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XXXIII.
Olivia's Erinnerungen.

Der Anfang unseres Ehestandes in London fiel in eine stürmische Zeit. Als wir uns unserem Hause näherten, das nicht weit vom Flusse und von Whitehall lag, bot sich uns ein Anblick dar, der mich nicht wenig bewegte; es war eine Kutsche, die, von Parlamentssoldaten bewacht, nach dem James-Palaste fuhr. Einige Leute wandten sich um, ihr nachzusehen, und zwei Kinder schauten aus den Wagenfenstern. Es waren die königlichen Prinzen, welche von ihrem Besuch bei dem König zu Caversham wieder nach dem St. James-Palaste zurückgebracht wurden. Es erweckte traurige Empfindungen, zu sehen, wie diese jungen Geschöpfe, welche eben so wohl dazu geboren waren, Kinder der Nation als des Königs zu sein, nach ihrer königlichen Heimath wie in ein Gefängniß geführt wurden, um in ihrem eigenen Lande als Verbannte zu leben, während ihre Mutter als Flüchtling in Frankreich und ihr Vater ein Gefangener unter seinen eigenen Landsleuten war.

Es liegt eine schreckliche Macht in der pathetischen Majestät, welche einen entthronten König umgibt; eine fast unwiderstehliche Gewalt in der Krone, die zur Dornenkrone geworden ist. Ein gefangener Monarch ist für die Unterthanen, die ihn gefangen halten, ein gefährlicherer Feind, als eine siegreiche Armee. Wie oft mußte ich mir während jener traurigen Jahre 1647 und 1648 immer und immer wieder alle Ursachen des Bürgerkrieges vorhalten: Eliots langsames Hinsterben in seiner ungesetzlichen und ungesunden Kerkerhaft, die zum Schweigen gebrachten Parlamente, die gefolterten Puritaner, die in Gefängnissen schmachtenden Patrioten! Wie oft mußte ich mir den ganzen Verlauf desselben in's Gedächtniß zurückrufen: Prinz Ruprechts Plündereien, die wiederholte Falschheit des Königs, welche allmälig den letzten Rest des Vertrauens der Nation erstickte und alle Versuche gütlicher Unterhandlungen zu Schanden machte. Alles dies mußte ich mir gewaltsam immer wieder vorsagen, um unsern Grundsätzen treu bleiben zu können.

Und der Kampf mit dieser Reaktion instinktiver Loyalität, der insgeheim in meinem Herzen Statt fand, ging zu der Zeit, als wir uns in London niederließen, offen in der Stadt, ja selbst im ganzen Lande vor.

So allgemein und mächtig war diese Reaktion, daß es während des Monats August 1647, in welchen unsere Flitterwochen fielen, schien, als ob London, das beim Beginn des Krieges die Hauptstütze des Parlaments war, von der presbyterianischen Mehrzahl des Unterhauses geleitet, vor Begierde brannte, zum Gehorsam zurückzukehren. Der Streit schien gänzlich seinen Platz gewechselt zu haben. Nunmehr war nicht der König der Feind, den die Stadt fürchtete, sondern das Heer, welches ihre eigenen freigebigen Beiträge und ihr ausdauernder Muth größtentheils in's Leben gerufen hatte. Wie der deutsche Zauberer Dr. Faustus, von dem Tante Gretchen uns zu erzählen pflegte, beugte sich nun die Stadt vor dem unbezähmbaren Geiste, den sie heraufbeschworen hatte, als derselbe von Moment zu Moment zu immer schrecklicherer Größe und Gewalt erwuchs.

Der erste August 1647 – mein erster Sonntag in London – war ein sehr merkwürdiger Tag für mich.

Mitten in der puritanischen Sabbathstille ging ein dumpfes, unruhiges Gemurmel durch die ganze Stadt; man bemerkte ein unaufhörliches, stummes, hastiges Umherlaufen, oder kleine Gruppen, welche an den Straßenecken, oder auf den öffentlichen Plätzen in eifrigem Gespräch begriffen waren. Es war ein merkwürdiger Contrast gegen das fröhliche Leben mitten in der tiefen Stille, die im Grunde zu Netherby herrschte.

Den Freitag zuvor war ein Einfall in das Unterhaus gemacht worden, nicht wie zu Anfang des Kampfes von dem König, indem er die »Privilegien« mit Füßen trat, um die fünf »Verräther« zu suchen; sondern von einer Schaar Lehrburschen, mit Hüten auf den Köpfen, welche für den König ihr Geschrei erhoben, gegen die Armee.

Hierauf waren die beiden Sprecher der Lords und der Gemeinen mit dem Scepter zu der Armee geflohen; ihnen folgten alle Mitglieder, die zu den Independenten gehörten.

Die elf Verbannten presbyterianischen Mitglieder waren zurückgekehrt; unter ihnen Denzil Hollis (einer jener »fünf Verräther« des Königs, der später den königlichen Truppen bei Brentford so tapfern Widerstand leistete) und Sir John Clotworthy, dessen Eifer den Erzbischof Laud mit seinen theologischen Fragen bis aufs Schaffot verfolgt hatte.

Am Sonnabend war in allen Stadttheilen geworben, Leute und Waffen gesammelt, exercirt und Schießübungen vorgenommen worden.

Am Montag sobald der Sommermorgen zu dämmern begann, ging die Unruhe von Neuem los. Trommeln wurden gerührt, Trompeten schmetterten, Lehrburschen schrieen auf allen Seiten: »Kein Frieden mit den Sektirern!« Die sämmtliche Miliz von London wendete sich gegen die aufrührerische Armee, welche man ruhig in der Nähe von Bedford gelagert glaubte.

Aber am Dienstag erhob sich das Heer von seinem Lager und rückte nach Hounslow vor. Nun stürzte sich ganz Southwark erschrocken schaarenweise über die Londoner Brücke, verlangte Frieden mit dem Heere und erklärte nicht fechten zu wollen. Der presbyterianische General Poyntz war entrüstet; es gab Tumult und Blutvergießen auf den Straßen.

Immer näher und näher rückte das herausgeforderte, aber gefürchtete Ungeheuer, die Armee, und zwischen Furcht und Hoffnung schwebend beobachtete man in der Stadt jeden ihrer Fortschritte, jeden Stillstand, den sie machte. Indessen betrachtete sich das Heer, stark durch die Gegenwart des Königs, der Sprecher, des Scepters und Oliver Cromwells nicht allein als den Repräsentanten der drei vereinigten Mächte des Staates, sondern als wäre es diese Drei selber; begeistert durch eine unsichtbare Macht, stärker als alle Staaten, rückte es ohne die geringste Eile oder Unordnung majestätisch vorwärts. Kein Proviantwagen, kein Packpferd wurde unterwegs nach der Stadt aufgehalten. Und Freitag den 9. August erschien das Heer in der Stadt, marschirte mit Lorbeerzweigen auf den Hüten in drei Mann hohen Reihen durch Hydepark, Westminster, den Strand entlang durch die City nach dem Tower. Ein Paar Tage darauf war es ruhig in den umliegenden Dörfern untergebracht und das Hauptquartier befand sich in Putney. Der König wurde indessen in Hampton Court einlogirt.

Keine That der Rache oder der Unordnung trübte, so viel ich weiß, ihren Triumph. Doch war dies für uns keine Ursache der Verwunderung. Wir wunderten uns im Gegentheile darüber, wie nüchterne und fromme Bürger sich über die Nüchternheit und Frömmigkeit der Armee wundern konnten, in welcher jedes Regiment eine betende Gemeinde und Oliver Cromwell die Seele von Allem war.

Hiob Forster, den wir in jenem Herbst häufig sahen, war äußerst aufgebracht über die schlimmen Gerüchte, die man gegen die Soldaten verbreitet hatte.

»Haben die Leute vergessen, daß wir die Schlachten bei Marston-Moor und Naseby für sie gewonnen, daß wir in den letzten Jahren das Land durchzogen haben, ohne daß weit und breit ein gottseliges Haus oder eine ehrbare Familie über uns zu klagen gehabt hätte? Man sollte wahrhaftig denken, wir seien es gewesen, die Leicester geplündert, rings umher Dörfer und Pachthöfe beraubt und angezündet hätten. Sie hätten die Gebete hören sollen, die unsere armen Leute beim Lagerfeuer auf dem Schlachtfelde, wo wir unser Blut für das Vaterland verspritzten, zum Himmel emporschickten – solche Gebete, die fast die Dächer von ihren kalten Kirchengewölben wegzuheben vermöchten, und vielleicht auch den schweren Stein von ihrem Herzen. Leuten, die bequem durch die Straßen schlendern hinter ihren Mauern, die so lang sie wollen, mit Sicherheit beten können und jede Nacht in ihrem weichen Federbette schlafen, würde es gut sein, hin und wieder einen tüchtigen Marsch unter General Cromwell mitzumachen, ein hartes Lager auf dem Marschland zu versuchen und gerade hinauf, über die Dächer und Wolken und Sterne und Covenants und Bekenntnisse hinweg, in den Himmel zu blicken.«

Auch Roger ereiferte sich sehr über die Bürger, vorzüglich weil sie General Cromwell so mißverstehen konnten. Den ganzen Herbst, sagte Roger, war der General mit Ireton, Vane, Harry Marton und andern zuverlässigen Männern eifrig bemüht, einen auf dauernder Grundlage beruhenden Frieden zu Stande zu bringen, wie die Vorschläge der Armee bewiesen.

Sie würden dafür gesorgt haben, daß Seine Majestät selbst, die Königin und ihre Nachkommenschaft in alle Ehren und persönlichen Rechte wieder eingesetzt, daß die königliche Autorität über die Miliz zehn Jahre lang dem Rath des Parlaments unterworfen, daß alle bürgerlichen Strafen für kirchliche Vergehen (zum Beispiel für den Gebrauch oder Nichtgebrauch des allgemeinen Kirchengebetbuchs) abgeschafft würden. Sie hätten es sich zur Aufgabe gemacht, einige alte, zerfallene Marktflecken ihrer Vorrechte zu berauben, für die Vertretung einiger neu aufkommender Städte zu sorgen und diese selbst im Allgemeinen mehr auszugleichen. Sie wollten die Einrichtung treffen, daß das Parlament zwei [Jahre] versammelt gewesen; daß eine große Jury auf unparteiische Weise und nicht von dem Sheriff gewählt werde. Aber Niemand war damit einverstanden. Die Gleichmacher (Levellers) in der Armee verlangten Gerechtigkeit für den »Hauptdelinquenten«, und erklärten, General Cromwell habe sie dem König verrathen. Ueberhaupt war die Meuterei so weit verbreitet und so entschlossen, daß Cromwell selbst sie kaum zu unterdrücken vermochte. Die Presbyterianer wollten sich das Recht nicht nehmen lassen, den Covenant Allen aufzuzwingen. Der König pflog zu gleicher Zeit Unterhandlungen mit General Cromwell, mit den Presbyterianern und den irländischen Papisten; wie sich durch aufgefangene Briefe leider nur zu deutlich herausstellte, mit der Absicht, Keinen von Allen, außer vielleicht den letztern, treu zu sein.

Am 12. November verbreitete sich am frühen Morgen plötzlich das Gerücht und lief von Straße zu Straße, daß der König von Hampton Court entflohen sei; und Roger, der gerade bei uns war, sagte:

»Noch einmal würde General Cromwell den König und das Land gerettet haben. Aber der König will sich nicht retten lassen. Nun muß er sich völlig dem Lande zuwenden.«

»Wie aber, wenn auch das Land nicht von General Cromwell gerettet werden will?« fragte mein Gatte.

»Dann über's Meer nach Neu-England!« versetzte Roger. »Allein so weit ist es noch nicht gekommen.«

Denn selbst nach der Flucht des Königs hielt Roger noch immer an der Hoffnung einer Aussöhnung fest, wobei seine Hoffnungen durch geheime, den Eisbergen seiner Befürchtungen entsprungene Quellen genährt wurden. Mußte nicht mit dem Bande, das Volk und König verknüpfte, auch auf immer das Band, zwar nicht der Liebe, aber doch der Hoffnung zwischen ihm und Lätitia zerrissen werden?

Indessen hörten jenen ganzen traurigen Winter hindurch die Verhandlungen zwischen dem Parlament und Seiner Majestät im Schlosse von Carisbrook nicht auf. Allein sie wurden immer hoffnungsloser, je mehr Männern sie die traurige Ueberzeugung von der Unaufrichtigkeit des Königs aufdrängten.

Endlich im April 1648, als ich von den obern Fenstern unseres Hauses sehen konnte, wie auf einer Seite die Bäume im St. James-Park sich belaubten, und wie auf der andern der Fluß im Widerscheine der waldigen Gärten der Paläste und Wohnhäuser von Westminster bis zum Tempel in tausend grünen und goldenen Tinten glänzte, als Züge von Schwänen vorüber flogen auf ihrem Wege nach den schilfigen Inselchen bei Richmond oder Kew, wo sie ihre Nester bauten; da kam von allen Seiten die Nachricht, daß mitten in den süßen Regungen der erwachenden Natur sich im ganzen Lande von Kent bis an die schottische Grenze unheilvolle Empörung rege.

In London kam dieselbe zuerst zum Ausbruch.

Sonntag den 9. April spielten einige Lehrburschen in Moorfields während der Zeit des kirchlichen Gottesdienstes Kegel. Die Bürgermiliz suchte sie zu vertreiben. Sie wehrten sich, wurden überwältigt und aus einander gesprengt, sammelten sich aber bald wieder unter ihrem alten Feldgeschrei »Clubs«. Die ganze Nacht hindurch hörten wir den Tumult durch die Stadt auf- und abwogen. Die mächtige Zunft der Bootführer schloß sich an sie an. Ihre Losung war: »Für Gott und König Karl!« Erst als die Eisenseiten von Westminster aus sie angriffen, wurde der Aufruhr unterdrückt.

Hierauf kam die Nachricht, daß Chepstow und Pembroke von den Royalisten genommen seien und daß ein vierzigtausend Mann starkes schottisches Heer im Begriffe sei, die Grenze zu überschreiten, um Alles zu Nichte zu machen, was geschehen war, und den König wieder einzusetzen.

Ungefähr um diese Zeit trat Roger in das Zimmer, wo ich eben beschäftigt war, Confect zu machen, legte seinen Helm bei Seite und setzte sich schweigend nieder.

Sein Gesicht war starr und sehr bleich.

»Doch keine schlimmen Nachrichten?« sagte ich.

»Ich sollte es nicht meinen,« erwiderte er.

Und nun erzählte er mir von einer feierlichen Gebetsversammlung, welche die Heerführer den Tag zuvor im Schlosse Windsor gehalten hatten. Einige darunter, schwer bekümmert, daß »die arme Nation das, was sie zu ihrem Besten zu thun geglaubt hatten, nicht annehmen wollte, waren Willens, die Waffen niederzulegen, das Heer aufzulösen, Jeder in seine Heimath zurückzukehren und dort zu dulden nach dem Vorbilde Dessen, welcher, nachdem Er Alles gethan hatte, um Sein Volk zu retten, Sein Leben mit dem Tode besiegelte.«

Andere jedoch hatten davon eine ganz verschiedene Ansicht. Indem sie den Gründen ihrer gegenwärtigen Spaltungen und ihrer Schwäche auf die Spur zu kommen suchten, glaubten sie endlich die Wurzel in »jenen verfluchten fleischlichen Unterhandlungen mit der königlichen Partei, wozu ihre eigene eingebildete Weisheit sie im vorigen Jahre angetrieben hatte,« zu finden.

Major Goffe wiederholte feierlich die Worte der Schrift: »Kehret Euch zu meiner Strafe; siehe, ich will euch heraussagen meinen Geist, und euch meine Worte kund thun;« und hierauf »fiel Allen einmüthig ihre Sünde und ihre Pflicht so schwer auf's Herz, daß Keiner ein Wort zu sprechen vermochte vor bitterlichem Weinen wegen der tiefen Beschämung über ihre Sünden und ihre niedrige Menschenfurcht. Cromwell, Ireton und seine Eisenseiten so zerknirscht zu sehen, das war ein unvergeßlicher Anblick!« sagte Roger innehaltend.

»Nun Roger,« sagte ich zitternd, »wenn dies die Sünde war, welche sie beweinten, worin besteht dann die Pflicht, die sie nunmehr eingesehen haben?«

Roger verbarg sein Gesicht in seine Hände, welche auf dem Tische lagen, und murmelte leise:

»Carl Stuart, diesen Blutmenschen zur Verantwortung zu ziehen für alles Blut, das er vergossen hat, und alles Uebel, das er aus allen seinen Kräften der Sache und dem Volke Gottes unter diesen unglücklichen Nationen zugefügt hat. Das ist's, was sie für ihre Pflicht erkennen,« sagte er.

»Den König zur Rechenschaft ziehen, Roger!« rief ich aus, »den König!«

Vor Entsetzen vermochte ich kaum das Wort hervorzubringen.

»Könige müssen zur Rechenschaft gezogen werden,« versetzte er.

»Ja, in der Ewigkeit,« erwiderte ich. »Aber auf Erden nicht, Roger! auf Erden niemals!«

»Herodes wurde auf Erden zur Verantwortung gezogen, Olivia!« sagte er.

»Wohl wahr, aber von Gott, Roger,« entgegnete ich, »nicht von Menschen! von Menschen nimmermehr!«

»Von dem Gesetze, Olivia,« sagte er. »Von dem Gesetz Gottes, das über alle Menschen erhaben ist.«

»Aber wer kann je das Recht haben, das Gesetz an einem König zu vollstrecken?« fragte ich; »an seinem eigenen Könige?«

»Wehe den Menschen, welche es thun müssen,« sagte Roger. »Aber noch bittereres Wehe dem Manne, der das Werk nicht thut, das Gott ihm aufträgt, welchen Schmerz es ihn auch kosten mag, es zu vollbringen. Olivia,« setzte er traurig hinzu, »wer hat die Tyranneien des Erzbischofs Laud und Straffords und die Plünderungen des Prinzen Ruprecht gutgeheißen?«

Ich konnte nichts als weinen.

»Ach Roger«, sagte ich endlich, »laßt den Blitz oder die Pest oder einen andern rächenden Engel Gottes mit der Zeit dieses Werk vollbringen! Sie sind stark und schnell genug. Menschen steht dies nicht zu.«

Er gab keine Antwort.

»Wann soll dieser schreckliche Entschluß ausgeführt werden?« fragte ich endlich.

»Chepstow und Pembroke muß zuerst belagert und eingenommen, Wales wieder erobert, die vierzigtausend Mann starke, schottische Armee über die Grenze zurückgetrieben werden,« versetzte er.

»Dann ist noch Hoffnung vorhanden, daß der König entfliehen kann.«

»Wenigstens eine Frist, Olivia,« erwiderte er. »Diese Aufgaben erfordern Zeit. Aber sie müssen vollbracht werden. In wenigen Tagen wird uns General Cromwell anführen um sie zu vollbringen. Schon hat das Heer den Befehl erhalten, nach Wales zu marschiren.«

Ich wagte nicht, Lätitia's Namen vor ihm zu erwähnen. Wir beide wußten nur zu wohl, welch ein Abgrund sich zwischen uns aufthun mußte, wenn je dieser schreckliche Entschluß zur Ausführung kommen sollte. Allein ehe er wegging, sagte Roger:

»Olivia, ich glaube nicht, daß es Feigheit ist, Lätitia noch nichts hievon zu sagen. Sie schreibt heute, ihre Mutter werde immer schwächer. Und wer weiß, was eine Schlacht bringen kann? Wenn ich fallen sollte, so möchte ich mein Andenken ihr nicht trüben und so ihren Kummer noch herber machen.«

Und vielleicht gelingt es dem Könige zu entkommen, dachte ich. Denn vor weniger als einem Monat wäre es dem Könige beinahe geglückt, durch die Fenstergitter seines Schlafzimmers zu entrinnen. Allein ich äußerte hievon nichts gegen Roger.

Am folgenden Tage, den 3. Mai, zog das Heer aus und mit demselben Roger und Hiob Forster. Mein Gatte begleitete es in seinem Liebesberufe.

Dieser Sommer des Jahres 1648 war daher sehr einsam und voller Sorgen für mich. Ich sehnte mich nach meinem Vater; aber er war beschäftigt die Insurrektion im Norden zu dämpfen. Und in der Stadt herrschte solche Unruhe, daß ich es für selbstsüchtig hielt eine meiner Tanten kommen zu lassen.

Auch fehlte es mir nicht gänzlich an Freunden. Hin und wieder gewährte es mir große Stärkung, Herrn John Milton zu sehen in seinem kleinen Hause in Holborn mit dem Garten dahinter, der auf die Felder von Lincolns Inn hinausging, seine kräftigen, entschiedenen Worte voll Hoffnung für das englische Volk zu hören und zuweilen den Klängen seiner Orgel zu lauschen.

Allein mein größter Trost waren erstlich die Morgenandachten zwischen sechs und acht Uhr in der St. Margarethenkirche, nahe bei der Abtei, wo täglich dem Herrn Gebet und Lob dargebracht, Sein Wort vorgelesen und von verschiedenen trefflichen, gottseligen Geistlichen erklärt und den Zuhörern an's Herz gelegt wurde; und dann die Freundschaft, welche ich mit dem frommen Herrn John Henry, einem welschen Edelmanne geschlossen hatte, der die Aufsicht über die königlichen Gärten und Baumgüter zu Whitehall zu führen hatte, wohnhaft in einem hübschen Hause nahe bei der White-Hall-Treppe. Seine Gattin war vor kaum drei Jahren an der Auszehrung gestorben, und es war rührend, ihn und seine Töchter von der frommen Tugend derselben erzählen zu hören; wie treu sie ihre Dienstboten beaufsichtigt und täglich mit ihnen gebetet, wie sie ihre Kinder in dem Katechismus unterrichtet und ihren einzigen Sohn Philipp von Kindheit an zu dem geistlichen Stande bestimmt und kurz vor ihrem Hinscheiden gesagt hatte: »Mein Kopf ist im Himmel, mein Herz ist im Himmel, nur noch ein Schritt, so werde ich auch dort sein.«

Diese Freundschaft erquickte mich aus vielen Gründen, vorzüglich aus dreien: erstens weil Herr Henry ein frommer Mann war; dann weil er in einem Garten an einem klaren Wasser wohnte, was mich an Netherby erinnerte, und endlich weil er ein Royalist war. Denn es that meinem Herzen wohl, Gutes von dem unglücklichen gefangenen König reden zu hören; und fromme Leute, welche über Partei-Angelegenheiten verschiedener Meinung mit uns waren, haben mir stets genützt. Mit solchen geben wir die Parteizwistigkeiten auf und halten uns an das, worin wir übereinstimmen, an jene tiefere Harmonie.

Manches köstliche Stündchen habe ich in Herrn Henry's mitten im Baumgarten am Flusse gelegenem Hause zugebracht, indem ich die Boote und bunten Barken vorüberziehen sah, und die Fischer, die Züge weißer Schwäne und den breiten Fluß beobachtete, der, wie ein zur majestätischen Orgel in Musik gesetztes Gedicht vom menschlichen Leben, vorüberrauschte, während ich dabei mit den jungen Töchtern des Hauses unter heitern Gesprächen emsig die Nadel führte. Doch am liebsten lauschte ich den Erzählungen ihres Vaters von dem König und dem Hofe in vergangenen Tagen; wie die jungen Prinzen mit seinem Sohne Philipp zu spielen pflegten, ihm Geschenke machten und außerordentlich höflich gegen ihn waren; wie der Erzbischof Laud ihm, als er noch ein Kind war, ganz besondere Zuneigung bewies, weil er überaus dienstfertig an der Schleuse wartete (die der Obhut seines Vaters übergeben war), um den Erzbischof durchzulassen, wenn er spät aus der Rathsversammlung kam und nach Lambeth übersetzen wollte, und wie später Philipp als Jüngling den abgesetzten Erzbischof im Tower besuchte und »neues Geld« von ihm zum Geschenk erhielt.

Es war seltsam darüber nachzudenken, wie der große Strom der Zeit diese ganze stolze Gesellschaft – König, Hofstaat, Erzbischöfe, Räthe – mit fortgerissen hatte, gleich der schwimmenden Pracht heiterer Barken unter den Fenstern, oder gleich den Masken oder Puppenspielen, woran sie, wie mir Herr Henry erzählte, solches Vergnügen gefunden hatten. Auch war es wohlthuend, solche Züge einfacher Güte, wie der, daß er sich der Freude des Kindes an neuem glänzendem Gelde erinnerte, in das düstere Bild verwoben zu sehen, das wir Puritaner uns von dem Verfolger unserer Brüder machten. Es ist für die Verfolgten sehr wohlthätig, durch irgend einen rein menschlichen Zug daran erinnert zu werden, daß ihre Verfolger menschlich sind; es ist gut für sie, so lange sie Verfolgung leiden; aber von unschätzbarem Werthe vollends, wenn je an sie die Reihe kommt, zu herrschen und zu richten.

Zuweilen kam überdies der Sohn, Herr Philipp, von der Christkirche in Oxford, wo er studirte, nach Hause, und seine Unterhaltung war für einen so jungen Mann wunderbar fromm und angenehm. Noch erinnere ich mich eines seiner Worte, das mir ganz besonders tröstlich war. Er tadelte diejenigen, welche so großen Werth darauf legten, daß Jedes genau wissen sollte, wann es bekehrt worden sei. »Wer kann sogleich den Anbruch des Tages bemerken,« sagte er, »oder das Aufgehen des ausgestreuten Samens? Der Blinde im Evangelium ist unser Vorbild. Wann und wie er das Gesicht, erlangt wußte er nicht; Eins aber, sprach er, weiß ich wohl, daß ich blind war, und bin nun sehend.« Diese Worte sind mir oft zu meinem Troste wieder eingefallen, indem sie mich ermunterten, statt auf mein vergangenes Leben zurückzublicken, oder in mein eigenes Herz um dort nach Zeichen der Gnade zu forschen, empor zu schauen in das gnadenvolle Antlitz meines Herrn; denn indem ich Ihn erblicke, fühle ich mich erleichtert, sei es nun zum ersten oder zum tausendsten Male.

Mittlerweile rauschte der große Strom der Zeit unaufhaltsam dahin und trug auf seinen Wogen königliche Flotten und kleine Nachen, wie den meinigen, nach dem Ocean.

Im Juli erklärte sich die Flotte plötzlich für den König, setzte den Admiral des Parlaments an's Land, fuhr über den Kanal und nahm den Prinzen von Wales, den sie zu ihrem Befehlshaber ausrief, an Bord.

Bei dieser Nachricht schlug mein Herz nicht minder freudig und hoffnungsvoll als das der eifrigsten Royalisten. Der Prinz von Wales mit einer Flotte in den Dünen. Und sein königlicher Vater gefangen in Carisbrook ganz nahe bei der Küste! Was konnte seine Befreiung hindern? Aber kein Versuch wurde unternommen, ihn zu retten. Wochen vergingen, – die Gelegenheit war verscherzt, die Flotte wurde für das Parlament wieder gewonnen, und der König blieb zu Carisbrook. Ich habe nie gehört, warum der Prinz diese günstige Gelegenheit versäumte, den König zu retten. Mir that es im Herzen weh, wenn ich daran dachte, wie der gefangene Fürst mehrere Wochen hindurch auf seine Befreiung harrte (denn er hatte seinen Sohn bitten lassen, den Versuch zu wagen), – wie er vergebens auf den Knall befreundeter Geschütze, auf das Erscheinen einer Schaar ergebener Seeleute wartete.

Denn sein Verderben schlich indessen immer näher und näher heran.

Pembroke und Chepstow wurden wieder erobert. General Cromwell schrieb aus Nottingham um Schuhe für seine »armen, ermüdeten Soldaten,« welche in Eilmärschen nach dem Norden hundertundfünfzig Meilen durch das wilde Wales zurückgelegt hatten. Im August kam die Nachricht von der gänzlichen Niederlage der schottischen Armee bei Preston.

Eben hatte ich dies aus einem Briefe meines Gatten erfahren und saß allein in meinem Zimmer, in meinen Gedanken hin und her geworfen, wie dies während jener angstvollen Monate häufig bei mir der Fall war, da ich nie wußte, ob ich mich über eine Nachricht freuen oder betrüben sollte, weil jeder Sieg der Armee den schrecklichen Vorsatz, den König zur Verantwortung zu ziehen, um einen Schritt näher brachte. In der Absicht mich etwas zu beruhigen, stand ich auf um zu Herrn Henry zu gehen, als ein kleines Geräusch an der Thüre meine Aufmerksamkeit erregte, und eine Minute darauf schloß mich Tante Gretchen in ihre Arme; ich schluchzte vor Freude über ihre Ankunft.

»Ruhig, mein Herzchen, ruhig!« sagte sie. »Das ist das Schlimmste bei Überraschungen. Ich wollte Dir die Erwartung ersparen und so wenig als möglich Unruhe verursachen.«

»Ich hatte mich so sehr nach Dir gesehnt,« sagte ich. »Nicht Deine Ankunft ist's, was mich so bewegt hat, sondern die Ueberwindung, die es mich kostete, Dich zu entbehren.«

In einer halben Stunde hatte sie ihr kleines Bündel ausgepackt, und sich mit allen ihren Sachen im Gastzimmer so ruhig und ordentlich eingerichtet, als ob sie nie einen andern Platz gehabt hätten. Mit ihr zog eine unaussprechliche Ruhe ein; sie machte mir das einsame Haus erst wieder recht heimathlich. Und vierzehn Tage später freuten wir uns mit einander über mein erstes Kind, unsere kleine Magdalene, über diesen Quell der Wonne, der in der Wüste jener trüben Zeiten sich uns eröffnet hatte.

Im September kehrte auch mein Gatte zu mir zurück.

Die Schlacht bei Preston war die letzte in jenem Feldzuge, die diesen Namen verdiente. Die schottische Royalistenarmee war aufgelöst, und General Cromwell wurde in Edinburg sowie von den Covenantern überall als der Retter des Vaterlandes begrüßt.

Den ganzen September hindurch unterhandelte der König zu Newport mit den Abgesandten des Parlaments. Alle bezeugten sein Rednertalent. Sein Haar war ergraut, sein Gesicht von Sorgen tief gefurcht; aber seine Haltung zeigte noch die alte Majestät, wie man sagte, und selbst diejenigen, welche ihn früher gekannt hatten, wunderten sich über seine Gelehrsamkeit und seinen Witz.

Allein leider waren es nur leere Worte! Der König schrieb an seine Freunde und entschuldigte sich wegen seiner Zugeständnisse mit der Versicherung, daß er sie nur gemacht habe, um seine Flucht zu erleichtern.

Ja noch mehr; alle Personen in diesem Drama, mochten sie es nun aufrichtig meinen oder nicht, sanken rasch zu bloßen Schauspielern in einem Puppenspiel herab. Die entscheidenden Berathungen waren schon gehalten, das Werk war vollbracht, das Urtheil zum Voraus an einem andern Orte gefällt worden.

Gegen die Mitte Novembers kehrte die Armee siegreich aus Wales und Schottland nach St. Albans zurück und verlangte, eingedenk der Gebetsversammlung zu Windsor, Gerechtigkeit gegen den Hauptdelinquenten.

Am 29. November wurde der König von Carisbrook nach Hurst-Castle gebracht, einer traurigen am Ende einer Landzunge gelegenen Veste, der Insel Wight gegenüber, deren Mauern vom Meer bespült wurden.

Am 2. Dezember wurde die Stille, welche sonst um das Haus des Herrn Henry und in dem königlichen Baumgarten herrschte, plötzlich unterbrochen, indem eine Abtheilung der Parlamentsarmee nach Whitehall kam und mit schweren, bewaffneten Schritten das Gras zertrat, welches in dem verlassenen Palasthofe gewachsen war.

Den folgenden Sonntag wurde an vielen Orten auf eine Weise gepredigt, die nicht sehr geeignet war, den Sturm zu besänftigen. In den Kirchen eiferten die presbyterianischen Prediger heftig gegen die Abscheulichkeit und Gottlosigkeit, sich der Person des Königs zu bemächtigen; während Independenten-Soldaten in den Parks darüber predigten, daß vor dem Gesetze Gottes alle Menschen gleich seien. »Siehe, ich will ein solches Unglück über Tophet gehen lassen, daß wer es hören wird, ihm die Ohren klingen sollen,« nahm einer derselben zu seinem Text. »Für den König ist es bereitet.« Ein merkwürdiges Beispiel, sagte mein Gatte, wie dieses Aufschlagen und Lesen der heiligen Schrift auf's Gerathewohl zu einer Spruchlotterie wird, die man wie ein Zaubermittel zum Beschwören gebraucht.

Im Parlament erhob sich mein alter Held, Herr Prynne, mit seinen verstümmelten Ohren und seiner mit Brandmalen bezeichneten Stirne und sprach mit großer Kühnheit für den König. Nie hatte ich seinen Muth mehr bewundert.

Am 5. Dezember wurde ein neuer Einfall in das Parlamentshaus gemacht, wobei Oberst Pride und seine Soldaten alle presbyterianischen und royalistischen Mitglieder von den Thüren vertrieben. »Pride's Säuberung.«

Es war eine traurige Verwirrung. Sollte dieselbe despotische Handlung, welche zuerst die Nation zum Bürgerkriege gereizt hatte, jetzt im Namen der Freiheit zum Verderben des Königs sich wiederholen?

Wofür kämpfen wir? fragte ich mich. Das Schlachtgeschrei sowohl als die Stellung der Heere hatte sich so seltsam verändert. Für den König und das Parlament? Aber der König war im Gefängniß, das Parlament auf fünfzig Glieder reduzirt. – Für die Nation? Die halbe Nation war in Aufruhr. – Für die Freiheit? Keine Partei wollte sie der andern gewähren.

Roger und die Eisenseiten allein schienen über die Antwort im Klaren. »Wir fechten nicht unter sechshundert Parlamentsgliedern, noch unter fünfzig, sondern unter Einem Anführer und Richter, den Gott uns erweckt hat: unter General Cromwell,« sagte er. »Und er kämpft für das Vaterland, um es zu retten, es frei und gerecht und herrlich zu machen, trotz dessen Widerstande. Wenn er dies vollbracht hat, wird man es schon anerkennen. Bis dahin muß er es sich schon gefallen lassen, falsch beurtheilt zu werden; und wir müssen uns drein ergeben, daß es ihm geht, wie es nur zu häufig den Helden und fast immer den Heiligen ergangen, bis sie ihr Werk und vielleicht ihr Leben vollendet haben.«

 

Ich brachte einen großen Theil jener Dezembernächte schlaflos zu. Meine kleine Magdalene war oft unruhig, und ich pflegte dem Rauschen des Flusses in der Stille der schlummernden Stadt zu lauschen, des Königs zu gedenken in seinem traurigen Gefängnisse, dessen Mauern die Meereswogen bespülten, für ihn und für General Cromwell und Alle zu beten und Gott dafür zu danken, daß es mein Loos war, mich zu unterwerfen, anstatt in diesen schrecklichen Zeiten zu entscheiden.

Jedoch ein noch tieferer Kummer für uns Alle rückte allmälig immer näher heran. Am 10. Dezember kam ein flehender Brief von Lätitia, worin sie schrieb, daß ihre Mutter in der letzten Woche sehr schwach geworden sei und daß sie Beide sehr nach Dr. Antonius verlangten, und ihre Mutter sogar noch mehr nach mir und dem Kinde.

Schon den folgenden Tag machten wir uns auf den Weg nach Netherby, Tante Gretchen, mein Gatte, das Kind und ich.

Spät am Abend des zweiten Tages erreichten wir das liebe alte Haus.

Lautlose Stille empfing uns, welche mich wie ein kalter Schauer durchrieselte. Lady Lucia war, – was in letzter Zeit bei ihr selten vorkam – in ruhigen Schlaf gesunken; das ganze Haus verhielt sich ruhig, um sie nicht zu stören.

Der gedämpfte Ton, welcher in einem Hause herrschend wird, wo eine lange Krankheit eingekehrt, wo Alles mit Rücksicht auf einen Leidenden angeordnet ist, fiel uns schwer auf's Herz, die wir, aus der frischen Winterluft kommend, gewohnt waren mit unsern Stimmen gegen die Winde anzukämpfen und uns so lebhaft auf das Wiedersehen unserer Lieben gefreut hatten. Es war wie wenn wir zu einer traurigen Feierlichkeit in die lautlose Stille einer Kirche geführt worden wären; so leise traten wir auf und flüsterten unter einander, bis ein ungedämpftes Weinen von dem einzigen Wesen, das den Wechsel nicht begreifen konnte, – von dem aus seinem Schlummer erwachenden Kinde – den traurigen Bann des Schweigens brach.

Lady Lucia vernahm das Geschrei der Kleinen und ließ uns bitten, noch am Abend alle zu ihr hinauf zu kommen.

Ihr Zimmer war das einzige im ganzen Hause, wo diese ängstliche Stille nicht das Herz beklemmte. Sie sprach wie gewöhnlich, nur war ihre stets so sanfte Stimme aus Schwäche noch leiser. Für Jedes von uns hatte sie ein heiteres Wort des Willkommens, und während sie dankbar den Rath meines Gatten annahm, erklärte sie, die Kleine werde ihr Hauptarzt sein. Schon die Berührung ihrer zarten Fingerchen und ihr sanftes Girren und Krähen habe eine heilende Kraft, sagte sie.

Sie sah weniger verändert aus, als ich es erwartet hatte. Allein mein Gemahl schüttelte mit dem Kopfe und wollte wenig Hoffnung geben. Ich fand Lätitia veränderter als ihre Mutter. Ihre Augen hatten einen so tiefen, festen, wachsamen Ausdruck, ganz verschieden von ihrem gewohnten wechselnden Glanze. Sie sprach in jener Nacht nichts mehr mit mir außer ein Paar Worten des Willkommens. Aber den folgenden Morgen sobald wir einen Augenblick allein waren, ergriff sie meine Hände, drückte sie an ihr Herz und flüsterte:

»Sage mir, Olivia, – ich konnte mich nicht entschließen Jemand anders zu fragen; aber ich muß es wissen – was verstehen die Leute unter den Bittschriften der Armee um Gerechtigkeit an dem König

Ich war so betroffen durch diese plötzliche Frage, daß ich ihr nicht in die Augen zu sehen vermochte und nicht wußte, was ich sagen sollte. Ich stotterte etwas davon, daß man in letzter Zeit so viel von Bittschriften, Beschwerden und Erklärungen gehört habe, die auf ein bloses Gerede hinausgelaufen seien.

»Wohl wahr,« sagte sie, »aber das Heer ist nicht wie eine der andern Parteien im Staat. Bei ihm ist eine Sache nicht mit dem Gerede zu Ende. Die Armee weiß, was sie will, und sie meint, was sie sagt, und thut, was sie meint. Was versteht sie unter den Bittschriften gegen den Hauptdelinquenten?«

»Viele glauben, daß der König selbst, nicht bloß seine Räthe, alles Unheil angefangen habe, Lätitia,« sagte ich.

»Ich weiß es,« versetzte sie. »Aber sie haben genug nach dem Recht mit dem König verfahren, sollt' ich meinen, um Jeden zufrieden zu stellen. Sie haben ihn aller Macht beraubt, ihn von der Königin, von seinen Kindern und Allen, die ihm ergeben sind, getrennt und hinter Eisengittern eingeschlossen. Und nun verlangt man noch ›Gerechtigkeit.‹ Was kann ihm denn noch Härteres zugefügt werden, Olivia? Was soll er denn noch mehr erdulden? Was bleibt dem König denn noch übrig als das Leben?«

Ich vermochte ihr nicht zu antworten.

»An dieses Hand anzulegen, Olivia,« fuhr sie fort, mir fest in die Augen schauend, so daß es mir unmöglich war, ihrem gespannten Blicke auszuweichen, »an dieses Hand anzulegen, wäre ein Verbrechen, das schrecklichste Verbrechen. Es wäre Königsmord, Vatermord!«

»Allein wie könnte es je geschehen, Olivia?« fuhr sie fort. »Schon öfter sind Könige ermordet worden, ich weiß es wohl. Aber daß ein König vor Gericht gezogen (wie man es nennt) werden sollte, gleich einem gemeinen Verbrecher, das ist, so lange die Welt steht, unerhört. Es kann nicht sein, Olivia«, setzte sie mit bebender Stimme hinzu. »Ich habe gehört, der König befürchte heimlich ermordet zu werden. Was meinst Du? Sollten seine Feinde sich zu dieser Unthat erniedrigen?«

»Niemals, Lätitia,« versetzte ich; »niemals!« Und bei diesen Worten vermochte ich es, ihr frei und furchtlos in's Auge zu blicken.

Ihre Züge erheiterten sich.

»Nein, niemals; ich glaube es auch nicht. Dann ist aber nur wenig zu befürchten. Denn es gibt kein Tribunal, das den König richten könnte. Er kann vor keine Schranken gefordert werden, als vor den Richterstuhl Gottes. Noch nie ist ein König, Angesichts seines eigenen Volkes und aller Nationen, bedachtsam und feierlich verurtheilt und hingerichtet worden; noch nie, seit die Welt steht. Und es könnte auch nicht sein. Du bist gewiß, daß er vor Ermordung sicher ist? Sei aufrichtig gegen mich, Olivia. Es gibt unter allen Parteien schlechte Menschen. Bist Du gewiß?«

»So gewiß als meines eigenen Lebens,« sagte ich; »ich bin so fest davon überzeugt, wie von dem Wort meines Vaters oder Rogers.«

»Dann ist kein Grund zu Befürchtungen vorhanden,« sagte sie. »Ich will diese schreckliche Angst verscheuchen. Ach, Olivia!« rief sie, in Thränen ausbrechend, »Du hast mir neues Leben gegeben. Weißt Du, daß ich in den letzten Tagen, seit ich von diesen Bittschriften hörte, fast gebetet hätte, Gott möchte, wenn ein solches schauderhaftes Verbrechen, ein solcher Fluch über England schweben sollte, meine Mutter vorher zu sich nehmen, damit sie es dort zuerst erführe, wo uns Alles klar sein wird? Aber Du hast mich getröstet, Olivia! Ich brauche nicht so zu bitten. Was ich so sehr befürchtete, kann nicht geschehen.«

Ich machte mir fast den Vorwurf der Falschheit, indem ich ihr diesen Trost ließ. Allein wenn die Besorgnisse meines Gatten um Lady Lucia gegründet waren, so bedurfte es dieses Gebetes nicht. Und ich durfte es sicher der Zeit überlassen, Schrecken, welche noch abgewendet werden konnten, zu entschleiern.


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