Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Nach der Beerdigung erwartete mich der Pastor am Ausgang des Friedhofes und bat mich in sein Haus.

»Meine Hündin hat von neuem geworfen und diesmal habe ich eine ausgezeichnete Nachzucht bekommen,« sagte er, und bot mir eins der jungen Tiere als Ersatz für Gram an.

Aber ich lehnte ab und erklärte ihm, daß ich nicht mehr lange hier draußen bleiben wolle.

»Sie gehen fort?« fragte er überrascht. »Wie schade! Darf man auch fragen, wohin? Ich habe damals Ihr Mißgeschick so sehr bedauert. Gut, daß man den Brandstifter jetzt hinter Schloß und Riegel hat. Das muß ja ein ganz gefährlicher Bursche sein . . . Übrigens dieses Fräulein Anka da drüben im Fährhause – wer ist diese Dame? Kennen Sie sie genauer? Anka Torring? Ich kann mich doch nicht erinnern, dem Namen schon einmal begegnet zu sein. Ein interessanter Mensch ohne Zweifel? Sie scheint ein wenig leidend zu sein? . . . Ja, Behrens hat entschieden Glück mit der Art, wie er das Fährhaus jetzt emporbringt. Die Tanzdiele im Garten will mir freilich weniger gefallen, aber es scheint ja, als wenn es heute nirgend mehr ohne solche Dinge ginge. Wenn ich daran denke, wie das Haus noch vor wenigen Jahren in seiner Einsamkeit da drüben am Flusse lag! Nirgends konnte es stiller sein als dort . . . Also der alte Spindler hat sich tatsächlich einen Betrag von annähernd zweihundert Mark erspart und das Geld für die kleine Elsbe bestimmt? Was man doch mitunter für Überraschungen mit solchen Leuten erlebt! Die Kosten der Beerdigung müssen allerdings von der Summe abgesetzt werden. Es ist nicht gut zu verlangen, 260 daß wir in einem solchen Falle die Gemeinde damit belasten, nicht wahr? Nun, das wird sich ja alles in den nächsten Tagen ordnen. Ich habe dem Gemeindevorsteher bereits Mitteilung gemacht. Übrigens, Sie wollen doch nicht etwa wieder in die Stadt ziehen? Wenn Sie Wert darauf legen, stelle ich Ihnen gern meine Giebelstube oben zur Verfügung. Wir sprachen ja im vorigen Winter bereits einmal darüber. Es würde mir eine aufrichtige Freude sein, wenn Sie hier in der Ruhe meines Hauses Ihr Werk wieder in Angriff nähmen. Die Tafeln, die ich seiner Zeit in der Hütte drüben bei Ihnen sah, haben mich stärker gefesselt, als ich Ihnen vielleicht verraten habe und mich noch lange beschäftigt . . .«

Das Gespräch hatte alles wieder in mir aufgerührt, was durch den Tod des alten Spindler für ein paar Tage in den Hintergrund getreten war, und als ich heimging, trat das Unklare und Quälende meiner Lage mir von neuem nahe. Das Bedrückendste war meine Sorge um Anka. Hatte sie sich nun endgültig von Lintrup gelöst und war sich nun selber zurückgegeben? Denn um Lintrup, meinte ich, brauchte sich niemand mehr Gedanken zu machen. Er wußte ja jetzt, wie es um Anka stand, und war nicht alles schon für ihn entschieden, als er am Sonntagabend ohne ein Wort des Abschieds das Fährhaus verlassen hatte? Was für ein Narr ich gewesen war, mir um ihn Gedanken zu machen! Mochte doch auch Anka gefälligst allein ausessen, was sie sich eingebrockt hatte. War es nicht lächerlich? Ein Mensch wie sie – und ich sollte mich für verpflichtet halten, die Hände über sie zu halten, weil sie ihre Liebe zu mir nicht hatte überwinden können und sich in sich selber verstrickt hatte und darüber zu Fall gekommen war? Teufel nochmal. 261

Ja, ich hatte es mit dem Fluchen an diesem Tage und war störrischer als ein alter Gaul.

Aber das lag nur daran, daß ich mich auf die faule Haut gelegt hatte! Ja, das war es! Zum Teufel mit mir selber! Wenn ich so weiter machte wie in den letzten Wochen, würde es nicht lange mehr dauern, daß ich Fett ansetzte und braun wurde wie eine Frikandelle. Und hatte dabei noch groß getan vor mir selber! Da sah ich nun, was ich wert war! Hatte ich mir nicht eine Rechnung gemacht? Ritsch, ratsch, – da lag sie zerrissen am Boden. So. Fertig.

Jawohl, in Worten war ich immer groß gewesen, aber das einzige, was ich seit dem Brande getan hatte, war gewesen, daß ich in die Stadt gefahren war und mir neues Material für meine Arbeit gekauft hatte!

Hahaha! da lag es in meinem Zimmer, Papier, Stifte und Farben. Sogar einen Satz neuer Schnitzmesser und Stichel hatte ich erstanden und ein paar neue Holzplatten. Aber hatte ich vielleicht gearbeitet? Nein, zum Satan, ich tat nichts, gar nichts! Ich lief herum und paßte auf ein Frauenzimmer auf, das war alles, hahaha!

Ein Buch in Holzschnitten hatte es werden sollen, jawohl, eine Erzählung in Bildern so zu sagen, ein Mythos von der Erschaffung des Menschen! Hahaha, da waren sie wieder, die großen Worte! Einen Herbst und einen langen, einsamen Winter hatte ich auf die Arbeit verwendet, den Sommer in diesem Jahre nicht gerechnet, – und dann kam jemand, dem gerade nichts besseres einfiel, zündete meine Hütte an und ließ alles, was brennen wollte, in Flammen aufgehen.

Da hatte ich meine Rechnung. Es brannte gut, das mußte man sagen.

War nicht eine Flamme in mir gewesen, und hatte ich 262 nicht wunders gemeint, wie hell sie war, wie heiß und leuchtend? Aber das kleine Zündholz in Jan Meiners Hand war stärker gewesen als sie, hahaha!

Aber mir war recht geschehen! Hatte die Welt vielleicht darauf gewartet, daß ich ihr ein Licht aufsteckte, wie? Dafür hatten die Wiesen eine Stunde lang in einem schönen Feuerschein gestanden! Da hatte ich die Quittung für meinen Hochmut und meine Eitelkeit!

Als ich zum Fährhaus zurückkam, sah ich Anka auf der Veranda sitzen. Ich wollte zu ihr gehen, bog aber auf halbem Wege ab und schritt durch den Garten zum Fluß hinunter, warf mein Boot los und fuhr in die Wiesen hinaus.

Ich hätte in diesem Augenblick nicht mit ihr reden können und hatte mir selber noch ein größeres Kapitel vorzulesen.

Erst der Regen, der gegen Abend einsetzte, trieb mich zum Fährhaus zurück.

Anka saß noch an ihrem Platze und stickte.

Als ich zur Veranda hinaufging, kam mir Klein-Elsbe entgegengelaufen und hielt mir strahlend vor Glück die große Seemuschel entgegen, die ihr Vater sonst auf dem Glaskasten mit dem ausgestopften Kranich in der Gaststube verwahrte. Ich sollte hören, wie es in der Muschel rauschte, und sie ruhte nicht, bis ich sie ans Ohr hob.

»Es ist das Meer, Elsbe,« sagte ich.

»Nein,« widersprach sie, »Mutter sagt, es kocht darin. Hör' doch . . .«

Als sie ins Haus getrippelt ist, trete ich zu Anka und will ihr sagen, daß ich es nicht mehr ertrage hier draußen und weg will. Wie ich sie aber so bleich und leidend dasitzen sehe, wollen die Worte nicht recht aus mir heraus, 263 und ich muß an Lintrup denken und verstehe plötzlich merkwürdig gut, daß er sie liebt. Ich habe wohl nie gesehen, wie schön sie ist.

Aber ihr Gesicht ist schmal geworden, und ihr Blick scheint müde und verschleiert. Die Lippen sind blaß und die Mundwinkel wie bei einer Leidenden ein wenig herabgezogen.

Daß Lintrup nicht selber erkannte, wie es mit ihr steht, muß ich denken.

Da beginnt sie plötzlich selber von ihm zu reden.

»Nein,« sagt sie und schlingt ihre Hände ineinander, »ich begreife ja heute selber nicht mehr, wie ich dazu kam, ihm neulich so ohne jede Rücksicht zu sagen, was uns trennt, nun ich an keinem Tage vorher den Mut dazu fand . . . Es war immer so unsäglich schwer, und er war so fröhlich und so voll Vertrauen. Neulich, als ich mit ihm noch spät am Abend in die Wiesen gegangen war und wir uns im Dunkel verirrten, hatte ich es mir vorgenommen und dachte bei jedem Worte daran, aber ich brachte es nicht über mich. Dafür mußte ich nun in einer einzigen, unbedachten Minute ihm sagen, was er nie hätte erfahren dürfen. Ah, ich glaube, ich hätte ihm ebenso gut ein Messer ins Herz stoßen können, so grausam, wie ich ihn mit meinen Worten überfiel . . . O, sagen Sie nichts, Ohl! Sehen Sie nicht, wie ich mich um ihn sorge? Nein, es war mir unmöglich, hinterher noch einmal zu ihm zu gehen oder ihn zu einer Aussprache auf mein Zimmer zu bitten. Sollte er annehmen, ich bettelte um seine Verzeihung? Denn ich meine, es ist hier nichts, das zu verzeihen wäre. Ich war frei und habe mich verschenkt, wie es mir gefiel. Daß er hinterher mein Herz gewonnen hat, kann man das eine Schuld nennen, Ohl?« 264

Es war gut, daß Klein-Elsbe wieder gelaufen kam und mir von neuem ihre Muschel entgegenhielt.

»Erzähl mir von der Muschel,« sagt sie.

»Geh' jetzt, und spiele ein wenig,« rede ich ihr zu und will sie wieder ins Haus schicken, da hebt Anka sie auf ihren Schoß und streicht ihr mit der Hand über das weizenblonde Haar.

»Elsbe! Was für ein schöner Name das ist,« sagt sie leise und preßt das Kind an sich.

Fräulein Berg kommt mit einem Buch, wendet sich aber, als sie mich gewahrt, blickt ein paar Sekunden in den Regen hinaus und setzt sich dann drüben in die andere Ecke der Veranda.

»Elsbe!« ruft Frau Behrens in der Küche, daß es zu uns herausschallt. »Elsbe!«

Aber sie muß erst kommen und das Kind holen, das durchaus keine Lust hat, sich schon ins Bett bringen zu lassen.

»Anka,« sage ich leise, damit Fräulein Berg uns nicht hört, »Sie sollten sich nicht so erregen. Ich weiß, daß Sie es tun! Geschehen ist geschehen, und am Ende ist es gut, daß Sie am Sonntag den Mut gefunden haben, Klarheit zwischen Ihnen und Lintrup zu schaffen.«

Ach, triefe ich nicht von Wohlwollen und billiger Güte? Pfui doch! Aber das Schweigen zwischen uns ist noch schlimmer und nicht zu ertragen.

»Nein, nein,« seufzt sie und schüttelt den Kopf. »Ich weiß, ich war gereizt und vielleicht auch ein wenig leidend. Soll ich mich damit entschuldigen? Und nun vergeht ein Tag nach dem anderen, und ich höre nichts von ihm. Ach, es war ja Wahnsinn und Verbrechen, alles, vom ersten Tage an.« 265

Aber jetzt klappt Fräulein Berg ihr Buch zu und steht auf.

»Ob es noch lange regnet?« fragt sie. »Ich hasse dieses Wetter so. Nein, es wird wirklich allmählich ungemütlich hier draußen. Wir sollten in die Stadt zurückkehren, Anka.«

Fröstelnd zieht sie ihre spitzen Schultern tiefer in die weiße Wolljacke, die sie übergezogen hat.

»Du solltest nicht länger hier unten in der feuchten Luft sitzen, Anka,« mahnt sie. »Du wirst Dir eine Erkältung holen. Es zieht hier abscheulich. Ich hole Dir Deinen Mantel, ja?«

Sie wartet Ankas Zustimmung nicht ab und geht mit hochgezogenen Schultern ins Haus.

»Glauben Sie nur,« fährt Anka fort, »Lintrup wird es nie verwinden! Es war eine Zeit, in der ich es glaubte, und ich war stolz auf ihn, wenn ich daran dachte, er würde stärker sein als Ihr alle. Nun weiß ich, daß es eine Torheit war, und daß es wohltätiger für ihn gewesen wäre, er hätte es niemals erfahren.«

Fräulein Berg kam mit dem Mantel. Es war ihr eigener. Sie hatte Ankas Mantel, wie sie sagte, nicht finden können. Sie wollte uns wohl nicht länger allein lassen, die Gute.

»So, bitte, zieh ihn an, ja?«

Sie half Anka in die Ärmel und schloß ihr sorgfältig den Kragen am Halse.

»Du siehst so blaß aus, Liebe? Du hast doch nicht etwa geweint, wie?«

»Ach, ich bitte Dich!« sagte Anka und zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, mir ist ganz wohl, wirklich.«

Aber Fräulein Berg ruhte nicht, bis sie ihr auch noch den letzten Knopf am Mantel geschlossen hatte.

Anka dankte ihr und lächelte, aber sie hatte doch so 266 ihre Weise, die Freundin mit einem Blick fühlen zu lassen, daß ihr ihre Gegenwart in diesem Augenblicke unbequem sei. Verlegen blickte Fräulein Berg ein paar Augenblicke in den Regen hinaus.

»Ich nehme Deine Arbeit schon mit nach oben, nicht wahr?« sagte sie ein wenig verwirrt. »Es ist wirklich Zeit, daß Du heute damit aufhörst. Sitz nicht mehr so lange hier unten,« bat sie. »Du bist so leicht erkältet, Liebe.«

Damit ging sie.

»Wenn ich nur wüßte, daß er über die Enttäuschung, die ich ihm bereitete, hinwegkäme, wäre alles gut. Um mich braucht sich jedenfalls niemand zu sorgen. Ich habe mein Schicksal ja so gewollt. Aber die Sorge um Lintrup, Ohl! Ich zersehne mich nach einer Nachricht von ihm.«

Hatte ich mich nicht vorhin noch verschworen, daß sie allein ausessen müsse, was sie sich eingebrockt hatte? Da saß ich nun mit meiner Weisheit, die keine Träne zu trocknen vermochte und konnte im stillen vor mir groß tun, soviel ich wollte.

»Natürlich kann er nach meinen Worten am vorigen Sonntag nicht ahnen, wie sehr ich mich um ihn sorge. Wenn er im Schmerz dieser Tage die Besinnung verlöre, Ohl, und –«

»Daran dürfen Sie nicht denken, Anka. Sie hatten die Pflicht, ganz wahr gegen ihn zu sein.«

Ah, ich war niemals wütender auf mich selbst! Konnte es etwas Billigeres geben, wie? Teufel nochmal, ein wenig mehr Mitgefühl und eine hilfreiche Hand wären besser gewesen. Ich hätte mich ohrfeigen können mit meinen hätte, könnte, dürfte . . .

»Ach, können wir Menschen wirklich ganz wahr gegeneinander sein, Ohl? Nein, ich war grausamer als je in 267 meinem Leben und das gegen den einzigen Menschen, der mich wirklich geliebt hat! Wie furchtbar das zu denken ist!«

Sie hatte sich erhoben, ging ins Haus und stieg langsam zu ihrem Zimmer hinauf.

Ja, gab es denn keinen Weg, die Unruhe um Lintrup von ihr zu nehmen? Konnte ich nicht in die Stadt fahren und ihn aufsuchen? Warum tat ich es nicht längst? Konnte es etwas geben, was so nahe lag?

Wenn ich mich schnell entschloß, hatte ich noch Zeit genug, den Abendzug zu benutzen. Am Ende war es auch möglich, wenn ich Ankas Boot nahm, das bedeutend leichter war als das meine, noch zu Schiff hinunterzufahren. Ich würde den Wind mithaben, und die Strömung würde ein übriges tun. Ich sehnte mich ordentlich, mich auszuarbeiten und nach der lähmenden Ruhe der letzten Tage einmal wieder die Glieder zu rühren. Wenn ich mich daranhielt, mußte ich die Stadt früh genug erreichen, um Lintrup noch am Abend aufsuchen zu können. Das Wetter war freilich alles andere als angenehm, es regnete noch immer, aber ich konnte mir von Behrens seinen Ölrock entleihen, wenn mir auch jedesmal verteufelt warm darin wurde.

Eben hatte ich mich entschieden und war zum Wasser hinuntergegangen, um nach dem Boote zu sehen, als der Justizrat im Garten auftauchte.

»Hallo!« rief er und schwenkte die Mütze. »Wohin wollen Sie denn? Sie haben mir doch am Sonntag versprochen, morgen mit mir auf die Entenjagd zu gehen. Ob Behrens die Poolenten besorgt hat? Auch Lintrup ist mitgekommen. Ich traf ihn zufällig im Zuge. Natürlich habe ich ihn zu überreden versucht, daß er mitmacht.« 268

»Lintrup?« fragte ich erstaunt. »Wo ist er denn?«

»Ins Haus gegangen. Begrüßt wohl seine Braut. Er hält ja seine Verliebtheiten immer für das Wichtigste vom Tage! – Sieh da, Behrens, guten Abend! Also wie steht es? Sie haben doch die Poolenten nicht vergessen, was? Natürlich nehmen wir Ihr Boot, Ohl? In den Schaukelkahn da von Fräulein Anka gehe ich nicht hinein. Eine Flinte für Ohl haben Sie doch zur Verfügung, Behrens? Gut, ein wenig Mundvorrat packen Sie uns auch wohl ein. Haben Sie einen guten Kognak? Das Regenwetter? Pah, morgen früh haben wir den klarsten Himmel, darauf können Sie sich verlassen. Es regnet sich über Nacht aus, was ich Ihnen sage.«

Als wir ins Haus getreten waren, schickte er Christine hinauf und ließ die Damen und Lintrup zum Abendbrot einladen. O, es sollte gemütlich werden heute abend! Der Rotwein wurde warm gestellt und die Tafel zur Feier des Tages in Behrens Wohnstube gedeckt. Auf der Veranda wurde es für die Damen sicher schon zu kühl sein, meinte der Justizrat und rieb sich vergnügt die Hände.

»Ich habe einen wahren Wolfshunger mitgebracht,« sagte er, »und habe nicht alle Tage das Vergnügen, auf die Entenjagd gehen zu können. Sagen Sie Ihrer Frau, Behrens, daß Sie das Fleisch gut durchbraten läßt, hören Sie?«

Da kam Christine wieder die Treppe herunter. Die Damen dankten vielmals, aber Fräulein Anka fühle sich nicht gut, und sie möchten darum lieber nicht mehr herunterkommen.

»Ach,« sagte der Justizrat ein wenig verstimmt. »Na, dann müssen wir eben auf die Damen verzichten.« Ob denn Herr Lintrup wenigstens bald komme? 269

Nein, Herr Lintrup sei bereits wieder zum Bahnhof gegangen. Er wolle den letzten Zug in die Stadt noch haben.

Verwundert blickte mich der Justizrat an.

»Was soll denn das heißen?« fragte er. »Verstehen Sie das, Ohl? Vorhin im Zuge sprach er davon, daß er vorhabe, bis morgen hier zu bleiben? Na, meinetwegen. Da soll er in Gnaden wieder in die Stadt fahren, wenn ihm das soviel Spaß macht! Wirklich, der Kerl wird jeden Tag verrückter! Schon im Zuge war kein vernünftiges Wort aus ihm herauszubringen. Und am vorigen Sonntag erst! Kaum drei Sätze hat er auf der Rückfahrt mehr gesprochen. Als hätte man ihm die Zunge abgeschnitten, sage ich Ihnen! Und vorher war er doch die Lustigkeit selber. Na, gut. Dann müssen wir also schon beide allein ins Gefecht, Ohl! Appetit haben Sie doch? Auch nicht recht? Na, hol Euch der Henker alle miteinander!«

Er war nicht wenig verärgert, und unsere Unterhaltung beim Essen verlief stiller, als er es sich gedacht haben mochte. Ich war froh, als er endlich aufstand und ich in mein Zimmer gehen konnte. Wir verabredeten uns auf vier Uhr früh, aber er gab nicht eher Ruhe, bis er mit mir noch in die Scheune hinübergegangen war und die Poolenten besichtigt hatte, die Behrens besorgt hatte.

»Gut, daß sie so hell und bunt in der Farbe sind,« lachte er, »sonst schießen wir am Ende die Poolenten statt der wilden. Na, gute Nacht denn, mein Lieber. Verschlafen Sie es morgen früh nicht, hören Sie?«

In meinem Zimmer war vergessen worden, das Fenster zu öffnen, und mich empfing eine schwere und drückende Lust. Leise sperrte ich es auf und blickte in die Nacht hinaus.

Draußen war es kühl und still. Aber es regnete immer 270 noch, und in den Kronen der Pappeln lag ein gleichmäßiges, sanftes Rauschen. Es mußte Mondschein sein, aber die Dunkelheit war so tief, daß ich kaum ein paar Meter weit zu sehen vermochte.

Ich rieb ein Streichholz an und blickte auf meine Uhr. Es ging bereits auf Mitternacht. Da hatte es eigentlich kaum mehr Zweck, sich zu entkleiden, und da ich zudem keine Müdigkeit spürte, legte ich mich in den Kleidern aufs Bett.

Auch Anka schlief noch nicht. Ich hörte zuweilen ihre leisen Schritte auf den knarrenden Dielen ihres Zimmers.

War sie ein wenig ruhiger geworden, nun sie Lintrup wiedergesehen und gesprochen hatte? War das Band zwischen ihnen von neuem geknüpft, oder war er so unvermutet schnell in die Stadt zurückgekehrt, weil nun alles zwischen ihnen zu Ende war?

Grübelnd lag ich und horchte auf die kleinen Geräusche aus ihrem Zimmer, die bei der tiefen Stille im Hause deutlich zu mir herüberklangen, auf das Klirren ihres Schlüsselbundes, das Herausziehen eines Schubkastens aus ihrer Kommode und das leise Knarren der Tür in ihrem Kleiderschrank, – mußte aber doch zuletzt über dem eintönigen Rauschen des Regens eingeschlafen sein, als ihre Stimme mich weckte:

»Ohl! Hören Sie mich? Ich bin es! Gönnen Sie mir noch ein Wort, Ohl?«

Verwirrt fuhr ich empor.

»Anka?« fragte ich leise in das Dunkel. »Sind Sie es?«

»Ja. Ich spreche hier hinter der Tür zwischen unseren Zimmern. Sie haben Ihren Schrank davorgerückt. Können Sie mich verstehen?« rief sie leise.

»Oh, ich verstehe jedes Wort. Ja, Sie können ruhig 271 noch ein wenig leiser sprechen, Anka. Was gibt es? Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein, Ohl. Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir. Aber es ist unmöglich. Ich brauche auch keine Hilfe. Jetzt nicht mehr, Ohl. Alles ist nun wieder ruhig und klar in mir. Ich – verlasse das Fährhaus, Ohl. Morgen reise ich, hören Sie? Wenn Sie von der Jagd zurückkommen, werde ich nicht mehr hier sein, und da wollte ich Ihnen einen Abschiedsgruß sagen. Leben Sie wohl, Sie sind immer gut zu mir gewesen, besser, als ich es verdient habe. Vergessen Sie meinen Brief an Dina nicht, hören Sie?«

»Sie wollen fort, Anka?«

»Ja. Aber fragen Sie nicht, Ohl, bitte tun Sie es nicht. Lintrup war hier, Sie haben es wohl erfahren? Ich bin ihm so dankbar, daß er noch einmal kam.«

»Ja, ich weiß, daß er hier war. Sind Sie nun ein wenig ruhiger um ihn, Anka?«

»Oh, ich – ich habe nun keine Sorge mehr, Ohl . . .«

»Das ist schön, Anka. Und wohin gehen Sie?«

Sie antwortete nicht gleich.

»Ich wollte es nicht gern sagen, Ohl. Verstehen Sie das nicht?«

»Doch, Anka, und ich will nicht in Sie dringen, so gern ich es wüßte. Aber wenn Dina nun kommt – sie kann nun wirklich jeden Tag eintreffen. Lassen Sie auch für Dina keine Zeile zurück, wohin Sie gegangen sind?«

»Doch. Es steht in dem Briefe, den ich Ihnen für Dina gab.«

»Aber den haben Sie doch schon vor Wochen geschrieben, Anka?«

»Ganz recht,« antwortete sie ein wenig verwirrt. »Ich hatte mich schon damals entschieden, Ohl. So nehmen 272 wir nun Abschied, Sie und ich. Hinter einer verschlossenen Tür . . . So ist es immer zwischen uns gewesen. Immer meinte ich, daß da eine Tür wäre – und immer war sie verschlossen . . . Es war unser Schicksal so. Lange habe ich mich dagegen gewehrt. Ich bin am Ende, Ohl. Ich – gebe es auf.«

»Sprechen Sie nicht so, Anka!«

»Glauben Sie, daß Dina mir verzeihen wird, Ohl?«

»Ich glaube es nicht nur, Anka, – ich weiß es. Und sie wird keine Ruhe haben, bis sie es Ihnen selber gesagt hat. Daran dürfen Sie nicht zweifeln, Anka. Tun Sie es nicht, ich bitte Sie. Und noch eins: Weiß Fräulein Berg –?«

»Nein, nichts . . . Reden Sie ihr ein wenig zu, wenn ich Sie darum bitten darf, Ohl. Ja, wollen Sie? Sie hat mich immer sehr lieb gehabt und nur Gutes an mir getan . . .«

»Und wann sehen wir uns wieder, Anka?«

Wieder zögerte sie mit der Antwort.

»Ich weiß nicht – nein, fragen Sie nicht mehr, Ohl, hören Sie? Wer will das sagen?«

Aber nun war es genug. Glaubte sie vielleicht, daß ich sie nicht längst durchschaute und ganz gut erkannte, was sie sich vorgenommen hatte?

»Nein, Anka!« rief ich leise. »Warten Sie! So können wir unmöglich Abschied nehmen.«

Ich stemmte mich gegen den Schrank, schob ihn mit einem Ruck zur Seite und stieß den Riegel an der Tür zurück.

Da stand sie vor mir, das Gesicht von Tränen überströmt, die Hände gegen die Brust gepreßt, bleich wie der Tod.

»Ohl,« rief sie mit unterdrückter Stimme, »nein, was tun Sie?« 273

»Kommen Sie,« sagte ich und nahm ihre Hände. »Ich lasse Sie so nicht fort. Sie dürfen nicht, hören Sie? Sie müssen mir sagen, was zwischen Ihnen und Lintrup gewesen ist vorhin – hören Sie? Sie müssen –«

Da wurden Schritte auf dem Flure laut, und eine Hand pochte an meine Tür, als müßte ich aus meilentiefem Schlafe geweckt werden.

»Sind Sie fertig, Ohl? Es ist bereits eine Viertelstunde über die Zeit!«

Es war der Justizrat.

»Ich komme,« antwortete ich verwirrt. »Haben Sie den Korb mit den Enten schon im Boot? Passen Sie auf, daß Ihnen die Viecher nicht davongehen, hören Sie? Ich komme im Augenblick.

Anka! Sie dürfen das Zimmer nicht verlassen, bis ich zurück bin. Versprechen Sie mir das? Ich bleibe nicht lange fort,« flüsterte ich. »Ich habe Ihr Wort? Es ist noch so vieles, was ich mit Ihnen zu besprechen habe.«

Sie antwortete nicht, aber sah ich nicht, daß sie nickte und in ihrem Stuhle niederbrach, die Hände vor das Gesicht geschlagen?

»Also – auf gleich denn, Anka! Und beruhigen Sie sich ein wenig, daß niemand Ihr Weinen hört. Fräulein Berg hat einen so leichten Schlaf.«

Leise drückte ich meine Tür ins Schloß und tappte die Treppe hinunter.

Der Justizrat war schon unten am Wasser.

»Es ist ein wenig frisch heute morgen,« sagte er und rieb sich die Hände. »Habe ich nicht recht gehabt, daß der Regen aufhören würde? Sehen Sie mal den Himmel an! Haben Sie gut geschlafen, ja? Dann also los! Übrigens in Fräulein Ankas Zimmer ist ja Licht! Ob es ihr 274 wirklich nicht gut geht? Natürlich habe ich ihre Entschuldigung gestern abend für eine bloße Ausrede gehalten.«

Ich legte mich wie ein Wilder in die Riemen. Eine Angst saß mir in den Knien, daß ich fürchtete, mich durch ein Wort zu verraten.

Gut, daß wir nicht lange zu fahren hatten. Nicht weit von dem Platze, wo früher meine Hütte stand, bildete der Fluß eine Bucht, und dort war das Schilf hoch genug, um sich darin zu verbergen.

»Zum Teufel,« sagte ich ärgerlich. »Da muß ich doch wirklich noch einmal zum Fährhaus zurück.«

»Was ist los?« fragte der Justizrat, der schon dabei war, die Lockenten auszusetzen.

»Ich habe die Flinte vergessen.«

»Na, hören Sie mal!« schalt der Justizrat. »Nehmen Sie's nicht übel, – aber das sieht Ihnen ähnlich! Ein Jäger, der auf die Jagd geht und seine Flinte zu Hause läßt. Ich hatte sie Ihnen doch griffbereit gestern abend noch auf den Hausflur gestellt. Na, wissen Sie, Sie hätten tatsächlich eine Medaille verdient. – Zeigen Sie mir wenigstens erst einen Platz, wo man in Ruhe anstehen kann, ohne in diesem Morast hier zu versinken. Dann haben Sie wenigstens etwas für die Menschheit getan.«

Gott sei Dank, ich war ihn los. Mochte er in Ruhe soviel Enten schießen, wie er wollte.

Das Haus lag noch in tiefer Dunkelheit, als ich zurückkam. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, daß die Wirtsleute aufstanden . . .

Als ich das Boot festmachte, sah ich, daß in Ankas Zimmer das Licht gelöscht war.

Ich stutzte. Was bedeutete das? War Anka vielleicht doch – 275

Hastig eilte ich zum Hause hinauf, als ich Anka gewahrte, die eben die Verandatreppe herabgehuscht war und sich nun in den Schatten des alten Holunderstrauches neben der Treppe duckte, um nicht gesehen zu werden.

»Anka,« bat ich sie leise und eindringlich und ergriff sie beim Handgelenk. »Wohin wollen Sie? Sie versprachen mir doch –. Kommen Sie, lassen Sie uns wieder hinaufgehen. Ich muß mit Ihnen reden, hören Sie? Es sind wichtige Dinge, Anka.«

Ihr Körper schien starr und ohne Leben und ihr Blick nach innen gerichtet.

»Anka!« sagte ich. Ich bin es, – Ohl! Erkennen Sie mich nicht?«

»Lassen Sie mich!« rief sie wie in plötzlichem Erwachen und versuchte mich beiseite zu drängen. »Sie haben kein Recht –«

Aber dann verstummte sie wieder, schien ganz in sich zurückzusinken und ließ sich führen wie ein Kind.

Als sie ihr Zimmer wiedersah, brach sie in Tränen aus, hemmungslos und von einer Verzweiflung geschüttelt, die keine Worte hatte.

Ich ließ ihr Zeit, sich auszuweinen.

»Es ist unmöglich, Ohl. Warum haben Sie mich nicht gehen lassen? Ich ertrage es nicht mehr. Liebte mich Lintrup nicht schon, als ich – – Hätte ich doch Schulna nie gesehen!«

Sie brach von neuem in Tränen aus, aber dann ballte sie ihr Taschentuch und sagte unnatürlich ruhig:

»Ich habe nie bereut, was ich getan habe, Ohl, bis heute nicht! Es war mein eigenes Leben, das ich lebte. Ich stand allein. Wen hatte ich zu fragen? Ich tat ja keinem weh, wenn ich mich selber nicht mehr achtete . . . Erst, 276 als ich heute Lintrup wiedersah, begriff ich ganz, was ich getan . . . Hätte ich ihn vom ersten Tage an so ernst genommen, wie seine Liebe es verdiente, es wäre nie geschehen! Nun habe ich das Vertrauen zerstört, das in ihm war, und das ist niemals wieder gut zu machen. Niemals, Ohl! Und das Schwerste hat er heute erst erfahren: daß ich Sie damals liebte und mich aus Gram mit Schulna nur betrog . . . und ihn erst später langsam lieb gewann . . .«

»Und er verstand Sie, Anka? Glaubte Ihnen?«

»Das ist es, Ohl – er wird es nie verstehen . . . Muß er nicht glauben, daß ich ihn betrog?«

»Und haben Sie ihm auch gesagt, daß ich an allem schuld bin, Anka?«

»Sie – schuld? Niemals!«

»Doch Anka, ich! Ich ganz allein! Wußte ich nicht, daß Sie mich liebten, und ließ Sie doch aus meinen Händen gleiten, konnte zusehen, wie Sie strauchelten, und habe nicht eine Hand gerührt, um Sie zu stützen, Sie zu halten? . . .«

»Nein, Ohl! Ich hätte Ihnen niemals zugegeben – – Wie können Sie –«

»Noch eins, Anka! Habe ich Dina gegenüber nicht geschwiegen, als ich hätte sprechen sollen? Was verschlägt es, daß ich nicht sprechen durfte? Denn ich war gebunden, Anka! Ich hatte ein Kind, – und hatte die Frau verlassen, die es mir gebar! Nur wenige Wochen später starb das Kind, und, wie ich meinte, durch meine Schuld! Nur darum schwieg ich, als ich Dina sah und liebte, und ohne diese Schuld in meinem Leben säh auch das ihre heute anders aus. O, ich hätte Dina viel zu beichten – mehr als Sie!« 277

»Ohl! Ohl!«

»Doch nun, da Sie es endlich über sich gewannen, Anka, Lintrup das Letzte noch zu sagen –«

»Bleibt mir nichts mehr zu tun – ich weiß. Und darum wollte ich –«

»– ein Ende machen, Anka! Sprechen Sie es ruhig aus! Seit Wochen denken Sie daran. Ihr Stolz ließ keine andere Lösung zu. Nicht, weil Sie strauchelten und fielen – Sie litten nur um Lintrup! Schon als Sie den Brief an Dina schrieben, den ich für Sie verwahre, dachten Sie daran. Gestehen Sie es nur: Es ist ein Abschiedsbrief! Und darum darf er nie in Dinas Hände kommen. Sie müssen leben, Anka, sich und Ihrem Kinde – und wir werden es Ihnen danken, alle!«

Ich hatte die Kerze auf dem Nachttisch angezündet und hielt den Brief nun in die Flamme – sie schlug empor, als hätte sie nur darauf gewartet, ihn zu verzehren.

»Ohl,« flüsterte Anka, »Ohl!«

»Sie fehlten Dina gegenüber nur aus Liebe, Anka. Was sollen ihr die Einzelheiten, die Sie in Ihrem Briefe beichteten? Sie wird niemals nach ihnen fragen . . . Ich bin gewiß, daß eine Stunde kommt, in der von Mund zu Mund dies alles sich viel leichter löst.«

»Und Lintrup? Es war kein Abschied, den er von mir nahm, er floh – wie ein Verzweifelter!«

»Ich werde zu ihm gehen, Anka, mich für Sie verbürgen, und er wird wieder glauben, Ihnen wieder ganz vertrauen. Vielleicht, Anka, daß er in diesen Tagen lernt – wie soll ich sagen – Sie mehr zu lieben als sich selbst . . . Sie schenken sich ihm heute reifer, als Sie jemals waren. Ist das so wenig, Anka? So muß selbst Schuld zu Segen werden.« 278

Ich hatte sie allein gelassen. Der Morgen dämmerte, und draußen ging der Fluß so still und seines Weges sicher durch die Wiesen, als wäre er schon ganz nahe am Ziel. Bleich und still lag Ankas Boot auf dunklem Wasser.

 


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