Ihnen ähnlich! Kommen Sie mir gefälligst nicht zu nahe, das rate ich Ihnen!«
»Warum nicht?« fragte die Ratte. »Aus der Entfernung geht es doch nicht!«
»Hüten Sie sich!« schrie Hinnerk drohend und mit zornfunkelnden Augen.
»Wovor?« fragte die Ratte höhnisch. »Doch nicht vor Ihren Sporen? Die haben Sie ja, soviel ich sehe, gut unter Ihrem Leibe verwahrt, und wenn ich mir hier einen Gang grabe, kann ich von unten her ohne jede Gefahr an Ihre Läufe kommen. So ein Hühnerbein ist eine Delikatesse. Ich weiß das aus Erfahrung. Es ist noch nicht so lange her, daß ich ein paar da drüben auf dem Kehrichthaufen gefunden habe.«
Hinnerk war es bei den Worten der Ratte siedend heiß geworden. Es war klar, daß er, hilflos eingeklemmt, der Ratte ausgeliefert war, wenn sie sich tatsächlich daran machte, sich unter dem Erdboden zu ihm hinzuwühlen.
Mochten alle Rückenfedern dabei in die Brüche gehen – er mußte frei werden, vorwärts oder rückwärts galt ihm gleich.
Aber es ging nicht, und verzweifelt und völlig erschöpft wollte er sich schon in sein Schicksal ergeben, als er auf den Gedanken kam, ob er nicht besser tat, sich seitlich herumzudrehen, ähnlich so, wie er es machte, wenn er ein Staubbad nahm? Vielleicht, daß er sich so am leichtesten ein wenig mehr Raum verschaffen könne. So war es ihm auch am Ende möglich, seine Beine vor den Zähnen der Ratte zu retten.
Mit dem Rest seiner Kraft begann er darum sich herumzudrehen. Aber auch das war leichter gedacht, als getan. Immerhin, es ging, ruckweise kam er weiter und – o Freude – jetzt bekam er auch eines seiner Beine frei, konnte mit den Zehen vor den Rand des Bretterzaunes fassen und sich dadurch kräftiger als vorher nach vorn pressen.
Noch ein Ruck, ein verzweifeltes Ziehen mit seinen Krallen, und er war frei. Die Erde aus den Federn schüttelnd, stand er auf dem Zimmerplatz, schwach in den Läufen und Zehen – aber doch heil und unversehrt.
Hurra! Das war Hilfe in der Not.
»Na, da haben Sie mehr Glück als Verstand gehabt!« rief die Ratte und zog sich vor Hinnerks Schnabel und Sporen wieder unter den alten Holzhaufen zurück, unter dem sie wohnte.
»Wagen Sie es nicht, wieder an den Tag zu kommen, solange ich hier stehe!« rief Hinnerk und senkte kampfbereit die Flügel. »Ich bin imstande und hacke Ihnen die Augen aus!«
»Dazu gehören zwei«, antwortete die Ratte frech, »einer der hackt und einer, der sich hacken läßt!«
»Kommen Sie nur her!« schrie Hinnerk wütend, »damit wir sehen, wer oben bleibt!«
Aber die Ratte zog vor zu bleiben, wo sie war.
»Gute Reise«, rief sie. »Ich sehe, Sie wollen weiter. Halten Sie sich nicht mehr lange auf, nicht wahr? Wenn Sie heute abend zurückkehren, besuche ich Sie über Nacht drüben in Ihrem Stall. Wir wollen sehen, ob Sie dann auch soviel Mut haben wie jetzt.«
»Da können Sie lange warten!« antwortete Hinnerk. »Ich habe nicht die Absicht, wieder hierher zurückzukehren.«
»So eine Bestie«, dachte er erzürnt, als er weiterging. »Schade, daß ich ihr nicht an den Pelz konnte. Aber Respekt hatte sie doch, und das ist die Hauptsache!«
Ohne große Eile ging er weiter.
Es war ein schöner Nachmittag. Die Sonne schien herrlich warm. Und die ersten Schwalben schossen über den Platz, wippten mit einem Schlag ihrer Flügel über Balken und Bretterhaufen hinweg und schwangen sich dann wieder in die Luft empor.
Neiderfüllt sah Hinnerk ihnen nach. Es war ein Jammer, daß er nicht zu fliegen vermochte wie sie. Beschämt dachte er an den Bretterzaun zurück, den er nicht hatte überfliegen können und wie ein Maulwurf unterwühlen mußte, um frei zu werden.
Auf der einsamen, noch unbebauten Straße, an welche der Zimmerplatz grenzte, sauste ein Auto vorbei und schreckte Hinnerk von der eingeschlagenen Richtung wieder ab. Nein, vor Straßenwagen und Menschen hatte er nach den schlechten Erfahrungen, die er früher mit ihnen gemacht hatte, einen gehörigen Respekt. Da war es schon besser, auf gut Glück feldeinwärts zu gehen.
Ein Graben, der den Platz vom freien Felde trennte, war bald überflogen, vor ihm dehnten sich unendliche Wiesen aus, und Hinnerk schritt tapfer aus, um davonzukommen. Um ihn war es still und menschenleer, aber er mäßigte seinen Schritt nicht eher, bis er auf eine Viehweide kam, wo ein paar Ziegen an langen Halfterketten im tiefen Grase standen und eine dumpfe Erinnerung an seine Heimat und Anntje Kiekuts Hof in ihm weckten.
Schon wollte er über den nächsten Graben fliegen, als die letzte der Ziegen verwundert den Kopf hob und mit langsamem Schritt so weit auf ihn zukam, als die Kette nur reichen wollte.
Verwundert blieb auch Hinnerk stehen.
»Ja, sind Sie es oder sind Sie es nicht?« fragte er und starrte auf den weißen Stern vor ihrer Stirn.
Wirklich, sie war es. Lena, von Anntje Kiekuts Nachbarhof. Als Hinnerk von Worpswede fortkam, war sie kaum erwachsen gewesen. Aber er hatte sie zu oft auf der Wiese hinter Anntjes Knick getroffen, wenn sie an stillen Sommertagen dort angepfählt gestanden und sich am grünen Grase gesättigt hatte.
»Hinnerk?« fragte sie. »Nein, wie ist das möglich!«
»Ja«, sagte Hinnerk, schlug vor Begeisterung und Stolz mit den Flügeln und krähte vor Freude. »Was für ein glückliches Wiederbegegnen. Wie kommen Sie denn nur hierher, meine Beste? Ist Worpswede so nahe?«
»Nein«, antwortete die Ziege. »Es wird noch ein gehöriges Ende bis dorthin sein.«
»Dann sind Sie auf und davon gegangen wie ich?« fragte Hinnerk erregt und froh.
»Durchaus nicht«, antwortete die Ziege. »Unsereiner kommt ja in seinem Leben nie von der Kette los, das wissen Sie doch. Nein, ganz einfach, die alte Trin-Aleid in Worpswede hat mich hierher verkauft. Ich bin schon lange drüben in der Stadt und jeden Abend holt man mich von der Weide wieder dorthin zurück. Das letzte Haus da drüben, das Sie sehen können . . . Und Sie? Wie geht es Ihnen? Sind Sie hier auch in der Nähe zu Hause?«
»Schönen Dank für die Nachfrage!« antwortete Hinnerk. »Ich bin wieder einmal durchgebrannt und wäre nicht böse, wenn ich von hier aus auf irgendeinem Wege wieder nach Worpswede zurückkäme. Wissen Sie, in welcher Richtung man gehen müßte?«
Nein, die Ziege wußte es nicht. Man hatte sie, als sie in die Stadt verkauft worden war, gefahren, und da behielt man die Richtung nicht. Es war auch schon zu lange her.
»Wenn ich nur ein wenig Aussicht gewinnen könnte«, seufzte Hinnerk. »Sie wissen, ich habe gute Augen. Aber hier in den Wiesen sieht man höchstens bis zum nächsten Graben. Aber erzählen Sie, Lena, wie mag es in Worpswede gehen? Lebt Anntje Kiekut noch?«
»Warum sollte sie nicht mehr leben?« antwortete Lena seelenruhig, rupfte einen Grashalm ab und begann ihn gelangweilt zu verzehren.
»Und wie mag es meinen Hennen gehen?« fragte Hinnerk lebhaft. »Ob sie noch alle am Leben sind?«
»Kann sein, kann auch nicht sein«, antwortete die Ziege. »Ich bin schon zu lange von dort weg, wissen Sie, und erinnere nicht einmal die Namen mehr. Ich weiß nur, daß in den Wochen, ehe ich fortkam, dort ein neuer Hahn ins Haus gekommen ist. Schneeweiß mit rotem Kamm. Ein stattlicher Kerl.«
»Wie?« rief Hinnerk empört und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. »So eine Undankbarkeit! Ich werde in die Welt hinausgestoßen und kann sehen, wie ich mein Leben friste, – und zu Hause – – nun, das gibt einen Kampf, wie er noch nicht dagewesen ist, kann ich Ihnen sagen! Lassen Sie mich nur heimkommen! Ich werde keine Gnade kennen. Meine Sporen sind nicht kürzer geworden und stumpfer auch nicht, kann ich versichern. Weiß mit rotem Kamm, sagten Sie? Pack! Der Gelbhaubenkakadu war sicher ein stattlicherer Kerl als dieser Eindringling. Sie glauben nicht, wie spielend ich mit ihm fertig geworden bin!«
»Das mag gern sein«, antwortete die Ziege gelangweilt und begann wieder zu fressen. »Ich kann Ihnen aber sagen, der junge Mann ist nicht von schlechten Eltern, wie man mir erzählte.«
»Was heißt denn das?« schrie Hinnerk wütend und aufgeregt. »Sollte er sich vielleicht mit mir vergleichen können? Ist er vielleicht als Bremer Stadtmusikant durch die Welt gezogen und jemals in einem Zirkus aufgetreten? Ich habe mehr gesehen und mehr erlebt, kann ich Ihnen sagen, als in seinen Schädel gegangen wäre. Lassen Sie mich nur heimkommen, sage ich Ihnen, dann werden wir schon sehen, wer Herr im Hause ist!«
Aufgeregt schritt er weiter.
»Sie wollen schon gehen?« fragte die Ziege.
»Allerdings! Ich meine, es wird Zeit für mich. Ein junger Hahn unter meinen Hennen? Da soll doch gleich –«
Da war er schon über den Graben. Er guckte sich nicht einmal mehr um.
Freilich, den Weg zu finden war nicht leicht. Aber bisher hatte er immer noch Glück gehabt. Weiter, nur weiter! Die Welt war groß, gewiß. Größer jedenfalls, als er sich früher jemals gedacht hatte. Aber schließlich war Worpswede kein Maulwurfshaufen, und irgendwie mußte doch hinzufinden sein.
Zu seiner Freude erblickte er am Ende der nächsten Wiese einen Storch. Langsam und bedächtig, mit richtigem Professorenschritt, spazierte er an einem Graben entlang und guckte tiefsinnig in das Wasser, das von Kraut und Entenflott bedeckt wie ein smaragdgrüner ebener Weg an der Wiese entlang ging.
»Halloh!« rief Hinnerk und näherte sich dem Storch in der Hoffnung, abermals einem alten Bekannten zu begegnen. Aber Hans Langbein sah nur verwundert auf, und Hinnerk merkte, daß er, statt seines hochmütigen Freundes aus Worpswede, einen Vetter desselben vor sich hatte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er höflich, »ich habe mich ein wenig in der Gegend verbiestert, und da Sie wegkundiger sind als andere Leute –«
»Reden Sie keinen Stuß!« – unterbrach ihn der Storch. »Sagen Sie lieber, wohin Sie wollen!«
»Könnten Sie mir sagen, in welcher Richtung Worpswede liegt?«
»Worpswede?« wiederholte der Storch und kratzte sich mit den Zehen seines Fußes hinter den Ohren. »Den Namen habe ich noch nicht gehört, muß ich sagen. Ist das eine Hühnerfarm, wie sie jetzt allenthalben aus dem Boden schießen?«
»Nein«, antwortete Hinnerk. »Es ist nur ein Dorf, aber ein Weltdorf, wie ich mir habe sagen lassen. Es liegt am Weiherberge in der Nähe des Teufelsmoors, wenn Sie da Bescheid wissen.«
»Bescheid? Das kann ich nicht sagen. Aber meine Frau ist dort geboren und hat mir oft davon erzählt. Sie wollte immer, daß wir dorthin ziehen sollten. Aber ich bin nun einmal ein Hanseat, wissen Sie, und da sehe ich eigentlich nicht die Notwendigkeit ein.«
»So, so«, sagte Hinnerk. »Allerdings –«
»Ich bin darum auch noch nie dort gewesen«, fuhr der Storch fort, fuhr mit dem Schnabel ins Wasser, holte einen Frosch herauf und verschluckte ihn. »Ich sehe manche Dörfer und Städte, wenn ich im Herbst nach Ägypten fliege. Aber schließlich kann man nicht alles wissen, sehen Sie. Fragen Sie Ana, die Ente. Vielleicht, daß sie Ihnen Auskunft geben kann.«
»Aber wo finde ich sie?« fragte Hinnerk enttäuscht.
»Da müssen Sie sehen! Sie hält sich selten sehr lange in einer Gegend auf und kommt auch nicht gern so nahe an die Stadt heran. Wenn Sie weiter ins Feld hinauskommen, haben Sie mehr Aussicht, ihr zu begegnen.«
Er machte ein paar Hüpfsprünge, breitete seine Flügel aus und flog davon. Es rauschte ordentlich.
Verstimmt sah Hinnerk ihm nach.
Es war doch zu ärgerlich, ihn einfach so stehen zu lassen. Aber er hatte es ja schon immer gesagt, diese Störche waren eine hochmütige Sippe. Jeder von ihnen tat, als wenn er die Weisheit mit Löffeln gegessen hätte, wenn man aber näher zusah, war nie etwas dahinter. Da sollte ihm nur einmal einer wiederkommen!
Verdrossen und mißmutig ging er weiter, überflog von neuem einen Graben, kam über eine Weide, auf der soeben die Kühe gemolken wurden, und zog es darum vor, sich am Grabenrand an den Mägden vorbeizuschleichen. Es war für alle Fälle besser, wenn er nicht gesehen wurde. Hier im freien Felde, wohin niemals einer seinesgleichen kam, aufzufallen, war sicher gefährlich.
Erst als die Sonne untergegangen und das Feld menschenleer geworden war, wagte er es, auf einem Schlagbaum am Wege sein Nachtquartier aufzuschlagen. Er hätte gern ein Stück höher gesessen, aber es war immer noch besser, in der weiten baumlosen Ebene zwei Ellen über dem Boden zu schlafen, als im Grase auf der taufeuchten Erde zu hocken.
Am anderen Morgen machte er sich in aller Frühe von neuem auf den Weg, aber bei dem Regen, der seit dem Morgengrauen vom Himmel herabrann, war er froh, als er nach kurzer Wanderung an einen Weidenbusch gelangte, unter dem er ein wenig Schutz fand und sich die Tropfen aus den Federn schütteln konnte. Nein, er liebte keinen Regen, am wenigstens einen so durchdringenden wie diesen, und wer ihn mit hängendem Schwanz, niedergeschlagen und mit klatschnassem Gefieder unter der alten Weide hätte stehen sehen, wäre über seine Stimmung nicht in Zweifel gewesen.
Endlich, gegen Mittag, hörte der Regen auf, die Sonne brach wieder durch die Wolken und begann seine Federn zu trocknen, die ihm trübselig über Hals und Sattel hingen, und von neuem Mute erfüllt, machte er sich wieder auf den Weg, überflog einen Wassergraben nach dem andern, die hier, alle hundert Hahnenschritte einer, das Gelände durchschnitten, bis er zuletzt an einen so breiten Zuggraben kam, daß er sich nicht getraute, hinüberzufliegen.
So blieb ihm nichts anderes, als vorderhand daran entlangzuspazieren und dabei nach einer Gelegenheit auszuspähen, auf andere Weise hinüberzukommen.
Kaum war er ein paar Minuten unterwegs, als sich mit heiserm Gekreisch ein Vogel von der Größe einer jungen Krähe vor ihm aus dem Grase erhob und wieder und wieder dicht vor seinem Kopfe vorüberflog. »Greta, greta, greta!« schrie er, aufgeregt und so hastig, wie er es nur herausbringen konnte.
»Haben Sie vielleicht Ihre Frau verloren?« rief Hinnerk und blieb stehen.
»Durchaus nicht«, antwortete die Pfuhlschnepfe.
»Ja, warum schreien Sie denn dann so besessen nach ihr?«
»Was geht Sie das an?« antwortete die Pfuhlschnepfe zornig, faltete ihre Flügel zusammen und ließ sich dicht vor Hinnerk nieder. Dabei hob sie kampfentschlossen ihren langen Schnabel und sträubte die Halsfedern.
»Friedlich! Friedlich!« mahnte Hinnerk. »Was soll die Aufregung? Sie wirkt nur komisch bei einem Kerl, wie Sie einer sind.«
»Noch einen Schritt weiter – und ich bohre Ihnen meinen Schnabel in die Brust, darauf können Sie sich verlassen!« schrie die Pfuhlschnepfe.
»Langsam, langsam!« antwortete Hinnerk und zupfte verächtlich einen Grashalm ab. »Darf man fragen, warum Sie mir hier kurzerhand den Weg verbieten?«
»Haben Sie vielleicht keine Augen im Kopfe?« schrie die Pfuhlschnepfe.
»Ich denke doch«, entgegnete Hinnerk.
»Und dann sehen Sie nicht, daß Sie nahe daran sind, mein Nest zu zertreten und meine Jungen dazu, wenn Sie so dummfrech weitergehen?«
»Ach so«, sagte Hinnerk gedehnt. »Das hätten Sie doch nur gleich sagen können. Ich habe durchaus nicht vor, einen Kindermord zu begehen. Wo haben Sie Ihr Nest denn? Alle Achtung! Sieben Stück!«
»Nicht mehr und nicht weniger!« antwortete die Pfuhlschnepfe. »Es ist bereits das zweite Gelege. Das erste hat die Überschwemmung uns genommen, die wir noch vor einigen Wochen hier auf den Wiesen hatten. Einen Tag vor dem Schlüpfen lagen die Eier im Wasser und trieben mit der Flut davon. Ja, wir haben es nicht leicht gehabt hier in diesem Jahre. Sie verstehen, daß man da mißtrauisch wird und doppelt scharf aufpaßt!«
»Gewiß! Aber diese hier sind prächtig, das muß man sagen!« antwortete Hinnerk und sah mit langem Halse auf das Nest herab, das, in eine Bodenvertiefung gebettet, wohl verborgen im hohen Grase lag. Es gehörten schon Falkenaugen dazu, um es zu entdecken.
Ein wenig beruhigt über Hinnerks Absichten, lief die Pfuhlschnepfe jetzt zu den kläglich piepsenden Jungen hin und deckte sie mit den Flügeln zu.
»Wie kommen Sie überhaupt hierher?« fragte sie. »Und was wollen Sie hier in den Wiesen? Ich niste hier schon im dritten Jahre, aber Ihresgleichen habe ich hier noch nie gesehen.«
»Das glaube ich wohl«, sagte Hinnerk. »Ich komme aus der Stadt und will nach Worpswede. Das ist meine Heimat, wissen Sie. Ich habe nämlich eine Reise um die Welt gemacht und habe den Kram über, verstehen Sie?«
»Eine Reise um die Welt?« fragte die Pfuhlschnepfe verwundert. »Ja, das ist etwas! Unsereiner kommt ja in jedem Jahre über Winter auch ein gutes Stück in der Welt herum, aber soweit versteigen wir Pfuhlschnepfen uns doch nicht. Da müssen Sie übrigens ganz ausgezeichnet fliegen können?«
»Durchaus nicht«, sagte Hinnerk mit edlem Freimut. »Alles zu Fuß, verstehen Sie? Es ist mir nicht so leicht gemacht worden wie Ihnen. Wenn ich Sie wäre – ich flöge mit den Wolken, das kann ich Ihnen sagen.«
»So, so! Mit den Wolken! Sieh doch einer an! Auf was für Gedanken man doch kommen kann! Aber nun gehen Sie weiter, wenn ich bitten darf. Meine Kinder bedürfen der Ruhe, und ich kann nicht stillsitzen, solange Sie hier um das Nest herumspazieren.«
»Wissen Sie vielleicht den Weg nach Worpswede?« fragte Hinnerk. »Ich wäre Ihnen dankbar. Es muß nicht mehr sehr weit hin sein, wenn mich nicht alles täuscht. Wenn ich nur irgendwo ein wenig Aussicht gewinnen könnte, würde ich es sicher entdecken.«
»Worpswede?« fragte die Pfuhlschnepfe nachdenklich. »Ich meine allerdings, daß ich den Namen schon einmal gehört hätte . . .«
»Wenn Sie nicht mehr wissen –!«
»Fragen Sie den Kiebitz!« riet ihm die Pfuhlschnepfe. »Der kommt ein gutes Stück in der Welt herum. Vielleicht, daß er es weiß. Dort drüben fliegt er. Sie kennen ihn doch?«
»Natürlich!« antwortete Hinnerk. »Aus Worpswede sein und keinen Kiebitz kennen! Im Gegenteil: Er ist ein guter Bekannter von mir. Na, dann auf Wiedersehen also! Lassen Sie sich da auf dem Nest die Zeit nicht zu lang werden. Wozu übernehmen Sie überhaupt solche Dinge. Lassen Sie doch Ihre Frau für die Kinder sorgen. Ich habe noch nie einen Versuch unternommen, Kücken aufzuziehen.«
»Das macht nun jeder nach seiner Weise!« antwortete die Pfuhlschnepfe gekränkt.
»Na ja, ich meine nur so! Deswegen brauchen Sie doch nicht gleich beleidigt zu sein. Es ist ja durchaus möglich, daß Ihre Frau zu dumm oder zu faul dazu ist.«
»Was fällt Ihnen eigentlich ein?« rief die Pfuhlschnepfe empört. »Wenn ich nun behaupten wollte, daß Sie zu dumm oder zu faul wären, an Ihre Kinder zu denken?«
Aber Hinnerk hatte ihr schon den Rücken zugewandt und überhörte die Worte.
»Denn dumm genug sind Sie«, fuhr die Pfuhlschnepfe fort. »Das hat sich schon vorhin gezeigt, als Sie auf mein Nest losmarschierten. Und jetzt sind Sie auf dem besten Wege, in die Wasserlache da drüben hineinzulaufen! Nicht da herum, Mann!« schrie sie ihm nun mit lauter Stimme nach.
»Warum nicht?« fragte Hinnerk und wendete sich um.
»Sehen Sie denn nicht, daß die Stelle sumpfig ist?« rief die Pfuhlschnepfe. »Wenn ein Kerl wie Sie hineintritt, können Sie das schönste Schwimmbad nehmen. Gehen Sie lieber auf die Hundsblumen zu, die Sie vor sich sehen. Dort ist der Boden höher und trockner. Das sollten Sie eigentlich selber wissen.«
»Danke!« rief Hinnerk, der zu stolz war, die gutgemeinte Warnung zu beachten. »Ich bin nicht bange vor dem bißchen Wasser, das hier zwischen dem Grase steht, wenn ich auch keine Storchbeine mitbekommen habe.«
»Na, denn lop to«, brummte die Pfuhlschnepfe.
»Hätte ich nur gehorcht«, dachte Hinnerk, als er eine Weile weitergegangen war, der Boden immer weicher und nachgiebiger wurde und ihm das Wasser allmählich bis an den Leib heraufstieg. »Verwünschte Bescherung!« Und dabei hatte die Fläche unter den hohen Grashalmen so harmlos ausgesehen.
Nein, da half nun alles nichts – er mußte die Flügel gebrauchen –, wenn er nicht elend in diesem Sumpfe steckenbleiben wollte. Aber auch das war leichter gesagt als getan, und er war froh, als er durchnäßt und auf den Tod ermattet bei der Löwenzahngruppe auf einer höhergelegenen Stelle landete und sich verschnaufen konnte.
Ärgerlich schüttelte er sich die Wassertropfen aus den Federn. Im Wasser herumzupatschen war seine Sache nicht. Schließlich war er keine Pfuhlschnepfe.
Entrüstet ging er weiter.
»Sieh, sieh, sieh!« schrien ein paar Mauersegler und schossen wie Pfeile über seinen Kopf hinweg.
»Sieh, sieh, sieh? Was soll ich denn sehen? Sagen Sie mir lieber, wie ich auf dem kürzesten Wege nach Worpswede komme.«
Aber die Segler waren schon längst davon und hörten nicht mehr, was er rief.
Ja, es war ärgerlich. Dieses Takelzeug! Kaum waren sie da, waren sie schon wieder davon. »Fliegenjäger!« schimpfte Hinnerk ihnen nach. Er war zu wütend.
Mit schiefgewendetem Kopfe stelzte er weiter und steuerte, ohne es zu ahnen, auf ein Kiebitznest los.
»Nanu?« rief ihn der Kiebitz an. »Schlafen Sie vielleicht mit offenen Augen?«
»Entschuldigen Sie bitte«, antwortete Hinnerk verwirrt, während der Kiebitz, der aufgeregt von seinem Nest aufgestanden war, ihm mit klatschenden Flügeln um den Kopf flog. »Wohin man hier kommt, läuft man Gefahr auf eine Kinderwiege zu treten. Es ist wirklich zum Nervöswerden!«
»Ach was!« schrie der Kiebitz. »Passen Sie gefälligst auf, wenn Sie hier im Felde spazierengehen wollen. Gestern habe ich erst einen Kampf mit einer Kuhmagd ausgefochten und heute früh mit einer Wasserratte. Nun kommen Sie noch und schützen Dummheit vor! Sie sind der Frechste von allen dreien.«
»Finden Sie?« fragte Hinnerk geschmeichelt. Ja, mit ihm war nicht gut Kirschen essen, am wenigsten heute morgen. Er machte aber doch einen Bogen um das Nest, das von Grasbüscheln umstanden auf der nackten Erde lag.
»Es sah wirklich aus, als hätten Sie keine andere Absicht, als mir das Gelege zu zertrampeln«, meinte der Kiebitz, ein wenig versöhnt.
»Durchaus nicht«, versuchte Hinnerk ihn vollends zu beruhigen. »Ich weiß, daß Sie sehr zerbrechliche Eier zu legen pflegen. Jedenfalls halten sie keinen Vergleich mit einem Hühnerei aus.«
»Was soll das heißen?« erboste sich der Kiebitz von neuem. »Gehen Sie jetzt weiter oder nicht?« Aufgeregt und tollkühn schoß er abermals an Hinnerks Kopf vorbei, kam – hui! – sofort im Bogen wieder herum und hackte abermals nach Hinnerks Augen.
»Benehmen Sie sich!« schrie Hinnerk ärgerlich. »Sie sehen doch, daß ich Ihre Eier völlig ungeschoren lasse! Eben vorhin habe ich einen ähnlichen Auftritt mit der Pfuhlschnepfe gehabt. Aber ich muß sagen, sie hat sich gebildeter im Umgang erwiesen als Sie! Sie wußte wenigstens abzuschätzen, wen sie vor sich hatte.«
Endlich war er weit genug vom Nest entfernt und der Kiebitz ließ sich ins Gras hinab, um auf einem Zickzackwege zu seinem Gelege zurückzukehren.
»Wissen Sie, wie ich auf dem nächsten Wege nach Worpswede komme?« rief Hinnerk aus der Entfernung.
»Ach, lassen Sie mich gefälligst in Ruhe«, antwortete der Kiebitz unwirsch. »Gehen Sie gefälligst Ihrem Schnabel nach. Für uns Kiebitze wird auch kein Wegweiser ins Feld gestellt.«
»Was sind das für Redensarten!« schrie Hinnerk. »Sie wollen doch nicht am Ende frech werden, wie? Haben Sie vielleicht Lust, meine Sporen kennenzulernen? Ich möchte doch sehen, wo Sie blieben, wenn Sie sich im Ernste mit mir messen wollten! Aber Sie sind kein Gegner für mich. Ein Großmaul sind Sie, und ein Frechdachs dazu, verstehen Sie mich?«
Nein wirklich, herumzufragen hatte keinen Zweck. Man holte sich nur freche Antworten und hatte am Ende nur noch den Spott dazu. Nein, selbst war der Mann, und keine Seele würde er wieder fragen. Basta. Fertig.
Er marschierte nun wieder dicht am Zuggraben entlang, aber seine Hoffnung, endlich an einen Steg zu kommen, der hinüberführte, war vergeblich. Ja, nach einer halben Stunde sah er zu seinem Schrecken, daß der Graben in einen Fluß mündete, der gemächlich und breit durch die unabsehbar weiten Wiesen zog. Hinüber zu fliegen wäre der sichere Tod für ihn gewesen. Ratlos und verzweifelt blieb er stehen.
Aber die Hilfe war näher, als er angenommen hatte. Mit braunem Segel kam langsam vor dem Wind ein Torfboot den Fluß herauf. Der Torfbauer, der in der Stadt seinen Torf verkauft hatte und nun mit leerem Boote wieder nach Hause fuhr, stand mit einer langen Ruderstange am Ende des schweren Bootes und steuerte es, um die Strömung besser zu überwinden, so ruhig und geschickt am Ufer hin, daß die Bordwand seines Schiffes die raschelnden Schilfstengel streifte, die dort aus dem braunen Wasser emporwuchsen.
War es Verzweiflung oder Schläue? Mit kühnem Schwung und ohne sich lange zu besinnen war Hinnerk auf das langsam vorbeitreibende Schiff und die niedrige Rahe geflattert, die das braune Segel trug.
Triumphierend klatschte er mit den Flügeln, als er den Platz erreichte, den er sich ausersehen hatte und rief ein freudiges »Kikeriki!« über Fluß und Wiesen hin.
Dem Torfschiffer fiel vor Verwunderung beinahe die Pfeife aus dem Mundwinkel. Das war ihm doch noch an keinem Tage passiert! Mehr als hundertmal war er mit seinem Schiff nach der Stadt und wieder zurück gefahren, aber ein Hahn war ihm nicht ein einziges Mal dabei zugeflogen, am wenigsten hier in den einsamen Wümmewiesen.
Lebhafter geworden, als sonst seine Art war, hielt er sogleich auf die Mitte des Flusses zu. Dort konnte der Hahn so leicht nicht wieder vom Schiff, und wenn es Abend wurde, konnte er langsam, Stück für Stück, das Segel herunterlassen, den Hahn bei den Beinen nehmen, in einen Sack stecken und als Sonntagsbraten mit nach Hause nehmen. Nur Geduld!
Ein schöner Kerl, wie er da oben saß und den Schwanz mit den langen bunten Federn vor der braunen Wand des Segels herabhängen ließ. Und so selbstverständlich und ruhig saß er da, als gehöre er nirgend anders hin, als gerade hierher, nur daß er mit klugen feurigen Augen ein wenig mißtrauisch auf den Bauern heruntersah, der keine Miene machte, ihn von seinem Sitze zu vertreiben oder sich ihm überhaupt zu nähern.
Das war ja eine ausgezeichnete Reisegelegenheit! Er brauchte weder Beine noch Flügel zu rühren und kam doch schneller weiter, als bei seinem Marsch durch die endlos weiten Wiesen.
Gut, daß das Segel in dem flauen Wind so ruhig unter ihm hing und ihm das Sitzen dort oben nicht ungemütlich machte. Nur das Knarren des Eisenringes, der die Rahe am Maste festhielt, erschreckte ihn zuweilen.
Wenn er nur nicht hungrig geworden wäre da oben. Unruhig erhob er sich zuletzt und begann auf der Rahe hin- und her zu rücken.
Der Bauer ahnte seinen Kummer.
Lockend brach er von den Schwarzbrotschnitten, die er in einem kleinen Korbe verwahrte, kleine Brocken ab und warf sie vor den Augen des hungrigen Hinnerk auf den Schiffsboden.
Mit schief gewendetem Kopfe blickte dieser mißtrauisch hin. Aber der Hunger überwand zuletzt alle seine Bedenken – und mit klatschenden Flügelschlägen flatterte er hinab.
Hoppla! Beinahe wäre er dabei über Bord gegangen. Aber es ging gut, und das Brot schmeckte vortrefflich, beinahe ebenso gut wie die Stücke, die es früher zuweilen bei Anntje Kiekut auf dem Hühnerhofe gegeben hatte.
Da flog ein besonders schöner Brocken zu ihm herüber, so groß und stattlich, daß er ihn unmöglich auf einmal bewältigen konnte.
Eifrig hatte er eben begonnen, ihn mit dem Schnabel zu bearbeiten, da wurde es plötzlich dunkel über ihm, und ehe er noch erschreckt zur Seite springen konnte, fiel etwas Weiches auf ihn herab und bedeckte ihn so völlig, daß er in der plötzlichen Dunkelheit vor seinen Augen nur wild mit den Flügeln um sich schlagen konnte.
Aber da hatten ihn auch schon die Fäuste des Bauern ergriffen. Lachend zog ihn dieser unter dem alten Sack hervor, den er über ihn geworfen hatte, steckte ihn in den Henkelkorb, den er vorher für ihn geleert hatte, setzte ihn durch die Luke in die kleine Kombüse und ließ im nächsten Augenblick den geteerten Lukendeckel wieder zufallen . . . Hinnerk war abermals ein Gefangener! Niedergeschlagen saß er im Dunkel unter dem weidengeflochtenen Deckel des engen Korbes, in den ihn der Torfbauer gesteckt hatte, und während das Wasser draußen an die Wände des Schiffes klatschte und bullerte, fuhr der gute Hinnerk in dem blinden Glück, das ihn zeit seines Lebens nicht verlassen hatte, ahnungslos und in dumpfem Hinbrüten wieder seiner Heimat entgegen, die er so lange vergeblich gesucht hatte.