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Es ist ein Morgen im Oktober. Die Luft ist warm wie an einem Sommertage, und leuchtend flammen die Pappeln in den Strahlen der Sonne.
Ich habe viele Tage hier draußen erlebt, und alle waren voller Wunder. Aber so wie dieser ist noch keiner gewesen, und ich meine, er ist das Wunder selber.
Das Wunder ist Dina.
Ich stehe am Fenster meiner kleinen Stube oben im Fährhause und sehe sie auf einem Stuhl unten am Wasser sitzen, als wäre sie niemals fortgewesen.
Dina, kleine Dina, – ist es denn möglich, daß Du gekommen bist und Du nun da unten sitzt so selbstverständlich, wie Du vor einem Jahre dort unten saßest?
Sie hat ihren Stuhl so gerückt, daß sie über den Fluß hinsehen kann, der in einem kühlen schillernden Blau zwischen den abgeernteten Wiesen liegt. Ihr schmaler Nacken ist gebeugt, der Kopf gesenkt.
Dina, meine Dina – hast Du Dich wirklich nun zu mir zurückgefunden? Alle Wunder Indiens konnten Dich nicht halten, und statt einer Antwort auf meinen Brief bist Du nun selbst gekommen . . .
Anka sitzt im Grase ihr zu Füßen. Sie hat den Kopf an die Knie der Freundin gelehnt und blickt wie sie über den Fluß hinaus in die sonnenflimmernde Weite. 279
Nein, ich höre ihre Worte nicht, aber ich weiß, was sie Dina zu sagen hat.
O, erschrick nicht, Dina, hörst Du? Es ist ein so leidenschaftlich stolzes Herz in Anka. Daran mußt Du denken, meine Dina. Sie ist so lange auf verworrenen Wegen gegangen, und wenn Du sie nicht in allem verstehen kannst, bekümmere Dein Herz nicht darum. Es sind viele Abgründe im Herzen eines Menschen, und niemand unter uns ist ohne Schuld. Wir irren alle, kleine Dina, und meinen immer, recht zu tun . . . Aber die Welt ist dunkel und tiefer, als wir ahnen. Unter Deinen Kinderaugen, kleine Dina, ward vieles still und licht in diesen Tagen, ich weiß es wohl und danke es Dir.
Was wollte dieses Jahr von mir hier draußen? Ich glaubte jeden Tag genutzt zu haben, und nun es zu Ende geht, stehe ich doch mit leeren Händen da. Und dennoch meine ich, ich bin gewachsen und nicht ganz derselbe mehr, als der ich damals kam und drüben in die alte Hütte zog. Ich meine wohl, ich wuchs – und kam, bei aller Dunkelheit in mir, ein wenig näher doch zum Licht.
»Hallo! da finde ich Sie endlich,« sagt jemand, der die Treppe heraufgekommen ist, ohne daß ich die Schritte hörte, und nun in mein Zimmer tritt. »Wollen Sie hier oben zum Einsiedler werden?«
Es ist Lintrup.
»Nein,« lächle ich. »Ich nehme an, daß es mit der Einsiedelei jetzt vorbei ist, so zu sagen.«
Wer ihn ansieht, merkt, daß er viel durchlitten haben muß in der letzten Zeit. Sein Gesicht ist schmal geworden, aber seine Züge scheinen fester und männlicher als früher.
»Es bleibt also dabei, und Anka ist einverstanden,« sagt er und atmet auf in der Befreiung, die uns jeder 280 Entschluß verleiht. »Ich bin auf dem Wege zur Post und will telegraphisch meine Zusage geben. Begleiten Sie mich ein wenig?«
»Wirklich?« sage ich und strecke ihm freudig die Hand hin. »Ich habe ja nicht begriffen, wie Sie zögern konnten, einem so ausgezeichneten Angebot gegenüber. Da reisen Sie wohl schon bald?«
»In den nächsten Tagen, ja. Die Firma in Oslo verspricht sich soviel von meiner Tätigkeit drüben und den Verbindungen, die ich hier in Deutschland habe. Die Trennung von Anka wird mir ja schwerer fallen, als ich mir vorhin in unserem Gespräch zu vieren merken lassen wollte. Aber ich werde zu arbeiten haben und nicht ganz viel zur Besinnung kommen. Dazu die veränderten Verhältnisse. Ich hoffe jedenfalls, die Zeit gut zu nützen. Was sind da zwei Jahre? Nur mein Norwegisch macht mir noch einige Sorge. Da werde ich noch gehörig nachzuholen haben. Immerhin, es reizt mich geradezu, Schwierigkeiten gegenüber zu stehen, endlich einmal ganz auf mich selber gestellt zu sein.«
»Und in zwei Jahren?«
»Hol ich Anka zu mir nach Oslo, und will's Gott, – mit ihrem Kinde!«
»Lintrup, das ist –«
»Nicht doch,« sagt er, und leiser: »Es ist kein Verdienst dabei. Ich habe zu tief empfunden, daß mich nichts von ihr trennen kann . . . daß ich ihr schicksalhaft verbunden bin. Sie wissen, daß mir mein Entschluß nicht leicht geworden ist. Es ging so gegen alle Anschauungen, in denen man erzogen ist . . . Heute kann ich lächeln, wenn ich daran denke, wie ich zuerst darunter litt. Vielleicht sogar, daß Anka diesen Weg gehen mußte, um ganz zu sich 281 selbst zu kommen . . . Schulna war ja immer nur ein Vorwand. In Wahrheit hat sie ja nur um Sie gelitten, Ohl.«
»Sie wissen?«
»Alles. O, sie hat es mir nicht leicht gemacht. Sie wollte, daß ich sie ganz so sah, wie sie in Wahrheit ist . . . Es war ein harter Tag für mich. Vielleicht der schwerste, den ich um sie durchkämpfte. Im ersten Augenblick, als ich den Brief erhielt – – nein, ich will nicht sagen, wie ich gelitten habe. Und doch ist mir durch dieses offene Geständnis klar geworden, daß Anka, als sie Schulna folgte, nur aus Liebe fehlte. Sie war nie schlecht, das dürfen Sie nicht glauben.«
»Nein, Lintrup, niemand weiß das so wie ich. Ein Irrgang nur, der nun zu einem tieferen Frieden führen wird, als er ihr sonst vielleicht so bald beschieden worden wäre. Vielleicht, daß er auch Sie in schmerzliche Verwirrung stürzte, um sie nun tiefer zu sich selbst zurückzuführen . . .«
Als wir aus dem Dorfe zurückkommen, sitzen Anka und Dina noch im Garten, wie wir sie vorhin verlassen haben, und sanft ruht Dinas Hand auf Ankas Scheitel.
Da kommt uns Klein-Elsbe entgegen. Sie ist mit ihrer Mutter in dem kleinen Blumengarten hinter dem Hause gewesen und hat dort eine ganze Schürze voll weißer Herbstastern gepflückt und strahlt vor Glück.
»Sie verblühen da im Garten nur,« sagte Frau Behrens lächelnd und tritt an uns vorbei ins Haus.
Klein-Elsbe aber läuft durch den Garten zu Anka und Dina hinüber. Doch als sie hinkommt, wird sie befangen und weiß nicht, was sie sagen soll. Anka kennt sie ja gut, doch Dina, die erst gestern ins Fährhaus kam, ist ihr noch fremd. 282
»Sieh da, das Kind, – wie heißt die Kleine doch?« fragt Dina leise.
»Komm nur her, Elsbe!« ruft Anka, »Du fürchtest Dich doch nicht? Wer soll denn all die schönen Blumen haben?«
»Du!« ruft da Klein-Elsbe strahlend und läßt die Zipfel ihrer Schürze los, – und schimmernd stürzt die ganze Last in Ankas Schoß.