Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, stand ich auf, ging leise auf Zehenspitzen die Treppe hinab und trat ins Freie. 218

Ein kühler Wind schauerte über den Fluß und schüttelte die letzten Regentropfen von den Bäumen. Im Osten ging in wahrhaft überirdischer Pracht die Sonne auf.

Ich machte mein Boot los und begann flußaufwärts zu rudern, egal wohin, nur fort.

Ah, wie wohl mir die Luft tat . . .

Die Brandstelle lag noch immer, wie ich sie verlassen hatte. In der feuchten, reinen Kühle des Morgens drang der Geruch von Brand und Asche zu mir bis auf den Fluß hinaus.

Ich hatte kräftig zu rudern, um in der starken Strömung des Wassers voranzukommen. Aber es gab nichts, das mir willkommener gewesen wäre.

Nein, es war unmöglich, Anka heute zu begegnen!

Wittemoor gegenüber band ich das Boot an einem Weidenbusch fest und ging ins Dorf hinüber . . .

Erst spät am Abend kehrte ich ins Fährhaus zurück und hörte von Behrens, daß Schulna unerwartet bereits am Mittag wieder abgereist sei. »Übrigens ist auch der Gendarm hier gewesen,« setzte er hinzu »und hat eine Zeugenvorladung für Sie gebracht. Ich habe sie Ihnen aufs Zimmer gelegt. Natürlich handelt es sich um Jan Meiners!« –

Oben im Hause war bereits alles still. Auf meinem Tische fand ich ein paar Zeilen von Schulna. Er sei doch zu der Einsicht gekommen, daß ihm weder die Menschen noch die Landschaft hier draußen heute noch viel sagen könnten und er hier draußen darum keine rechten Aufgaben und Ziele mehr für sich sähe. Auch ich solle nur so bald wie möglich meinen Fuß weiter setzen.

Hahaha!

Zum Teufel, warum war er überhaupt wieder hierher zurückgekehrt? Hatte er Anka nicht schon verlassen, als er nach Paris fuhr? Aber nun hatte Anka ihn 219 verlassen – und weder die Menschen noch die Landschaft hier draußen hatten ihm noch viel zu sagen . . . Hahaha!

O ja, es war lustig – so lustig, daß einem die Zähne knirschten!

Am nächsten Morgen hielt mich Frau Behrens auf dem Flure an.

»Sie brauchen sich ja nicht merken zu lassen, daß ich es Ihnen schon verraten habe,« flüsterte sie mir zu. »Es tut uns so leid, daß Sie bei dem Brande alles verloren haben, und da sind wir auf die Idee gekommen, mein Mann und ich, Ihnen die Hütte wieder aufzubauen. Mein Mann ist gestern schon bei dem alten Beerbohm gewesen, um ihm die Warf abzukaufen. Er will es sich mit seinen Kindern überlegen. Wenn alles so geht, wie wir denken, können Sie vielleicht schon im nächsten Frühjahr wieder drüben einziehen und wohnen dann besser als früher.«

»Nein,« sage ich und weiß selber nicht, warum mich die Mitteilung mehr erschreckt als erfreut. »Ich will das nicht, hören Sie? Ihr Mann soll sein Geld sparen. Ich bleibe doch nur noch einige Wochen hier draußen.«

»Sie wollen uns verlassen?« fragt sie, und ich sehe, wie bestürzt sie ist. »Nein, das dürfen Sie uns nicht antun. Wohin wollen Sie denn?«

Ich zuckte die Achseln.

»Ich weiß noch nicht. Aber das ist ja auch ganz gleich, nicht wahr? Für mich soll die Hütte jedenfalls nicht wieder aufgebaut werden. Es wäre ein gar zu schlechtes Geschäft für Ihren Mann.«

Sie hört kaum mehr, was ich sage, will etwas entgegnen, wendet sich aber dann kurz um und geht in die Küche. Wie sie die Tür hinter sich ins Schloß zieht, sehe ich, daß sie Tränen im Auge hat. 220

»Aber Frau Behrens,« sage ich und gehe ihr nach, »ich habe Sie doch damit nicht kränken wollen. Ich habe hier bei Ihnen und drüben in der alten Hütte wirklich gern gewohnt, aber ich kann mich für die Zukunft nicht binden, sehen Sie, und wenn Ihr Mann die Hütte wieder für mich aufbaute –«

»Nein, ich sage nichts mehr dazu,« entgegnete sie. »Natürlich müssen Sie wissen, ob Sie bei uns bleiben wollen oder nicht. Wir haben Sie ja nicht angebunden, und Sie können gehen und stehen, wie Sie Lust haben.«

Stieß sie die Worte nur darum so trotzig und gereizt heraus, um nicht in Tränen auszubrechen? Ich wußte es nicht, wollte mir auch keine Gedanken weiter darum machen. Zum Teufel, ich war doch nicht mit dem Fährhaus verheiratet!

Ja, es war mehr Ärger als Überlegung in mir, und erst hinterher dachte ich daran, daß ich Anka in den kommenden Wochen ja im Auge behalten wollte . . . Aber die Absicht der Fährleute, mir die Hütte wieder aufzubauen, verdroß mich. Es war eine Bindung, die ich darin empfand.

Am folgenden Sonntag war es regnerisch und unfreundlich. Ich hatte gehofft, daß darum weniger Gäste als sonst ins Fährhaus kommen würden und war gegen meine Gewohnheit zu Hause geblieben. Aber am Mittag klärte sich der Himmel auf, und es dauerte kaum eine Stunde, da hatte ich die Bescherung, und im Garten sah es aus wie bei einem Schützenfest. Zu den Ruder- und Segelbooten war ein Motorboot gekommen und hatte eine ganze Schar von Kaffeegästen mitgebracht, die alle Gänge und Winkel des Hauses, der Diele und Veranda mit Geschwätz und Lachen erfüllten.

Gerade wollte ich daran und in meinem Boote 221 flußaufwärts in die Einsamkeit der Wiesen fahren, als ich auf der Treppe von der Veranda zum Garten hinunter Helga begegnete.

Helga. Ich habe ihren Namen hier noch nicht genannt. Aber nun geht es nicht gut anders . . . Sie war die Mutter meines Kindes . . .

»Mein Gott, – Du bist es?« sagte sie.

»Helga . . .« stammelte ich.

»Ja,« lächelte sie, »es ist lange her, daß wir uns gesehen haben. Du wohnst hier draußen? Ich hörte davon . . . Wie braun Du geworden bist. Nein, laß Dich doch ansehen . . . Aber erschrick nicht, es ist wirklich nur Zufall, daß wir uns begegnen. Ich bin mit Bekannten im Boote gekommen. Man bestand darauf, hierher zu fahren. Ich konnte es nicht verhindern. Wenn Du nicht willst, brauchen wir uns keinen Augenblick länger zu unterhalten. Ich –«

»Helga!«

»Es ist wahr,« sagte sie. »Wir sind nicht im Zorn auseinander gegangen. Aber vielleicht ist es Dir doch unbequem – – Nein? Nun, dann laß uns ein paar Schritte zum Wasser hinuntergehen. Man hat ja nun doch einmal gesehen, daß wir einander begegnet sind. Übrigens würde ich nie ein Hehl daraus machen, daß wir einmal einander angehört haben. Nein, habe keine Sorge, daß ich alte Dinge wieder aufrühren will . . .«

»Es geht Dir gut?«

»Ja, danke, durchaus. Es wäre unrecht zu klagen. Und Du? Arbeitest Du? Ich hörte, daß Du sehr fleißig seist hier draußen. Ja, ich erkundigte mich. Du hast doch einen Freund hier wohnen, nicht wahr? Heißt er nicht Schulna? Er hat mir viel von Dir erzählt. Ein liebenswürdiger Mensch. Ich lernte ihn vor ein paar Tagen kennen. Er 222 wird demnächst nach Italien gehen, wie er mir erzählte. Er sprach viel von Dir.«

»So.«

»Du magst ihn nicht? Ich finde ihn wundervoll. Eine solche Überlegenheit ist in ihm.«

»So.«

»Nein, wir brauchen nicht länger von ihm zu reden, wenn es Dir nicht recht ist. Ich habe viel Schweres durchgemacht, damals, als wir auseinander gegangen waren, und als dann das Kind starb. Es kam so unerwartet. Nur drei Tage, in denen Anneliese krank war. Ich habe jeden Tag erwartet, Du würdest kommen. Aber es fiel Dir wohl zu schwer, nun erst so kurze Zeit dazwischen lag, daß wir uns getrennt hatten? Aber nun freue ich mich, Dich so gesund zu sehen.«

»Du bist verheiratet jetzt?«

»Nein, wie kommst Du nur darauf?« lächelte sie. »Es ist wahr, ich habe zuweilen daran gedacht. Aber es gehören zwei dazu, zum Heiraten, meine ich. Aber gewiß, es ist möglich, daß ich – Nein, darüber kann man nicht reden,« brach sie ab und lächelte von neuem. »Aber nun muß ich wohl an unseren Tisch zurückkehren. Du glaubst nicht, wie lustig wir im Boote waren. Wir haben drei Leute unter uns, die musikalisch sind. Sie wollen nach dem Kaffee drinnen zum Tanz aufspielen. Zwei Guitarren und Geige. Es klingt so lustig. Man kann doch tanzen hier? Ich war noch nie hier draußen. Drinnen auf der Diele, nicht wahr?«

Noch einmal nickte sie mir zu und ging.

Und wegen dieser Frau hatte ich Monate hindurch mit mir selber gerungen und tiefer gelitten wie je um einen Menschen!

Ich warf mein Boot los und begann davonzurudern, 223 aber kaum, daß ich die Pappeln hinter mir gelassen hatte, klangen bereits die Töne der Geige und der Guitarren zu mir herüber.

Ja, nun konnte sie tanzen. Das Kind war ja tot, das Vergangene vergessen, und die Gesellschaft so lustig und ausgelassen! Schade, daß Schulna nicht mit ihr herausgekommen war! Wie war das doch, fand sie ihn nicht wundervoll? Aber statt seiner waren ja andere da. Der junge Mann dort in dem hellgrauen Anzug und der wehenden Halsbinde und der andere neben ihr am Tische, der sich jetzt mit so nachlässiger Hand eine Zigarette anzündete.

Mein Herz ging langsam, und seine Schläge waren hart und fest. Nie in meinem Leben hatte ich mich so frei gefühlt, so herausgehoben und in ein neues Licht gestellt. Hatte ich nicht geglaubt, eine Schuld um diese Frau zu tragen? Und nun war ich ihr wieder begegnet und kannte sie nicht mehr. Hieß sie nicht Helga, wie? und war nicht mal eine Zeit gewesen, in der ich gemeint hatte, ich müßte ein Leben lang Leid um sie tragen?

Hahaha!

Ja, ich lachte! Hatte nicht eine Schuld auf mir gelegen, eine Schuld wie ein Berg, und war nun klein geworden, so klein wie ein Marmel, und es brauchte nur noch einen kleinen Herzstoß, und sie rollte von mir ab und fiel in den Fluß wie ein Steinchen, mit dem ein Kind gespielt?

Und mit dieser Frau hatte ich das Lager geteilt, und sie hatte mir ein Kind geboren! ein Kind von Gott erschaffen, lächelnd und voll süßer Wärme.

Nein, ich war nicht ohne Schuld, was bildete ich mir ein! Aber meine Schuld sah anders aus, als ich gemeint hatte . . . ganz, ganz anders!

Schrumm, schrumm! machten die Guitarren, und der 224 Klang der Geige scholl auf den Fluß hinaus, und Helga schritt nun wohl am Arm ihres Tänzers ins Haus, ganz dem Augenblicke hingegeben und so selig und unbekümmert wie an dem Tage, als sie mir zuerst begegnete.

Gab es etwas, das so wunderlich war wie diese Welt?

Vorbei, vorbei . . . Die Wolken über mir zogen der Sonne nach, und einmal kam die Zeit, daß alles so im Licht ertrank, jede Schuld und alles Dunkle . . .

Weit oben am Flusse, nach Wittemoor zu, auf Suters Wiese, wußte ich einen Weidenbaum am Flusse. Darunter streckte ich mich aus und blieb so liegen, wie ich lag, die Arme unterm Kopf verschränkt, den Himmel über mir.

Nein, sie hatte nun keinen Namen mehr in mir . . . Als wäre er von unsichtbarer Hand in mir gelöscht. Und mit ihm alles, was in ihm lebendig war. Nur die Erinnerung an das Kind stieg heiß von neuem in mir auf.

O, ich Heuchler! Hatte ich Behrens gegenüber nicht darauf bestanden, daß er das seine zu sich nahm, und hatte vor mir selber noch groß damit getan? Aber das eigene hatte ich verlassen!

Datta, Datta . . . die kleine, süße Stimme, schmeichlerisch, voll Wohllaut bald und bald voll Eigensinn.

Das Haar war blond wie Elsbes Haar, vielleicht um einen Schatten dunkler, die Augen blau, ein Gotteswunder, wie Lütt Tienkens Augen . . .

Der Abend kam. Im Westen stand die Venus, schimmernd hell, voll Glanz und heiterer Ruhe, und langsam folgte Stern auf Stern. Ich kannte viele, hatte sie von meiner Hütte aus in langen Nächten oft betrachtet.

So lag einst Jakob unterm Zelt des Himmels und sah dieselben Sterne über seinem Haupte stehen, wie ich hier draußen heut im Moor. 225

Wie klein doch alles war im Angesichte der Unendlichkeit.

Helga – verweht, vergessen, kaum daß es mich noch berührte, an sie zu denken. Es gab nichts, das so fern gerückt im Ungewissen nun verblich . . .

Als ich nach Haus fuhr, war es längst nach Mitternacht. Mich fröstelte. Die Ruder waren feucht vom Tau. Ein zarter Nebel deckte Fluß und Wiesen zu.

Beim Fährhaus war schon alles dunkel, die Boote fort, der Garten wieder still und einsam, vom kühlen Nachtwind leis durchschauert. Nur in Ankas Zimmer war noch Licht, und seine Fenster sahen wie ein paar Augen angstvoll aufgerissen in die dunkle Nacht.

 


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