Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXV

Eines Tages, es war schon Ende Mai, glaubte Tarabas, daß es an der Zeit sei, heimzugehn und Vater, Mutter und die Schwester wiederzusehn. Er war oft auf seinen Wanderungen in die Nähe seines Dorfes gekommen, aber er hatte es in großen Bogen umgangen. Noch war er nicht gerüstet genug; denn man muß gerüstet sein, um die Heimat wiederzusehn. Von der ganzen Welt war Tarabas getrennt. Aber Angst hatte er noch, die Heimat zu besuchen. Den Vater liebte er nicht. Er hatte niemals seinen Vater geliebt. Er erinnerte sich nicht, daß ihn sein Vater jemals geküßt oder geschlagen hatte. Denn der alte Tarabas geriet selten in Zorn; und ebensoselten in gute Laune. Wie ein fremder König schaltete er in seinem Hause, mit der Frau und mit den Kindern. Ein prunkloses, einfaches, stählernes Zeremoniell regelte seine Tage, seine Abende, seine Mahlzeiten, sein Betragen und das der Mutter und der Kinder. Es war, als wäre er niemals selbst ein junger Mensch gewesen. Es war, als wäre er mit seinem fertigen Zeremoniell, einem vollendeten Stunden- und Lebensplan auf die Welt gekommen, nach besonderen Gesetzen gezeugt und geboren, nach regelmäßigen, naturwidrigen Vorschriften gewachsen und groß geworden. Höchstwahrscheinlich hatte er niemals eine Leidenschaft erlebt, ganz gewiß niemals Not gekannt. Sein Vater war früh umgekommen, »bei einem Unfall« hieß es immer; man wußte nicht, was für einer Art Unfall. Als Knabe hatte sich der junge Tarabas ausgedacht, daß sein Großvater auf der Jagd, im Kampf mit Wölfen oder Bären, gestorben war. Ein paar Jahre lebte noch die Großmutter im Hause ihres Sohnes, in dem Zimmer, das nach ihrem Tode die kleine Schwester bezog. Die Schwester – sie war damals zehn Jahre alt – fürchtete sich vor der Wiederkehr der toten Großmutter. Zu ihren Lebzeiten noch war sie wie ein majestätisches Gespenst durch das Haus gewandelt, groß und stark, mit einer breiten, gestärkten, schneeweißen Haube auf dem Kopf, den mächtigen Körper in feierlicher schwarzer und steifer Seide, einer Art steinerner Seide, einen violetten Rosenkranz in den weißen, fleischigen, weichen Händen. Ohne sichtbaren Grund und scheinbar nur zu dem Zweck, um zu zeigen, daß ihre lautlose Majestät immer noch lebendig sei, ging sie jeden Tag über die Treppe in die Küche, nahm mit wortlosem Nicken die Knickse der Diener und der Köchin entgegen, wallte quer über den Hof, dem Stalle zu, gewährte dem Knecht einen kalten Blick aus ihren großen, braunen, hervorquellenden und immer feuchten Augen und kehrte wieder um. Bei den Mahlzeiten thronte sie am Kopf des Tisches. Vater, Mutter und die Kinder traten an sie heran und küßten ihr die weiche, muskellose, teigige Hand, bevor man die Suppe auftrug. Man sprach in der Anwesenheit der Großmutter kein Wort. Man hörte nur das Schlürfen der Suppe, das sachte Klirren der Löffel. Nach der Suppe, wenn das Fleisch kam, verließ die Alte den Tisch. Sie ging schlafen. Man wußte nicht, ob sie wirklich schlief. Am Abend erschien sie wieder, um nach einer Viertelstunde zu verschwinden. Obwohl sie kein Wort sprach, sich in keine Angelegenheit des Hauses und des Hofes mischte und so selten sichtbar wurde, war ihre Anwesenheit allen – ihren Sohn vielleicht ausgenommen – eine stumme, unerträgliche Last. Die Angestellten haßten sie und nannten sie »die Schattenkönigin«. Ihre ewig feuchten Augen schillerten bös, und ihr wortloser Hochmut weckte in den Leuten einen ebenso stummen, rachedurstigen Haß. Man hätte die Schattenkönigin gerne auf irgendeine Weise umgebracht. Auch die Kinder, Nikolaus und seine Schwester, haßten die stumme, wie von schalldämpfenden Stoffen umgebene, böse Majestät der Großmutter. Als sie eines Tages plötzlich starb, ebenso lautlos, wie sie gelebt hatte, atmeten alle im Hause auf – und nur für eine Weile. Der Vater Tarabas übernahm das Erbe seiner Mutter: ihre tödliche, eisige Majestät. Von nun an saß der Vater am Kopfende des Tisches. Von nun an küßten die Kinder ihm die Hand vor Beginn der Mahlzeit. Er unterschied sich nur dadurch von seiner Mutter, daß er nach der Suppe ausharrte, mit kaltem Appetit auch das Fleisch und die Nachspeise aß und sich dann erst schlafen legte. Hatte er früher, als die Mutter noch lebte, hie und da, und natürlich während ihrer Abwesenheit, ein Wort gesagt, manchmal sogar einen Scherz gemacht, so schien er jetzt, nach dem Tode der Alten, deren ganze gewichtige Düsterkeit auszuströmen. Und auch ihn nannte man, nach seiner Mutter, den »Schattenkönig«.

Seine Frau gehorchte ihm ohne Widerspruch. Sie weinte oft. In ihren Tränen verströmte sie den ganzen geringen Vorrat an Kraft, den ihr die Natur mitgegeben hatte. Sie war mager und blaß. Mit ihrem spitzen Gesicht, dem abfallenden Kinn, den rotumrandeten Augen, der ewigen blauen Schürze, die ihr ganzes Kleid bedeckte, glich sie einer Magd, einer Art privilegierter Köchin oder Haushälterin. Sie hielt sich auch den größten Teil des Tages in der Küche auf. Ihre harten, trockenen Hände, mit denen sie manchmal scheu und beinahe furchtsam, als täte sie etwas Verbotenes, ihre Kinder streichelte, rochen nach Zwiebeln. Streckte sie die Hand nur nach den Kindern aus, so rannen zugleich ihre Tränen unaufhaltsam; es war, als weinte sie schon über die Zärtlichkeit, die sie ihren Kindern angedeihen ließ. Tarabas und seine Schwester begannen, der Mutter auszuweichen. Jede Annäherung an ihre Mutter war unweigerlich mit Zwiebeln und Tränen verwandt. Sie ängstigten sich.

Dennoch war es die Heimat. Stärker noch als die düstere Majestät des Vaters und die weinerliche Ohnmacht der Mutter waren der silberne Zauber der Birken, das dunkle Geheimnis des Tannenwaldes, der süßliche Duft bratender Kartoffeln im Herbst, das jubelnde Geschmetter der Lerchen im Blau, der eintönige Gesang des Windes, der fröhliche, helle Wolkenzug im April, die düsteren Märchen der Mägde am Winterabend in der Stube, das Knistern des frisch verbrennenden Holzes im Ofen, der harzige, fette Geruch, den es im Brennen verströmte, und das gespenstische Licht, das der Schnee vor den Fenstern in die noch nicht erleuchteten Zimmer warf. All dies war die Heimat. Der unerreichbar fremde Vater und die arme, unbedeutende Mutter erhielten noch etwas von der Kraft dieser Empfindungen, und Tarabas gab ihnen einen Teil der Zärtlichkeit, die er für die Natur der Heimat fühlte. Seine Erinnerungen an die Kraft und an die Süße seiner Erde umhüllten die ganze Fremdheit der Eltern mit einem versöhnlichen Schleier.

Ach, er hatte Angst, die Heimat wiederzusehn! Er war noch zu schwach gewesen. Man konnte sich von der Macht, vom Krieg, von der Uniform trennen, von den Erinnerungen an Maria, von den Lüsten, die im Schoß der Frauen auf einen Mann wie Tarabas warteten: nicht aber von den heimatlichen, silbernen Birken. War der Alte, den Tarabas auf zwei Krücken gesehen hatte, schon dem Tode nah? – Lebte die Mutter noch? – Er wußte nicht, daß nicht der Anblick des humpelnden Vaters sein Heimweh geweckt hatte, sondern jenes plötzliche Gewieher des Pferdes, des silbernen, braungefleckten. Ein Ruf der ganzen Heimat war es gewesen.

Am nächsten Morgen, es regnete sanft und wehmütig, ein guter, linder Regen im Frühling, schlug Tarabas den Weg nach Koryla ein. Gegen zehn Uhr vormittags erreichte er den Anfang der Birkenallee, die zu seinem väterlichen Hause führte. Ja, die Mulden auf diesem Wege waren noch die gleichen, und genau wie vor Jahren hatte man sie mit Schotter ausgefüllt. Jede einzelne Birke kannte Tarabas. Hätten die Birken Namen gehabt, er hätte jede einzelne rufen können. Zu beiden Seiten dehnten sich die Wiesen. Auch sie gehörten dem Herrn von Koryla. Man ließ die Wiesen seit undenklichen Zeiten Wiesen bleiben, man bewies dadurch, daß man reich genug war und noch mehr fruchtbare Erde nicht brauchte. Gewiß waren die brandtragenden Stiefel des Krieges auch über diese Erde gestampft; aber die Erde des Geschlechtes Tarabas erzeugte in unermüdlicher Frische neue Saat, neues Kraut, neues Gras, sie besaß eine üppige, leichtsinnige Fruchtbarkeit, sie überlebte den Krieg, sie war stärker als der Tod. Auch Nikolaus Tarabas, noch der letzte Sproß dieser Erde, dem sie nicht mehr gehörte, war stolz auf sie, die Triumphierende. Er mußte besondere Vorsicht üben. Er wußte, daß rückwärts, im Hof, die Hunde zu bellen begannen, sobald ein Fremder die sechste Birke, vom Tor des Hauses an gerechnet, überschritten hatte. Er bemühte sich, leise aufzutreten. Er konnte nicht mehr den Umweg machen, über den weidenbestandenen Weg, zwischen den Sümpfen, um in den Hof zu gelangen, die weinlaubüberwachsene Wand hinaufzuklettern! Er schlurfte leise die flachen sechs Stufen hinauf, die zu dem rostbraunen Tor des weißgestrichenen, breiten Hauses hinanführten. Er klopfte, wie es einem Bettler geziemt, zaghaft mit dem Klöppel, der an einem rostigen Draht hing, an das Tor. Er wartete.

Er wartete lange. Man öffnete. Es war ein junger Diener, Tarabas hatte ihn niemals gesehn. Sofort sagte er: »Der Herr Tarabas leidet keine Bettler!« »Ich suche Arbeit!« antwortete Tarabas. »Und ich habe großen Hunger!«

Der junge Mensch ließ ihn eintreten. Er führte ihn durch den dunklen Flur – links war die Tür zu Marias Zimmer, rechts erhob sich die Treppe – in den Hof und beschwichtigte die Hunde. Er ließ Tarabas auf einem Holzhaufen niederhocken und versprach, bald wiederzukommen.

Er kam aber nicht. Statt seiner erschien ein Alter, mit weißem Backenbart. »Kabla, Turkas!« rief er den Hunden zu. Sie liefen ihm entgegen.

Es war der alte Andrej. Tarabas hatte ihn sofort erkannt. Andrej war sehr verändert. Er ging vorsichtig schnuppernd einher, mit vorgeneigtem Kopf, mit schlurfenden Schritten. Zuerst schien er Tarabas nicht zu sehn. Er kam dann näher, von den Hunden gefolgt, und streckte immer noch suchend den Kopf vor. Endlich erblickte er Tarabas auf dem Holzhaufen. »Verhalte dich still!« sagte der alte Andrej. »Der Herr könnte kommen. Ich bin gleich wieder hier.«

Er schlurfte davon und kam nach ein paar Minuten wieder, mit einem dampfenden, irdenen Topf und einem hölzernen Löffel. »Iß, iß, mein Lieber«, sagte er. »Fürchte dich nicht! Der Herr schläft. Er schläft jeden Tag eine halbe Stunde. So lange hast du Zeit. Wenn er erwacht, kann es passieren, daß er in den Hof kommt. Er war früher ganz anders!«

Tarabas machte sich ans Essen. Er kratzte, als er fertig war, mit dem hölzernen Löffel noch ein wenig den Boden und die Wände des irdenen Topfes leer. »Still, still«, sagte Andrej, »der Alte könnte dich hören.«

»Ich bin nämlich«, fuhr er fort, »hier für alles verantwortlich. Vierzig Jahre schon und darüber bin ich in diesem Haus. Ich habe noch die Alte gekannt, die Mutter unseres Herrn, und seinen Sohn. Ich habe noch gesehn, wie beide Kinder zur Welt gekommen sind. Dann habe ich den Tod der Alten gesehn.«

»Wo ist der Sohn geblieben?« fragte Tarabas.

»Der ist zuerst infolge einer Verfehlung nach Amerika gegangen. Dann in den Krieg. Und man hat die ganze Zeit auf ihn gewartet. Er ist verschwunden. Es ist nicht lange her, es war im letzten Herbst, da kam der Briefträger mit einem großen, gelben, versiegelten Brief. Es war Mittag. Ich habe damals noch am Tisch bedient. Heute macht es der junge Jurij, der dir das Tor geöffnet hat. Ich sehe also, wie der Herr den Brief nimmt, dem Briefträger einen unterschriebenen Zettel gibt, die Brille muß ich aus dem Schreibzimmer holen. Dann liest der Herr für sich. Dann sagt er, indem er die Brille ablegt: ›Es ist nichts mehr zu hoffen‹ zu seiner Frau. ›Der General Lakubeit schreibt es selber! Da lies!‹ Und er reicht ihr den Brief.

Da erhebt sie sich, wirft Messer und Gabel hin, obwohl ich im Zimmer stehe, und schreit: ›Nichts mehr zu hoffen! Das sagst du mir! Das wagst du mir zu sagen! Du Unmensch!‹ So schreit sie und verläßt das Zimmer. Du mußt wissen, man hat sie immer nur mit verweinten Augen gesehn, und niemals ein Wort von ihr gehört. Auf einmal ist sie es, die ein Geschrei erhebt. Sie geht aus dem Zimmer. Sie fällt an der Schwelle um. Und sie bleibt uns sechs Wochen krank. Wie sie wieder aufstehn kann, ist der Herr, der nichts gesagt hat (aber er hat sich gewiß innerlich gegrämt), auch krank. Wir haben ihn ein paar Wochen im Rollstuhl geschoben, jetzt humpelt er auf zwei Stöcken.«

»Du selbst – was sagst du dazu?« fragte Tarabas.

»Ich selbst – ich erlaube mir gar nicht, etwas zu sagen. Gott will es so! Der Herr hat sein ganzes Vermögen, sagt man, der Kirche vermacht. Der Notar war hier und der Herr Pfarrer! Was sagst du dazu? So ein großes Vermögen der Kirche! Die Herrschaften sind jetzt nur Mieter in ihrem eigenen Hause. Jeden Monat fährt der Herr in die Stadt. Jurij, der ihn einmal begleitet hat, erzählt, daß er auf der Post die Miete bezahlt. Die Zügel kann er noch ganz gut halten. Wenn er einmal oben auf dem Bock sitzt, ist er wie ein Gesunder!«

»Weißt du, wo ich hier austreten kann, lieber Vater?« fragte Nikolaus. Der Alte zeigte nach dem Flur.

Ein unwiderstehlicher, toller Plan erstand in Tarabas. Er beschloß, ihn ohne Zögern auszuführen. Er ging die Treppe schnell hinauf, er nahm vier Stufen auf einmal. Er machte die Tür zu seinem Zimmer auf. Der Fensterladen war geschlossen, ein brauner, kühler Dämmer herrschte im Zimmer. Nichts hatte sich hier verändert. Rechts stand noch der Schrank, links das Bett. Man hatte das Bettzeug entfernt, das Bett enthielt nur die rot-weiß gestreifte Matratze. Es sah aus wie das Skelett von einem Bett, grausig enthäutet. Ein alter, grüner Mantel, Tarabas hatte ihn noch als Junge getragen, hing am Nagel an der Tür. Am Fußende des Bettes stand ein Paar Schnürschuhe.

Diese ergriff Tarabas und steckte einen Stiefel rechts, einen links in die Tasche. Er schloß die Tür, lauschte und ließ sich wie einst mit den Händen längs des Geländers hinuntergleiten. Er öffnete die Tür zum Speisezimmer. Der Vater lag schlafend im Lehnstuhl neben dem Fenster.

Tarabas blieb an der Schwelle stehn. Er konnte sagen, er hätte sich geirrt, wenn ihn jemand erblickte. Eine Weile stand er und betrachtete kalten Herzens die prustenden Backen des Vaters und wie sich der Schnurrbart hob und senkte. Auf den Lehnen des Sessels lagen die Hände des Vaters reglos, abgemagerte Hände, an deren Rücken die groben Adern sichtbar wurden, angeschwellte und zugleich erstarrte mächtige Ströme unter einer dünnen Haut. Einst hatte Tarabas diese Hände geküßt. Sie waren damals noch braun und muskulös, sie hatten einen Geruch von Tabak, Stall, Erde und Wind und waren nicht nur Hände, sondern auch so etwas wie Insignien väterlich-königlicher Macht, eine ganz bestimmte Art von Händen, die nur ein Vater, sein Vater, tragen durfte. Das Fenster stand weit offen. Man roch den süßen Mairegen und den Duft der späten Kastanienkerzen. Die Lippen des Vaters, unsichtbar unter dem dichten Schnurrbart, öffneten und schlossen sich bei jedem Atemzug, ließen merkwürdige, komische, ja skurrile Geräusche laut werden, die der Würde des Schlafs und des Schlafenden zu höhnen schienen, und störten die Andacht, der sich der Sohn hingeben wollte. Er sehnte sich nach der kalten Ehrfurcht und sogar nach der Furcht, die ihm der Vater einst eingeflößt hatte. Aber er empfand eher Mitleid mit der leichten Lächerlichkeit dieses Schlafenden, der so ohnmächtig war und hilflos ausgeliefert seinen schwachen, nach Luft ringenden, pfeifenden Organen, der, weit entfernt, ein mächtiger König zu scheinen, eher aussah wie ein komisches Opfer des Schlafs und der Krankheit. Dennoch fühlte der Sohn einen Augenblick, daß er verpflichtet sei, die kraftlose Hand des Vaters zu küssen. Ja, es schien ihm, einen Augenblick, daß er nur zu diesem Zweck hierhergekommen war. Dieses Gefühl war so stark, daß er der Gefahr nicht mehr achtete, die ihn bedrohte, wenn jemand zufällig die Tür öffnete. Er nahte sich sachte dem Lehnstuhl, kniete vorsichtig nieder und hauchte über dem Handrücken des Vaters einen Kuß hin. Er kehrte sofort um. Mit drei langen, lautlosen Schritten erreichte er die Tür. Behutsam drückte er die Klinke nieder. Er ging durch den Flur. Er trat in den Hof und setzte sich wieder zu Andrej.

»Nun, du hast dich lang in dem feinen Lokal aufgehalten«, scherzte Andrej. »Vor einem Jahr erst haben wir die Klosetts neu herrichten lassen. Man hat sie jetzt auf englisch gemacht. Die verschiedenen Einquartierungen hatten sie übel zugerichtet.«

»Sehr feine Klosetts«, sagte Tarabas. »Schade, daß sie keiner erben wird.«

»Ja, unser Fräulein wird hier wohnen bleiben. Für den Fall, daß sie noch heiratet, heißt es, wird sie noch etwas erben. Aber sie kann ja keinen mehr finden. Weit und breit sind die Männer ausgerottet, die passenden. Schön ist sie leider auch nicht, unser Fräulein. Sie sieht schon beinahe aus wie ihre Mutter, hager, kränklich, verweint. Da war das Fräulein Maria anders. Jetzt ist sie in Deutschland. Sie ist mit so einem Deutschen mitgezogen, man sagt, er hat sie geheiratet, aber ich glaub' es nicht. Sie war auch mit unserem jungen Herrn verlobt gewesen, und man sagt allerhand, man erzählt, er hätte die Hochzeit nicht abwarten können. Und einmal versucht, für immer verflucht, heißt das Sprichwort. Dieses Fräulein Maria hat den Krieg genossen, sagt man. Nun, der deutsche Herr wird es auch gemerkt haben ...«

»Allerhand Dinge gehn auch bei den Reichen vor!« sagte Tarabas.

»Sie sind gar nicht mehr reich«, schwatzte Andrej weiter, »die armen Herren! Im übrigen Rußland hat man ihnen alles genommen und unter das Volk aufgeteilt, Gott bewahre mich davor. Ein Glück, daß ich hier bin. Aber – schau: da kommt unsere Frau.«

Sie trug ein langes, schwarzes Kleid und eine schwarze Spitzenhaube. Sie hielt den zitternden Kopf gesenkt. Tarabas sah nur einen verhuschenden, gelblichen Schimmer ihrer wächsernen Haut und das spitze Profil ihrer Nase. Sie ging mit kleinen, unregelmäßigen Schritten quer über den Hof. Ein Schwarm gackernder Hühner begrüßte sie flatternd und geräuschvoll. »Sie füttert das Geflügel, die Arme!« sagte Andrej.

Tarabas sah ihr zu. Er hörte, wie seine Mutter, die Stimmen der Hühner nachahmend, glucksende, krächzende, krähende, piepsende Töne hervorbrachte. Graugelbliche Haarsträhnen fielen ihr übers Gesicht aus der Haube. Die Mutter selbst bekam etwas von einem glucksenden Huhn. Sie sah äußerst töricht aus, eine schwarzgekleidete, greise Närrin, und es war unzweifelhaft erkennbar, daß das dumme Geflügel tatsächlich ihr einziger Verkehr seit langen Jahren war. Ihr Schoß hat mich geboren, ihre Brüste haben mich gesäugt, ihre Stimme hat mich in Schlaf gesungen, dachte Tarabas. Das ist meine Mutter!

Er stand auf, ging zu ihr hin, trat mitten unter die Hühner, verneigte sich tief und murmelte: »Gnädigste Herrin!« Sie erhob ihr spitzes Kinn. Ihre kleinen, rotgeränderten Augen, über die ein paar gelblichweiße, lockere Haarsträhnen flatterten, hatten keinen Blick für Tarabas. Sie wandte sich um und schrie: »Andrej, Andrej!« mit krächzender Stimme.

In diesem Augenblick öffnete sich oben das Fenster. Der Kopf des alten Tarabas erschien. Er schrie: »Andrej! Wer ist der Lump? Wirf ihn sofort hinaus! Durchsuche zuerst seine Taschen! Wo ist Jurij? Wie oft hab' ich euch gesagt, daß ihr keinen Bettler hereinlaßt! Daß euch der Teufel hole!« Die Stimme des alten Tarabas kippte um, er beugte sich noch mehr über die Brüstung, sein Kopf lief rot an, und er kreischte: »Hinaus mit ihm! Hinaus! Hinaus!« unzählige Male hintereinander.

Andrej faßte Tarabas sachte am Arm und führte ihn an das rückwärtige Tor. »Gott mit dir!« sagte Andrej leise. Dann schloß er laut das schwere Tor. Es kreischte in den Angeln und fiel mit schwerem, endgültigem Schlag ins Schloß. Es zitterte noch ein wenig nach.

Tarabas schlug den Weg unter den Weiden ein, den schmalen Pfad zwischen den Sümpfen.


 << zurück weiter >>