Wilhelm Scharrelmann
Das Fährhaus
Wilhelm Scharrelmann

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Das Frühjahr war gekommen. Die Wiesen lagen wie grüne Teppiche. Hahnenfuß und Löwenzahn blühten bereits, und der Himmel stand blau und leuchtend über Wiesen und Moor.

An den Sonntagen kamen schon die ersten Segler von der Stadt zum Fährhause und tafelten auf der Veranda beim Hause. Wenn der Wind darnach stand, konnte ich sie von meiner Hütte aus lärmen und lachen hören. Ihre Boote lagen wie weiße Schwäne auf dem blauen Wasser, und die Wimpel an ihren Masten flatterten lustig im Winde.

Ankas Boot hatte ich nun völlig wieder in Stand gesetzt. Es hatte doch mehr Arbeit erfordert, als ich zuerst angenommen hatte. Aber nun waren alle Fugen wieder gedichtet, der Firnis abgekratzt und die Außenwände frisch geölt und lackiert. Auch den Namen hatte ich erneuert und die Buchstaben mit weißer Ölfarbe gemalt. Gemma hieß es. Wer es so auf dem Wasser liegen sah, konnte es für ein neues Boot halten, so schmuck sah es aus.

Darüber stieg meine Ungeduld so, daß ich den Mai kaum erwarten konnte. 110

Aber die ersten Maitage vergingen, ohne daß sich Aula oder Schulna sehen ließen.

Vielleicht, daß man im Fährhause eine Nachricht über den Tag ihres Eintreffens hatte? Ich wollte aber nicht danach fragen, und fuhr lieber jeden Tag einmal hinüber um nachzusehen.

Ich hatte nämlich nicht weit vom Fährhause einen Aalkorb gesetzt. So hatte ich einen Vorwand.

Natürlich fing ich nichts.

»Sie müssen den Korb weiter oben setzen,« riet Behrens mir. »Hier beim Fährhause ist es zu unruhig. Versuchen Sie es mal weiter oben.«

Aber ich war eigensinnig und blieb, wo ich war.

Endlich, eines Nachmittags – es war schon fast Ende Mai geworden – sah ich Anka unter den Pappeln an einem der Gartentische sitzen. Aber im nächsten Augenblicke wurde ich wieder unsicher, ob sie es sei. Die Entfernung war so groß, und ich erriet mehr, daß sie es war, als daß ich sie erkannte, denn sie hatte das Gesicht, der Sonne wegen, von mir abgewandt.

Langsam ruderte ich zu ihr hinüber, legte das Boot fest und ging zu ihr.

Nein, ich hatte mich nicht getäuscht, sie war es und hielt den Kopf über eine Stickerei gebeugt, an der sie arbeitete.

War ich befangen und unsicher, wie sie mir begegnen würde?

Vielleicht. Aber größer war doch meine Freude, daß es nun wieder Sommer wurde, Sommer, wie es im vorigen Jahre Sommer gewesen war, als Anka mit Dina und Schulna hier unter den Pappeln zu sitzen pflegte und wir täglich zusammen hinausfuhren. 111

Erst, als ich ganz nahe zu ihr trat, blickte sie auf.

»Wirklich,« sagte sie, »Sie sind es? Welche Überraschung das ist. Wie geht es Ihnen? Ich hörte schon vorhin im Fährhause, daß Sie wirklich den ganzen Winter dort drüben in Ihrer Hütte zugebracht haben. Wie einsam Sie es da gehabt haben müssen. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie . . . Ich bin ganz erstaunt, wie sich das Haus hier herausgemacht hat. Sogar ein neues Bootshaus soll gebaut werden, wie Behrens sagte? Er gibt sich wirklich Mühe, das muß man sagen. Zur Einweihung wollen die Segler dann ein großes Fest hier veranstalten. Aber es wird ja noch einige Zeit darüber hingehen, nicht wahr? Hoffentlich bringt der Bau nicht allzuviel Unruhe mit sich . . . Morgen kommt übrigens auch Schulna. Er war im Winter in der Schweiz und hat herrliche Bilder von dort mitgebracht. Aber während des Sommers will er doch wieder hier malen . . . Warum haben Sie sich denn gar nicht einmal in der Stadt sehen lassen? Es wäre doch hübsch gewesen, wenn Sie einmal gekommen wären . . .«

Sie sprach unausgesetzt, von einer heimlichen Hast und Unruhe erfüllt, und selbst das kurze Auflachen, das zuweilen ihre Worte begleitete, erschien gewollt und nervös.

»Schulna müssen Sie sich nur einmal ansehen, so gesund wie er aussieht! Aber das macht die Schweiz und der Wintersport, den er getrieben hat. Und tüchtig vorwärts gekommen ist er auch. Sie werden erstaunt sein, wenn Sie seine neuen Bilder sehen. Er wird zum Herbst in Berlin ausstellen, was sagen Sie? Ich glaube sicher, daß es ein Erfolg für ihn wird . . . Und nun erzählen Sie von sich. Bitte. Aber Sie scheinen noch immer so schweigsam zu sein wie früher, ja? Bei Ihnen muß man 112 wirklich alles mit der Zange herausholen. Natürlich sind Sie sehr fleißig gewesen über Winter und haben allerhand Überraschungen für uns, wenn wir Sie besuchen kommen? Denn natürlich kommen wir einmal über die Wiesen zu Ihnen, oder Schulna rudert uns zu Ihnen hinauf. Übrigens, das Boot! Wie lieb das von Ihnen war! Behrens sagte mir, welche Mühe Sie sich damit gegeben haben.«

»Und wie geht es Fräulein Dina?« fragte ich und bückte mich nach dem Garn, das ihr vom Tische geglitten war.

»Dina? O, gut, wie ich hoffe. Ich habe seit einigen Wochen keine Nachricht mehr von ihr.«

»Wie?« sagte ich. »Ist sie nicht mit Ihnen herausgekommen?«

»Dina?« fragte sie. »Dina ist doch in Indien.«

»Aber Sie haben doch für Fräulein Dina ein Zimmer hier im Fährhause bestellt? Ich las es auf der Karte, auf der Sie sich bei Behrens im Frühjahre anmeldeten.«

»Nein, das ist lustig!« sagte sie und brach in Lachen aus. »Haben Sie denn selber keine Nachricht von Dina? – Wie wunderlich das ist. Warum schreibt Sie Ihnen denn nur nicht? Nein, sie ist in Indien, natürlich. Aber es ist immerhin möglich, daß sie in einigen Monaten zurückkommt. Sie hat ein wenig Heimweh, die Gute . . . Mir ist das unverständlich. Wenn ich wüßte, daß sie hier etwas verlassen hätte, nach dem sie sich sehnen könnte – nicht wahr? Aber natürlich, wenn sie sich hier wohler fühlt und bei ihrem Bruder entbehrlich ist, wie sie meint –. Habe ich denn übrigens wirklich geschrieben, daß das Zimmer für Dina sein sollte? Gewiß habe ich ein zweites Zimmer bestellt. Es ist auch schon bezogen. Es sollte für Fräulein Berg sein, die mit mir gekommen ist. Sie kennen 113 Fräulein Berg doch? Nein? Ach, ich dachte. Sie ist noch auf ihrem Zimmer, fühlte sich ein wenig müde . . .«

Eine Entspannung war über mich gekommen, daß ich zu allem, was Anka mir mitteilte, nur lächelte. Wie gut sie es vermieden hatte, auf unser Gespräch in ihrer Wohnung zurückzukommen. Nicht ein Fältchen in ihrem Gesicht verriet, daß sie mir zürnte.

O, es war wieder Sommer, warmer, quellender Sommer.

»Sehen Sie, da kommt Fräulein Berg, und ich kann Sie gleich mit ihr bekannt machen,« sagte Anka. »Sie hat im Winter in München gearbeitet und ist erst jetzt vor einigen Tagen zurückgekommen. Sie macht augenblicklich Flechtarbeiten, kleine, entzückende Sachen.«

»Und Sie, Fräulein Anka?« fragte ich. »Was für eine hübsche Decke Sie da arbeiten!«

Ich war so glücklich, daß ich ihr etwas Angenehmes sagen mußte, irgend eine Freundlichkeit. Ein Versehen, dachte ich, natürlich ein Versehen! Habe ich es nicht immer gewußt? Aber in einigen Monaten wird sie tatsächlich zurückkehren . . .

»Ja? Mögen Sie die Farben so?« fragte Anka, und ich merkte ihr an, daß sie sich freute, ein gutes Wort von mir über ihre Arbeit zu hören.

»Ein eigenartiger Entwurf,« sagte ich und betrachtete die Zeichnung.

»Wirklich, gefällt er Ihnen? Es ist im Grunde nur ein Versuch . . . Ich bin der geometrischen Formen nämlich herzlich überdrüssig geworden. Man sehnt sich geradezu wieder nach ein wenig Grazie und Bewegung in der Linie. Ah, und da haben Sie Fräulein Berg –«

Ich sah in ein nichtssagendes, blasses Gesicht, das durch 114 die vorstehenden großen Schneidezähne im Oberkiefer beinahe abstoßend wirkte. Das fahlblonde Haar lag straff nach hinten gekämmt über einer schmalen, ausdruckslosen Stirn, unter der ein Paar Augen standen, die in ihrem matten Blau wie verblichen erschienen.

Sie hatte ihre Arbeit mitgebracht, setzte sich zu uns und begann mit merkwürdig behenden Fingern Borden aus gefärbten Binsen zu flechten. Sie hatte kleine, hagere Hände mit schmalen, mageren Fingern von einer unnatürlichen Blässe.

Wie schön Anka neben diesem Fräulein Berg ist! mußte ich denken, als mein Blick von Anka zu ihr hinüberglitt. Ich hatte das nie so gesehen. Ankas Haar war von tiefem, bläulichem Schwarz und leicht gewellt. Es stand wie ein Rahmen um ihr Gesicht, das mit seinem römischen Profil und den geschwungenen Brauen über den dunklen Augen neben dem Mausgesicht von Fräulein Berg klassisch schön erschien. Aber Ankas Kinn war hart und eigenwillig und der Zug um den Mund zu herb und ausgeprägt.

Darüber stieg Dinas Antlitz wieder vor mir auf und zog mir in schmerzlicher Süße das Herz zusammen.

Mit einem Ruck stand ich auf und griff nach meiner Mütze.

»Sie wollen doch nicht schon gehen?« fragte Anka überrascht. »Nein, Sie müssen uns noch ein wenig den Fluß hinausrudern, ja? Sie haben mein Boot so wundervoll in Stand gesetzt, daß Sie nun auch die erste Kahnfahrt mit uns machen müssen . . . Oder wir kommen morgen zu Schiff zu Ihnen, wenn Ihnen das lieber ist. Du glaubst nicht,« wandte sie sich an Fräulein Berg, »wie entzückend das Häuschen ist. Eine verlassene Hütte! Ich erzählte Dir bereits davon. Dort drüben hinter den Kopfweiden liegt 115 es. Nein, Du kannst es von hier aus nicht sehen, schade. Die Büsche verdecken es völlig. Strohdach natürlich, ganz niedrig und ein einziges Zimmer im ganzen Hause, ha ha! Dazu ein offener Herd auf der Lehmdiele. Ich glaube, früher hat die Moorhexe dort gehaust, ha ha ha!«

Fräulein Berg lächelte, ein blasses, fadenscheiniges Lächeln, ebenso nichtssagend wie ihre ganze Erscheinung.

»Sie sind Graphiker, nicht wahr?« fragte sie und hob interessiert ihre Mausnase. »Ich beneide Sie. Es muß herrlich sein, so eine Begabung zu haben –«

»Hören Sie auf damit, wenn ich bitten darf,« unterbrach ich sie. »Was mich betrifft, so wäre ich zehnmal lieber Bauer oder Handwerker oder Sandfuhrmann meinetwegen. Ja, Sandfuhrmann wäre herrlich . . . Möchten Sie nicht auch lieber einen handfesten Strohteppich flechten als diese bunten Schnüre, Körbchen und Nichtigkeiten aller Art? Und vielleicht noch lieber ein Kind an die Hand nehmen oder in den Garten gehen, – Kartoffeln hacken oder eine Grütze am Herde kochen?«

»Nein, das kann ich von mir nicht sagen,« antwortete Fräulein Berg verletzt und zog die Nase kraus.

Anka lachte herzlich und laut, aber Fräulein Berg blieb beleidigt.

 


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