Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Es regnet nicht mehr, aber das Wasser auf den Wiesen steigt und steigt. Zwischen dem Fährhause und meiner Hütte liegt ein See. Ich kann nur noch mit dem Boote hinüber. Aber was soll ich jetzt noch viel dort, nun alle abgereist sind, die im Sommer dort wohnten, Anka und Schulna, der Maler, der abends an unserem Tische am Wasser so lustige Geschichten zu erzählen wußte. Sie sind davon wie die Zugvögel. Ja, was sollten sie auch Besseres tun, als den Winter hinter ihren Öfen zu verbringen?

Ich denke oft daran, daß sie nun alle drüben in der Stadt in ihren Stuben hocken, und wenn sie einander begegnen und die Rede darauf kommt, den Kopf über mich schütteln, daß ich noch immer hier draußen inmitten der nassen Wiesen sitze in meiner kleinen Hütte und die Hände an den Ofen halte, um sie ein wenig zu erwärmen.

Ich lache darüber, aber es ist auch ein wenig Ärger in meinem Lachen, besonders über Schulna, der es jetzt so bequem hat wie im Sommer und nur ein paar Straßen 28 weit zu gehen braucht, um bei Dina zu sein und zu sagen: Da sind Sie ja beide, Fräulein Anka und Fräulein Dina. Ja, danke, es geht mir gut. Ausgezeichnet sogar. Was ich sagen wollte, ich habe einiges gemalt in diesen Tagen. Wenn Sie einmal Lust haben, es anzusehen? Kommen Sie doch heute nachmittag zum Tee in meine Wohnung, nicht wahr?

Ich lache trotzdem. Aber meine Stimme erschreckt mich beinahe in der großen Stille, die um mich ist, und dann gehe ich vor die Hütte, um draußen nach dem Rechten zu sehen.

Da merke ich es nun. Der Fluß ist so unablässig im Steigen, wie das Wasser auf den Wiesen. Er hat schon die Warf, auf der meine Hütte steht, übergeschluckt, und die Kette, an der mein Boot liegt, ist über Nacht schon wieder zu kurz geworden, und ich muß den Anker aufholen und höher legen, damit das Boot nicht in der nächsten Nacht voll Wasser läuft.

Es steht nämlich ohnehin Wasser genug darin, ebenso hoch wie an dem Tage, als Dina mit ihrem kleinen Fuß hineintrat und sich den Schuh durchnäßte.

Aber diesmal schöpfe ich es heraus . . . pitsch, pitsch, pitsch . . .

Die Arbeit und der Wind, der so feucht über die Wiesen kommt, daß man meint, er müsse seine Schwingen ein wenig ins Wasser getaucht haben, machen mich wieder frisch und übermütig.

Ich hüte mich nur, viel bei meiner Arbeit im Freien zum Himmel hinauf zu sehen, denn er ist schwer und grau wie eine alte Parlamentärflagge, und er hat nicht wenig schuld, wenn einem zuweilen schwermütige Gedanken kommen. 29

Aber man muß nicht meinen, daß ich hier ohne Beschäftigung wäre und meine Tage nur so dahinlebte. Ich habe die Ziege und das Haus und das Boot und das Feuer auf dem Herde, meine Pfeife und meine Gedanken.

Mit dem Feuer habe ich mich gut angefreundet. Ich brauche es nur ein wenig mit dem Schürhaken anzuregen, so stiebt es in Funken, flackert auf und hält Zwiesprache mit mir. In der ersten Zeit war es nichts mit uns beiden. Ich konnte jedesmal ein Dutzend Streichhölzer verbrauchen und mir die Lunge aus dem Halse blasen, ehe es gute Miene zum Spiele machte. Aber jetzt kennen wir uns.

Wenn der Frost anhält, werde ich mein Boot aufs Land ziehen müssen, wenn ich es nicht auf dem Flusse einfrieren lassen will. Es wird nicht angenehm sein, bei der Überschwemmung, die jetzt die Wiesen bedeckt, hier ohne Boot zu sitzen. Aber vielleicht baut mir der Frost demnächst eine Brücke zum Fährhause. Immerhin, es wäre gut, auf alle Fälle gerüstet zu sein, und vielleicht ist es am besten, heute noch einige Vorräte mit dem Boote vom Fährhause herüber zu holen? Im Notfall ist freilich die Ziege da, sie kann mich über Monate ernähren bei den Vorräten, die ich im Hause habe. Nur die Ratten machen mir zu schaffen. Die Überschwemmung hat das ganze Gelichter von den Weiden und dem Flußufer auf meine Warf getrieben, und wenn ich sie den Winter über mit meinen Vorräten so weiter füttere wie bisher, kann ich demnächst nur die Hütte räumen.

Gut. Ich werde mir eine Katze aus dem Fährhause mitbringen. Dort laufen so viele im Hause herum, daß man mir ganz gut eine abstehen kann.

Ich gehe hinunter, mache das Boot los und treibe mit 30 einigen Ruderschlägen durch die Abenddämmerung den Fluß hinunter. Ich muß nur aufpassen, im Flußbett zu bleiben und nicht auf die Wiesen zu geraten, wo das Wasser zu flach ist. Aber ich sehe schon an der Strömung, wo tiefes Wasser ist. Unter den Pappeln binde ich das Boot an und gehe den Pfad zum Hause hinauf.

Hier hat unser Tisch gestanden, denke ich, wie ich daran vorüber gehe, und sehe uns wieder sitzen wie an einem Abend im August, die Lampe auf dem Tische, Anka dort, Schulna neben ihr, und ich selber an der schmalen Seite. Dina sitzt allein an der einen Längsseite des Tisches, den Blick auf den Fluß gerichtet.

Aber es erregt mich nicht, als ich es denke. Nein. Durchaus nicht. Das Herz klopft mir freilich ein wenig stärker als sonst. Aber das macht nur die plötzliche Ruhe nach dem Rudern.

Was für ein Abend es war, denke ich im Weiterschreiten. Die Luft war warm und schwül, und die Sterne versanken in dem bleichen Dunst des Himmels.

Niemals war Anka so übermütig und ausgelassen wie an diesem Abend. Aber je lauter sie wurde, desto stiller wurde Dina, traurig und versonnen, und nur zuweilen lächelte sie wider Willen über die Worte, die Anka und Schulna wie lustige Bälle einander zuwarfen.

Sie trug den seidenen Schal über den Schultern, den ich so sehr an ihr liebte und der ihr so stand, daß es mir den Atem verschlug, als ich sie zum erstenmale darin sah.

Zuletzt kam Schulna auf die Idee, Papierlaternen über dem Tische aufzuhängen und die Lampe ins Haus zu bringen. Dazwischen kam der Mond auf und schwamm schwer und trübe in der dunstigen Luft.

Anka nahm die Gitarre und sang: 31

»Ein Jäger zog in den grünen Wald –
Halloh, halloh, trara!
Durch Berg und Tal sein Jagdhorn schallt' –
Halloh, halloh, trara!«

Dazu wiegte die Strömung im Flusse die angeketteten Boote der Segler, die von der Stadt hierher gekommen waren und noch auf der Terrasse beim Hause saßen und lärmten. Ihre hellen Trikots schimmerten zu uns herüber.

Aber jetzt wurden sie still und horchten auf Ankas Lied und das Rauschen der alten Pappeln, kamen herunter zu uns, stießen mit uns an und stimmten in den Kehrreim des Liedes ein:

»Und willst du nicht mein Liebster sein,
ich fang' mir morgen einen andern ein!
Halloh, halloh, trara!«

Ja, es war Sommer, heißer, brennender Sommer, alle Nächte waren von seiner Glut erfüllt, die Wiesen wie ausgebreitete Teppiche und alle unsere Sinne trunken von dem süßen Duft des späten Heues.

Ich sollte lächeln, wenn ich an diesen Tag zurückdenke. Ja, wirklich, das sollte ich.

Es ist so schön zu denken, wie fröhlich wir waren. Der Sommer brannte in unsern Adern, und Dina war schön wie dämmernde Wiesen, ehe die Nacht kommt.

Jetzt liegt die Terrasse voll von den Blättern der Pappeln. Es rauscht ordentlich vor meinen Füßen, als ich auf die Haustür zuschreite.

In der Gaststube brennt schon Licht. Gelb scheint es durch die Fenster in die blaue Dämmerung hinaus.

Ich gehe drinnen über den steinbelegten Flur. Die Luft 32 im Hause ist feucht und moderig. Es riecht nach Keller und Verlassenheit. Die Tür zur Gaststube ist nur angelehnt, als wäre erst soeben jemand vor mir hineingegangen. Aber niemand ist drinnen.

Die alte Pendeluhr an der Wand tickt laut in die Stille.

Ich tappe in die Küche hinüber. Auch dort ist niemand. Aber auf der Viehdiele ist Licht. Eine Stallaterne brennt dort, und in ihrem ungewissen Scheine sehe ich die Fährleute hantieren.

Als ich die Glastür zur Viehdiele öffne und zu ihnen gehe, sehe ich, daß sie alle drei um eine Kuh beschäftigt sind, die am Kalben steht, der alte Pohl, sein Schwiegersohn und die junge Frau.

Es ist die kleine schwarzbunte. Während des Sommers weidete sie neben meiner Hütte. Man hat sie aus dem Stall gezogen und ihr eine Strohschütte zurecht gemacht. Darauf liegt sie und schnauft zuweilen, daß es wie ein Stöhnen anzuhören ist.

Behrens ist gerade damit beschäftigt, dem Kalbe, von dem nur erst die Vorderfüße zu sehen sind, einen Strick hinter die jungen Hufe zu knoten. Der Alte hockt daneben auf einem Schemel und hat die Laterne zwischen die Knie genommen, um seinem Schwiegersohne, so gut es gehen will, zu leuchten. Sein Raubvogelgesicht mit dem eisgrauen Haar unter der alten Schirmmütze blickt scharf und läßt kein Auge von den Händen des Jungen. Wenn seine Knochen nicht schon zu zitterig wären, würde er zehnmal lieber selbst zugreifen. Die junge Frau steht, eine Sackschürze vor den Leib gebunden, die Hände in die Seiten gestemmt, und wartet auf den Augenblick, daß ihr Mann mit den Vorbereitungen zu Ende ist.

Die Kuh soll zum erstenmal milchend werden, und dazu 33 scheint es ein besonderes starkes Kalb zu sein, das da ans Licht will. Ohne Hilfe kann es Stunden dauern, ehe es geboren wird, wenn es überhaupt lebend zur Welt kommt und die Kuh nicht dabei draufgeht.

Als die Stricke geknotet sind, fassen wir mit dreien an. Vorsichtig wird das Seil straffgezogen.

Die junge Frau zieht neben mir. Ihre großen braunen Hände halten mit festem Griff das Tau, ihre Miene ist sorgenvoll gespannt, der Mund zusammengepreßt. Die kurzen, blonden Stirnhaare, die sie Sonntags mit der Schere zu kleinen Locken brennt, stehen sperrig voraus.

Einmal trifft mich unversehens der volle Atem aus ihrem Munde, dringt der Geruch ihres Körpers zu mir herüber, ein kräftiger, animalischer Geruch, der an den Duft frischen Schwarzbrotes erinnert. Mir ist, als wäre in der Einsamkeit hier draußen Mensch und Tier das gleiche und ihr Leben schwänge in demselben Rhythmus.

Der Alte hat das Kommando.

Mit einem heiseren Hoh – hoh! begleitet er unsere Anstrengungen und hebt dabei aufgeregt die Laterne über den Kopf, um besser beobachten zu können.

»Vorut!« ruft er, und wir beginnen von neuem zu ziehen, die Körper hintenüber geneigt, alle Muskeln bis zum Bersten gespannt, – lassen das Seil dann wieder locker, bis der Alte mit seinem Hoh – hoh! Vorut! von neuem zu ziehen befiehlt.

Endlich ist das Werk geschafft, und ein schwarzbuntes kräftiges Bullenkalb liegt auf der Streu, von dem Muttertier, das sich erhoben hat, zärtlich trocken geleckt.

Mißtrauisch sieht der Alte nach, ob es wirklich heil zur Welt gekommen ist und die Stricke die Vorderbeine nicht verletzt haben. Aber alles ist gut gegangen. 34

Jetzt blökt es zum erstenmal. Aufgeregt schnauft die Alte und drunst leise zur Antwort.

Unter der alten Pumpe auf der Diele waschen wir uns nacheinander die Hände, und die jungen Leute gehen nach der überstandenen Sorge erleichtert mit mir in die Gaststube hinüber, und ich kann nun an die Dinge denken, die mich hierher geführt haben.

»Damit ich es nicht vergesse,« sagt die junge Frau, »es ist auch ein Brief da für Sie. Der Briefträger war heute morgen hier, konnte aber wegen des Wassers auf den Wiesen nicht zu Ihnen hinüber.«

»Ach,« sage ich und wundere mich im Stillen, daß jemand an mich und meine Einsamkeit gedacht hat. Und dann ist plötzlich eine Hoffnung in mir, eine kleine, törichte, eigensinnige Hoffnung. »Es ist ja Unsinn,« sage ich mir. »Wie sollte Dina nur dazu kommen, dir zu schreiben? Nein, wirklich, es ist lächerlich, daran zu denken. Weg! Aus!«

Aber sie will sich nicht wegreden lassen und kehrt sich so wenig an die gleichgültige Miene, die ich mache, daß sie mich beinahe zu einem Lächeln zwingt, einem zagen, verhaltenen Lächeln.

»Wo habe ich ihn denn nur hingelegt?« sagt die Wirtin und kramt hinter dem Schanktisch herum. »Hast Du ihn weggelegt, Hermann?«

Aber ihr Mann weiß auch nicht, wohin der Brief gekommen ist. Vielleicht, daß er bei den Zeitungen liegt drüben auf dem Tisch?

»O, es eilt ja nicht damit,« sage ich und tue so gleichgültig wie möglich. »Es ist ja so belanglos. Ein Brief, nun ja!« und zucke die Achseln.

Aber jetzt hat sie ihn gefunden und reicht ihn mir, einen Brief in einem schmalen, etwas zerknitterten Umschlage. 35

Zitterte mir die Hand, als ich ihn empfing, wie? Es ist möglich, aber ich wette, daß sie es nicht bemerkten, weder die junge Frau noch ihr Mann, der mir gegenüber am Tische saß und mir von dem Bootsschuppen erzählte, den er über Winter bauen will.

Ich sah mit einem Blick, daß der Brief von Dina war.

Nachlässig schob ich ihn in meine Brusttasche und sagte: »Also wirklich, einen Bootsschuppen! Sieh doch an! Ja, wenn die Geschichte nur nicht zu teuer kommt, Behrens.«

Ja, das sei eben der Haken. Aber er habe gute Aussichten, den Schuppen billiger zu bekommen, als man sonst wohl rechnen müsse. Sein Vetter sei Zimmermann und hätte ihm einen besonders niedrigen Preis gemacht. Ja, und da habe er sich eigentlich schon fest entschlossen. So oder so – gewagt sei es ja, soviel Geld hineinzustecken. Aber er rechne doch, daß einige der Segler aus der Stadt im nächsten Herbst ihre Boote hierher ins Winterquartier legen würden. Das würde allein schon eine gute Verzinsung geben. Dazu würden viele dann im Sommer auch regelmäßiger als bisher hier herauskommen. Die Fähre allein bringe wirklich zu wenig Verkehr ins Haus. Auch wollten seine Frau und er oben im Hause noch ein paar Zimmer für Logiergäste einrichten. Sie hätten schon im vorigen Sommer gern noch Gäste aufgenommen, wenn sie nur mehr Zimmer im Hause gehabt hätten. Schulna habe sich ja so wie so schon wieder angemeldet und gebeten, seine Stube oben im Giebel für den nächsten Sommer nicht an andere zu vermieten. Spätestens im Mai würde er wieder im Fährhaus wohnen. So gefallen habe es ihm im Hause, daß er sogar eines seiner Bilder als Geschenk zurückgelassen habe. Ein richtiges Ölbild, ja. Ob ich es 36 mir vielleicht einmal ansehen wolle? Seine Frau hätte es allerdings zuerst nicht recht leiden mögen, und wenn er ehrlich sein solle, er selber auch nicht. Man könne nicht so recht etwas darauf erkennen, weder das Haus noch die Veranda seien ihnen deutlich genug. Aber nun ein richtiger Goldrahmen darum gelegt sei, wären sie doch ganz stolz auf das Bild.

Die junge Frau kommt wieder herein und stellt ein Glas dampfenden Grogs vor mich hin.

Ob wir etwa von dem Bilde sprächen? Ja, sie müsse sagen, daß sie damit nichts rechtes anfangen könne. Immerhin, der Rahmen habe nun doch so etwas wie ein Bild daraus gemacht. Nein, ich müsse es selber einmal sehen.

Wir gehen zu dritt in die Wohnstube hinüber. Die junge Frau leuchtet mit einer Küchenlampe. Da hängt nun das Bild an der Längswand der niedrigen Stube zwischen einem Stich, der die Schlacht bei Gravelotte darstellt, und einem Korporalschaftsbild der 62er, bei denen der Alte einmal gedient hat.

Es ist eine Ansicht des Fährhauses vom Fluß aus, bei hellstem Sonnenschein gemalt, brennend in seinen Lichtflecken und dem Herbstlaub der Pappeln, mit breitem Pinsel sorglos und mit Verachtung aller Einzelheiten hingestrichen: saftig und derb, ein richtiger Schulna. Ich meine beinahe sein breites und übermütiges Lachen zu hören, nun ich das Bild betrachte. Vorn ist eine Ecke sichtbar von dem Tische, an dem wir im Sommer so oft zusammen saßen. Der Tisch ist leer, aber die rotgewürfelte Decke, die darüber gelegt ist, ist sichtbar, und der Zipfel fliegt wie ein Fähnchen im Winde.

Als wir wieder in der Gaststube sitzen, sage ich: »Also Schulna wird zum Frühjahr wieder hierher kommen? Am 37 Ende wird das Fährhaus noch einmal ein richtiges Hotel? Wie es denn mit den beiden jungen Damen stehe, die im vergangenen Sommer im Fährhaus gewohnt hätten? Sie seien doch wohl ein wenig verwöhnt, wie ich gemerkt hätte, und würden gewiß im nächsten Frühjahr lieber ins Gebirge oder vielleicht an die See gehen?«

O, das sei nicht zu wissen, entgegnet Behrens. Als sie abreisten, hätten sie bestimmt versichert, daß sie im Sommer wiederkämen. Aber vielleicht sei das ja auch nur eine Redensart gewesen. Nun, so oder so, es wäre nichts daran gelegen. Er nähme lieber junge Herren ins Haus. Die verzehrten mehr und stellten nicht so große Ansprüche. Hinter den jungen Damen habe seine Frau immer anstehen müssen. Dann hätten sie eine Bluse geplättet haben wollen, dann wieder hätten sie sich Falten in den Kleiderrock gesessen gehabt, bald dies, bald das.

Als ich heimfahren will, und vor die Tür trete, empfängt mich draußen ein Dunkel, daß ich im ersten Augenblick kaum zuzutreten wage. Es ist Neumond und der Himmel ohne Sterne. Behrens hat mir die Vorräte, die ich bei seiner Frau eingekauft habe, ins Boot getragen und kommt mir nach, um mir zu leuchten. Er will mir seine Laterne mitgeben, aber ich lehne es ab. Sie blendet mich nur.

Das Wasser gurgelt und klatscht. Der Wind hat sich aufgemacht und weht mir entgegen, und da ich auch noch gegen die Strömung anzukämpfen habe, muß ich mich mit aller Kraft in die Ruder legen. Eine fiebernde Ungeduld ist in mir . . . Der Brief! denke ich, und eine Welle der Freude durchströmt mich.

Zu erkennen ist nichts, auch nachdem sich mein Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, steht die Nacht wie eine Wand vor mir. 38

Im Fährhause wird nun das Licht gelöscht, und ich verliere den letzten Anhalt für die Richtung.

Aber ich denke nur an den Brief in meiner Tasche.

Er wird auf einen der kleinen Bogen geschrieben sein, auf die ich Dina im Sommer einmal auf der Veranda beim Fährhause schreiben sah . . . Vielleicht, daß ein Hauch von dem Duft ihres Kleides mich berührt, wenn ich den Umschlag öffne . . .

Ich rudere aufs Geratewohl. Von meiner Hütte ist keine Spur zu sehen. Die Nacht hat Fluß und Wiesen verschlungen.

Endlich komme ich heim. Das Brausen des Windes in den Kronen der Kopfweiden, die vor meiner Hütte am Flußufer stehen, verrät mir, daß ich am Ziele bin.

In der Stube glimmt noch ein wenig Feuer im Ofen. Ich blase es an, lege ein paar Torfziegel nach, räume den Tisch ab und lege die Decke auf. Es soll ein wenig feiertäglich um mich sein, nun ich endlich Dinas Brief lesen kann . . .

Währenddes erhebt sich der Wind draußen stärker und stärker. Die eine Scheibe in dem kleinen Fenster meiner Stube sitzt ein wenig lose im Rahmen und klirrt leise unter seinen Stößen. Aber ich kenne das Geräusch. Es gehört zum Hause wie das Klappern der Tür, wenn der Wind ins Ulenloch stößt . . .

Ja, rund heraus gesagt – es ist ein Abschiedsbrief. Dina wird weder im Frühling noch im Sommer wieder ins Fährhaus kommen. Sie fährt zu ihrem Bruder nach Indien. Jawohl. Warum nicht gleich nach China?

Aber es steht in kleinen, zierlichen Zeilen da, so deutlich und klar, wie man es nur wünschen kann.

»Was Du nur willst,« schilt der Wind. »Indien ist 39 das herrlichste Land der Erde. Ich kenne es genau und bin unzählige Male dort gewesen. Sollte sie etwa nicht hingehen? Ihr Bruder ist Arzt dort. Du weißt es ganz gut, wenn Du Dich nur ein wenig darauf besinnen willst. Hat sie Dir nicht im vorigen Sommer davon erzählt? Nun braucht er Hilfe, Gesellschaft, Zerstreuung – was weiß ich. Kann es da etwas Schöneres für sie geben, als hinüber zu fahren? Denn wenn Du so ein Tropf bist und Dich hier wie ein lahmer Vogel in die nassen Wiesen setzt, kannst Du nicht erwarten, daß sie darauf erpicht wäre, Dir Gesellschaft zu leisten. Der Sommer war ja ganz leidlich, es waren gute Tage hier draußen, das muß man sagen. Aber was ist so ein norddeutscher Sommer gegen die Wunder Indiens? Palmen stehen dort wie aus Erz gegossen. Das heißt, wenn ich nicht da bin. Denn wenn ich des Weges komme, begrüßen sie mich mit einer Verbeugung, wie es sich geziemt, kann ich Dir sagen . . . Aber das ist es: Du machst nichts aus Dir, setzt Dich hierher in diese Einsamkeit mit Deinen Holztafeln und Schnitzmessern, gehst Deinen Gedanken und Deiner Arbeit nach und verhockst und vergrübelst Dich hier. Nun siehe auch gefälligst zu, wo Du bleibst. Jeder muß am Ende wissen, was er mit sich und seinen Tagen anfängt. Nur mein Fall wäre es nicht. Ich habe nicht lange Ruhe an einem Orte. Dazu habe ich zu viel Temperament. Und darum – ich fahre dahin – –«

Ich lösche die Lampe, setze mich in meinen alten Lehnstuhl am Fenster und denke an den Brief, der da im Finstern vor mir auf dem Tische liegt. Zuweilen, wenn das Feuer heller aufflackert und durch die Zuglöcher in der Ofentür gelbe Lichtpfeile in das Dunkel der Stube wirft, leuchtet das Papier auf, als wäre eine geheime Glut in ihm verborgen. 40

Es sind noch fünf Tage bis zu Dinas Abreise. Ich zähle an den Fingern ab, daß sie am kommenden Dienstag zu Schiff gehen wird.

Wie Anka froh sein wird, froh, trotzdem ihr der Abschied nicht leicht sein wird. O nein, sie liebt Dina. Aber irgendwo auf dem Grunde ihres Denkens wird trotzdem eine heimliche Freude sein.

»Gott sei mit Dir, Dina,« wird sie sagen, »meine Liebe, reise glücklich, hörst Du? Und versprich mir, daß Du drüben in Deiner neuen Heimat ein wenig fröhlicher sein willst als hier. Und gesunder, Dina. Die Sonne wird Dich kräftigen, meine Liebe, Dein Husten wird sich verlieren und Deine Lungen werden wieder fest und gesund werden. Welches Glück diese Reise darum für Dich ist! Hab keine Sorge vor dem Fieber. Du gehst ja nicht in die Dschungeln, nicht wahr, und ist nicht Dein Bruder da, der als Arzt sorgfältiger als jeder andere über Deine Gesundheit wachen wird? Lebe wohl, meine Dina, die teuerste und liebste Freundin, die ich hatte . . . Nein, ich bitte Dich, sorge Dich nicht um mich, hörst Du? Wirklich, das mußt Du mir versprechen. Ich werde im Sommer wieder aufs Land gehen und in dem alten Fährhause wohnen, das wir im vorigen Sommer für uns entdeckten, und wo wir so glücklich waren, Du und ich. Vielleicht wirst Du in Deiner neuen Heimat zuweilen an diese Tage zurückdenken und ein wenig dabei seufzen, wenn Du an die fröhlichen Stunden denkst, die wir dort miteinander verbrachten? Weine nicht, wenn Du an Schulna denkst, versprich es mir, nicht wahr? Schulna ist ein so froher Mensch. Er wird sich trösten, glaube nur. Hat er nicht seine Kunst, seine Farben und seine Arbeit? Vielleicht hat er Dich lieber gehabt, als er Dir bisher verraten hat, – 41 aber denke nicht mehr daran. Laß ihn nur den Schmerz des Verlassenseins kosten. Hat er es etwa besser verdient? Nein, gräme Dich nicht um ihn, hörst Du?«

So wird Anka sprechen. O, ich kenne sie!

Und Dina? Laß doch sehen . . .

Vielleicht wird sie ein wenig zu Ankas Worten lächeln, den Kopf auf die Schulter neigen, wie sie es so gern tut, wenn sie über etwas nachzudenken hat, aber antworten wird sie auf Ankas Worte nichts . . . Wozu sollte sie auch? Schon ihr Lächeln wird Anka richten, und sie wird es damit genug sein lassen.

Ob sie erwartet, daß ich morgen in die Stadt komme, um Abschied von ihr zu nehmen?

Abschied? Ich will keinen Abschied, weder heute noch morgen! Ich kann nicht. Ich will nicht . . .

Nein, es ist unmöglich, noch länger mit meinen Gedanken dazusitzen.

Ich halte meine Uhr in den schwachen Lichtschein des Feuers. Es ist drei Uhr.

Der Wind hat sich draußen gelegt. Es scheint wärmer geworden zu sein. Einige Sterne sind zu sehen, und der Mond ist aufgegangen. Das Wasser auf den Wiesen flimmert unter seinem Glanze. Unter den Weiden am Flusse tanzen die Nebelweiber, blutlos und bleich, die hageren Arme erhoben. Sie schweben über den Fluß hin, verschlingen ihre Glieder ineinander, recken sich höher, drängen und fliehen sich wieder.

Nein, ich werde nicht dulden, daß Dina fährt. Ich werde ihr sagen –

Ja, hat sie vielleicht nach meinem Rate verlangt? Steht in ihrem Briefe nur ein einziges Wort, mit dem sie mich darum bittet?

Ich lache über mich selber, ein kurzes hartes Lachen 42 – und weiß doch im selben Augenblick, daß ich morgen früh zu ihr gehen werde – Anka und mir selber zum Trotz! Mag alles ausgehen, wie es will!

*

Am Morgen fuhr ich verwirrt aus einem traumvollen Schlaf. Erschreckt blickte ich auf die Uhr.

Eigentlich hätte ich schon unterwegs sein sollen, wenn ich den Frühzug erreichen wollte. Hastig kleidete ich mich an, versorgte die Ziege und trat vor die Hütte.

Es dämmerte bereits. Der Wind hatte sich völlig gelegt, und die Kopfweiden am Flußufer waren stark bereift. Wie aus Silber gegossen standen sie reglos in der grauen Morgenluft.

Ich machte das Boot los und trieb es mit hastigen Ruderschlägen stromabwärts.

Der Spiegel des Flusses schien wie aus Glas, und eine ungeheure Stille lag über allem, als wären alle Dinge neu erschaffen und noch von dem Traum ihrer Frühe umfangen.

Im Fährhause stand die junge Frau bereits am Herd in der Küche. Sie machte ein wenig verwunderte Augen, als sie hörte, daß ich in die Stadt wollte, merkte aber, daß ich mich nicht in eine Unterhaltung einlassen wollte und bat mich nur, ihr einige Kleinigkeiten aus der Stadt mitzubringen.

Jetzt kam auch ihr Mann, trübe und mißmutig.

Das Kalb, das gestern abend geboren war, war während der Nacht erkrankt, wollte nicht aufstehen und mußte im Liegen getränkt werden. Auch die Kuh wollte nicht recht fressen. Der Alte sei schon vor einer Stunde ins Dorf hinüber gegangen, um ein Pulver zu besorgen. 43

Endlich kam ich fort, lief mehr, als ich ging, spürte aber, wie die Bewegung mir wohl tat.

Als der Zug in die Stadt einlief, war es zehn Uhr.

Zu so früher Stunde konnte ich nicht daran denken, einen Besuch zu machen, begann planlos durch die Stadt zu schlendern und war froh, als mir der Zettel einfiel, den mir die Wirtin mitgegeben hatte.

Ich besorgte die kleinen Einkäufe, die darauf verzeichnet waren – ein paar Dosen Lederfett, Schnürsenkel, Gummiringe für Einmachegläser und einige Beschläge, die ihr Mann für ein zerbrochenes Fenster gebrauchen wollte.

Darüber war es endlich elf Uhr geworden.

Ich wollte nun nicht länger warten und schlug den Weg nach dem Hause ein, in welchem Dina und Anka wohnten.

Als ich in die Straße einbog, in der das kleine Haus hinter einem Vorgärtchen versteckt lag, hatte ich die Empfindung, daß mir jeder ansah, wohin ich ging und warum ich kam.

Seht doch, welche Eile er hat, zu ihr zu kommen! sagten die Blicke, und ein mitleidiges Lächeln begleitete sie.

»Gewiß wird sie verwundert sein,« dachte ich. »Es ist immer noch ein wenig früh. Vielleicht wundert sie sich auch, daß ich überhaupt komme . . .«

Als ich aber den Messinggriff an der Türe ihres Hauses niederdrückte, war ich so ruhig, als wäre ich im Begriff, in meine Hütte drüben im Moore zu treten.

Die Wirtin kommt mit noch ungeordnetem Haar, breit und gemächlich, führt mich in die kleine Vorderstube, und da stehe ich nun und warte, höre wie sie über den Flur geht und an ein Zimmer klopft, sogar das Herein, mit dem ihr geantwortet wird, kann ich hören. Aber es ist nicht Dinas Stimme, es ist Anka, die Herein! gerufen hat. 44

Nun höre ich, wie eine Tür geöffnet und drinnen im Zimmer gesprochen wird, kann aber nichts verstehen. Dann bleibt es einen Augenblick lang still wie in einer Kirche, aber gleich darauf kommen eilige Schritte über den Flur – es ist Dina!

Verwundert bleibt sie eine Sekunde lang im Türrahmen stehen.

»Wirklich?« sagt sie. »Wie freundlich das von Ihnen ist!« Aber dann errötet sie und setzt schnell und ein wenig verwirrt hinzu: »Anka wird gleich kommen. Sie freut sich so sehr über Ihren Besuch!«

Natürlich kommst du doch nur Ankas wegen, nicht wahr, soll das heißen, denn es ist selbstverständlich für sie, daß ich nur um Ankas willen den Weg hierher gemacht habe.

Aber ich bin nicht imstande, ihr zu sagen, daß ich Ankas wegen nicht einen Schritt aus meiner Hütte gemacht hätte und nur um ihretwillen kam, – ich finde einfach nicht die Worte.

»Und nun erzählen Sie,« sagt sie und ladet mich mit einer Bewegung ihrer Hand zum Sitzen ein. »Wie sieht es draußen bei Ihnen aus? Fürchten Sie sich nicht in den langen, einsamen Nächten in Ihrer Hütte? Und dann die Überschwemmung! Sie wohnen jetzt gewiß wie auf einer winzig kleinen, verlorenen Insel? Anka erzählte mir – –«

Anka und immer wieder Anka!

Aber ihr Lächeln ist da, dieses stille, sanfte Lächeln, und der Blick ihrer Augen, der so bezwingend, ruhig und klar in ihrem lieben Gesichte steht.

Gewiß sei ich sehr fleißig gewesen in den vergangenen Wochen? Ob man denn immer noch nicht erfahren dürfe, 45 woran ich arbeite? Ich sei bisher so geheimnisvoll damit gewesen. Aber, was sie beträfe, nie würde sie darauf dringen, es zu erfahren, denn vielleicht sei es nötig für mich, daß ich es noch für mich bewahre. Anka habe freilich ein größeres Recht darauf, das sei gewiß.

Anka? Und ein größeres Recht –?

»Nein, durchaus nicht,« sage ich und erschrecke über meine eigene Stimme, so rauh und spröde klingt sie unter der Erregung, die in mir ist. »Warum meinen Sie das?«

Aber sie kommt nicht mehr dazu, mir zu antworten, denn nun tritt Anka herein und lächelt und begrüßt mich, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen, o, gar nichts, und überschwemmt mich mit einer so wirbelnden Flut von Worten und Fragen, daß ich kaum dagegen antworten kann in dem Erstaunen, das in mir ist.

Ein Verdacht überfällt mich und will sich nicht abweisen lassen: daß sie vor Dina den Augenschein aufrecht erhalten will, als liebte ich sie und sei nur um ihretwillen gekommen.

Nein, wie sie sich freue, mich wiederzusehen! Wirklich, eine größere Freude hätte ihr der Tag nicht bringen können. Nun müsse ich ihr erzählen. Ob ich nicht doch mittlerweile ins Fährhaus gezogen sei? Sonst müsse sie doch wirklich einmal für einen Tag herauskommen zu mir und in meiner Hütte ein wenig nach dem Rechten sehen . . .

Wie? Ist das dieselbe Anka, die vor Wochen im Zorn aus meiner Hütte ging?

Ich will sie unterbrechen, ihr sagen, daß ich wirklich nichts brauche und daß sie sich keine Mühe um mich machen soll, sie am allerwenigsten, – da steht Dina auf, um sich zu verabschieden.

Sie hat einen Weg wegen ihres Gepäcks zu machen . . . 46 ein paar Besorgungen nebenbei. Aber ihre Hand zittert ein wenig, und der Glanz ihrer Augen ist erloschen.

Entschlossen stehe ich gleichfalls auf.

»Nein, bitte,« sagt Anka und eine schmerzliche Enttäuschung klingt aus ihrer Stimme . . . »Sie wollen doch nicht jetzt schon gehen? Nein, das dürfen Sie mir nicht antun . . . Bitte, bleiben Sie doch noch. Ich habe noch einiges mit Ihnen zu bereden, und Dina wird ja nicht eine Ewigkeit fortbleiben . . . Halte Dich nur jetzt nicht länger auf, Dina, damit die Gepäcksache nun endgültig in Ordnung kommt, nicht wahr?«

Dina nickt, gelassen und ruhig, wie sie immer ist.

»Auf Wiedersehen dann nachher,« sagt sie.

Ich höre sie in ihr Zimmer gehen und gleich darnach das Haus verlassen . . .

Zwischen Anka und mir ist eine bedrückende Stille eingetreten.

Sie ist ans Fenster getreten, um Dina nachzuwinken, wendet sich dann und sagt mit merkwürdig veränderter Stimme: »Eigentlich sollte ich Ihnen böse sein, aber Sie sehen, ich bin es nicht. Sie waren neulich ein wenig schlechter Stimmung.«

»Meinen Sie?« entgegne ich kühl. »Ich glaube eher, daß Sie es waren. Aber es ist ja belanglos.«

Sie antwortet nicht gleich und scheint ein wenig betroffen über meine Gleichgültigkeit. Aber ihr Atem geht schneller und eine fahle Blässe ist auf ihre Wangen getreten.

Dann lacht sie gezwungen auf und lauter, als sonst ihre Weise ist.

»Nein, wie komisch das ist. Jeder meint vom anderen, daß er schlechter Stimmung war. Finden Sie nicht auch, daß das komisch ist? – Mein Gott, so lachen Sie doch! 47 Nein, warum lachen Sie denn nicht?« sagt sie, bricht in Tränen aus und verläßt das Zimmer.

Da saß ich.

Du mußt ihr nachgehen, ihr ein Wort der Beruhigung sagen, rede ich mir zu. Aber es ist ein Widerstand in mir, und bedrückt bleibe ich auf halbem Wege stehen, weiß auch nicht, wo ich sie in dem unbekannten Hause suchen soll.

Wohin sie nur gegangen sein mag? Im Hause rührt sich kein Laut. Nur die Wirtin kramt unten in der Küche, klappert mit Schüsseln und Tellern.

Um mich ist eine bedrückende Stille.

Dies muß ein Ende haben, sage ich zu mir, gehe über den Flur und öffne aufs Geratewohl die Tür zu einem anderen Zimmer.

Es ist leer.

Vielleicht ist es Dinas Zimmer, denke ich, und eine traumhafte Versonnenheit kommt über mich. Ein kleiner Nähtisch steht am Fenster, und eine Handarbeit liegt darauf. Die Nadel steckt noch darin. Ein Flügel des Fensters steht offen, und die Gardine weht mir in stummer Bewegung entgegen.

Leise schließe ich die Tür wieder und klopfe an die nächste.

Als ich öffne, sehe ich Anka drinnen an einem Fenster sitzen, das auf einen engen und düsteren Hof hinaus geht.

»Anka« – sage ich, und ein Mitleid überkommt mich, daß meine Stimme dunkel darunter wird, »Anka!«

»Sie?« sagt sie überrascht und blickt mir aus nassen Augen entgegen.

»Habe ich Sie erzürnt? Warum machen wir es uns so schwer, Anka? Sehen Sie – ich –«

Ich stocke, und weiß plötzlich nicht mehr, was ich sagen 48 will, noch sagen kann. Ein wenig trösten möchte ich sie, sie beruhigen, nicht so von ihr gehen. wie sie es damals tat, als sie mich in meiner Hütte besuchte. Aber wieder ist die Mauer da, die sich immer zwischen ihr und mir erhebt, wenn ich mit ihr zusammen bin.

Sie antwortet mir nicht, wendet sich nur und tupft sich die Augen ab. Hastig verbirgt sie das zusammengeknüllte Taschentuch.

»Gehen Sie doch,« stößt sie dann heraus. »Ja, warum gehen Sie nicht?« sagt sie und ihre Stimme ist beinahe schneidend, so hart klingen ihre Worte. »Ich weiß ja längst, wie ich mit Ihnen daran bin. Sie können sich alle Worte sparen, wirklich, es ist unnütz, weiter zu reden.«

»Sie sind erregt, Anka. Ich habe Sie erzürnt. Verzeihen Sie mir . . . . Sollte aber nicht zwischen uns eine größere Ehrlichkeit möglich sein, als sie sonst geübt wird? Sehen Sie, darum mußte ich Ihnen doch zu verstehen geben – – O, es war ungeschickt, sehr ungeschickt, gewiß – aber –«

»Zu verstehen geben?« wiederholt sie, und ihre Augen flammen auf. »Wollen Sie nicht sagen, was Sie mir zu verstehen geben mußten?«

»Gewiß . . . ich glaube, es gibt keinen Grund dafür, es nicht zu tun . . . Nun, daß ich Sie nicht liebe, nicht lieben kann, – daß ich – –«

»Wie?« fragte sie, und ihre Stimme bebte in Zorn und Empörung. »Glauben Sie vielleicht, daß ich – Nein, das ist unerhört! Wenn Sie hierher gekommen sind, mir das zu sagen, hätten Sie sich den Weg sparen können! Mir liegt nichts an Ihnen, hören Sie? Gar nichts. Gut, daß Sie nie auf den Einfall gekommen sind, mich zu lieben, denn ich schnippe mit den Fingern, wenn ich an 49 Sie denke! Sehen Sie, so! So viel bedeuten Sie mir! Um keinen Deut mehr!«

»Ah,« sagte ich dann – »dann ist ja alles gut. Wirklich! Was für eine Einbildung es von mir war zu glauben – – da bitte ich Sie erst recht um Verzeihung. Nun begreife ich auch, wie komisch es Ihnen war. daß wir vorhin beide jeder vom anderen behaupteten, wir seien schlechter Stimmung gewesen, damals in meiner Hütte, meine ich, wenn Sie sich noch erinnern . . .«

Aber sie würdigte mich keines Blickes mehr, ging durchs Zimmer und begann mit zusammengezogener Stirn und ruhelosen Händen in den Notenheften zu kramen, die auf einem Ständer neben dem Klavier lagen.

»Endlich ist Klarheit zwischen Anka und dir,« denke ich, als ich das Haus verlassen habe und die Straße hinabgehe. »Wie gut das ist. Daneben ist eine Beschämung in mir, die mich mehr bedrückt, als ich mir eingestehen will. Es war eine Lektion für dich, mein Junge, eine gute und heilsame Lektion. Sie hat dir einen Spiegel vorgehalten, und du hast einmal in Wahrheit gesehen, wie du aussiehst. O, was für ein vortrefflicher Spiegel es war . . . So viel macht sie sich aus dir: noch weniger als ein Schnippchen! . . . Was für ein Narr du gewesen bist. Jetzt brauchst du keine Gedanken der Ruhe und des Trostes mehr zu ihr hinüberzuschicken . . . Sie bedankt sich für dich. Vielmals, jawohl! Da hast du es! Du mit deinem guten Willen. Ha, ha, es ist zum Lachen – – Ein Schnippchen! Nein, sieh doch an, weniger als nichts.«

Wie lang die Straße ist, – und ich gehe doch rasch und entschlossen. Vorhin, als ich kam, erschien sie mir nicht länger als ein Katzensprung. Aber es ist eine so wundersame Kühle in mir, als wäre die herbe Luft des Herbstes 50 und das klare nüchterne Licht des Tages bis in meine Gedanken gedrungen.

»Sieh doch den Straßenkehrer. Wie lustig die trockenen Blätter von den Bäumen vor seinem Besen tanzen! –«

»Weniger als ein Schnippchen! Da hast du es nun!«

Da, an der nächsten Straßenecke, kommt mir Dina entgegen, lächelnd und ein wenig erregt.

»Die vielen Weitläufigkeiten, die man vor einer solchen Seereise hat!« seufzt sie und bleibt vor mir stehen. »Aber nun ist die Zollgeschichte heute wenigstens in Ordnung gekommen!«

Sie lächelt, und ich lächle auch, und vielleicht empfindet sie wie ich, wie bedeutungslos die Worte sind, die wir miteinander reden. Denn hinter allem, was wir sagen, steht eine Stille in uns, ein merkwürdig verhaltenes Schweigen, vor dem alle Worte so klein und nichtig sind wie fallendes Laub vor der schweigenden Weite des Himmels.

»Es war ein so schöner Sommer draußen bei Ihnen im Fährhause,« sagt sie. »Wir sind Ihnen so zu Dank verpflichtet, daß Sie uns dorthin führten. Die Wiesen und die Kahnfahrten und abends unsere Lieder. So oft, wie ich mit Anka wieder daran zurückgedacht habe.«

Anka und immer wieder Anka! Sie kann nicht ein paar Sätze sprechen, ohne Anka zu erwähnen!

»Da fällt es Ihnen wohl ein wenig schwer, fortzugehen, Fräulein Dina? Ich meine, Ankas wegen . . .«

»O, sehr,« antwortet sie. »Anka ist mir eine so liebe Freundin gewesen, immer. Sie können denken, daß ich nichts lieber täte, als Anka zu bitten, mich zu begleiten, wenn sie hier nicht gebunden wäre.«

»Anka? So?« sage ich, aber sie beachtet es nicht. 51

»Anka ist ein so herrlicher Mensch, so selbständig und entschlossen, so ruhig und fest in sich selber. Es würde so sehr viel für mich bedeuten, wenn sie mit mir ginge. Aber sie kann sich nicht entschließen, natürlich nicht! Und darum bitte ich sie schon gar nicht. An ihrer Stelle würde ich auch nicht so leicht auf Reisen gehen,« setzt sie hinzu und errötet ein wenig.

»Warum nicht?« frage ich.

Verwundert blickt sie mich an, lächelt ein wenig unsicher und sagt leise: »Sie müssen nicht so fragen.«

»Verzeihen Sie,« sage ich, »aber ich verstand Sie wohl nicht ganz. Sie wollten sagen, daß Anka –«

»Ja, Sie brauchen nicht zu fürchten . . .«

»Was soll ich denn nicht fürchten, Fräulein Dina?«

»Nichts, nichts,« ruft sie und bricht in Lachen aus, und es klingt lustig und übermütig, wie sie hinzusetzt: »Aber das ist kein Gespräch für uns, nein. Sie wissen auch ohne mich ganz gut, wie glücklich Sie Anka gemacht haben mit Ihrem Besuch . . . o, sehr glücklich!«

»Anka?« sage ich. »Ich kam Ihretwegen, Fräulein Dina, allein Ihretwegen . . . Ihr Brief gestern –«

»O, es war so freundlich von Ihnen, vor meiner Abreise noch einmal bei uns hereinzusehen, wirklich. Ankas Freude war so groß –«

»Größer als die Ihre, Fräulein Dina?«

Aber sie kommt nicht mehr dazu, mir zu antworten. Ein Bekannter tritt zu ihr, und sie begrüßt ihn mit so viel Freude und aufrichtiger Herzlichkeit, daß ich mir überflüssig und lästig vorkomme.

Nur für eine Sekunde begegne ich noch einmal dem Blick ihrer Augen, dann verabschieden wir uns, hastig und überstürzt. 52

»Leben Sie also wohl!« sagt sie und reicht mir ihre Hand, und wir stehen da und lächeln, als feierten wir ein Freudenfest . . .

»Ich werde ja durch Anka zuweilen von Ihnen hören,« sagt sie, nickt mir noch einmal zu und winkt mit der Hand, und ich gehe die Straße hinab, wie man durch tausend Straßen geht und gehe so minutenlang. Es ist ja so gleichgültig, wohin ich gehe. Alle Straßen sind grau, und über allen hängt der gleiche graue Himmel.

Menschen strömen an mir vorbei, und in einer Nebenstraße läßt ein Knabe seinen Kreisel laufen.

Hoppla, wie er springt!

Hoho! »Leben Sie wohl, Fräulein Dina, und reisen Sie glücklich!« Sieh doch an! Ja, da hat sie etwas, an dem sie zehren kann . . . So ein Heldenstück!

Freilich, Anka zu kränken ist leichter! Ach, rede dich bitte nicht heraus. Schnippte sie nicht mit den Fingern, wie? – Was für ein lustiger Morgen es doch war!

Bin ich denn nur in die Stadt gekommen, um ein paar gleichgültige Worte mit Dina zu reden, zum Teufel?

Ich kehre wieder um, basta. Was schert mich die Wirtin, wenn ich abermals nach Fräulein Dina frage, ausdrücklich nur nach ihr.

Aber da fällt mir das Lächeln wieder ein, mit dem sie den Bekannten begrüßte, der uns vorhin überfiel. So vertraut, wie er tat.

Da ist der Bahnhof schon. Bin ich denn im Kreise herumgelaufen? Aber ich wüßte nicht, was mir erwünschter sein könnte, – und in einer Viertelstunde geht ein Zug. Das muß alles so sein.

Natürlich, ich könnte auch am Abend noch fahren . . .

Nein, warum ist sie damals in den vier Tagen nicht 53 zu mir gekommen, als ich vom Morgen bis in die Nacht in meiner Hütte auf sie wartete, he? Anka kam – warum sie nicht? Gut, daß ich jetzt wieder daran denke.

Nein, ich will meine Einsamkeit nicht wieder verlassen. Alles peinigt mich. Die Straßen, die Menschen, meine Gedanken.

Aber am Dienstag fährt sie, sagt etwas Fremdes in mir, und es ist vorbei, aus, für immer. Für immer, hörst du? Begreife doch, – für immer!

Nein, ich habe keine Antwort darauf, weder diese noch jene, und empfinde nur eine grenzenlose Sehnsucht nach dem Himmel über meiner Hütte und seiner Weite, nach dem Flusse vor meiner Tür, nach Wind und Wolken und der schweigenden Ruhe der Wiesen.

 


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