Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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XXI

Der Pfarrer erhob sich. Es war, nach seinen Begriffen, spät am Abend; er schickte sich an, schlafen zu gehn.

»Ich komme in einer persönlichen Sache«, sagte Tarabas, noch an der Tür. Der breite Schirm der tief über dem Tisch hängenden Petroleumlampe verbreitete einen schweren Schatten bis zur unteren Hälfte der vier kahlen Wände. Der schwachsichtige Alte konnte Tarabas nicht sofort erkennen. Er stand ratlos da. Sein altes, hageres Köpfchen ragte noch in den Schatten des Lampenschirms; während das Licht des Rundbrenners seine alte, fettige Soutane mit den zahllosen, stoffüberzogenen und ebenfalls fettigen Knöpfchen noch stärker als am Tage erglänzen ließ. Als er Tarabas erkannte, machte der Alte ein paar trippelnde Schritte der Tür entgegen. »Kommen Sie näher und setzen Sie sich!« sagte er.

Tarabas trat an den Tisch und setzte sich nicht. Es paßte ihm gerade, im tiefen Schatten des Lampenschirms zu stehn. Er sprach vor sich hin, als redete er nicht zum Pfarrer. Er zog aus der Tasche den Bartknäuel, hielt ihn in der Faust und sagte: »Ich habe heute diesen Bart einem armen Juden ausgerissen.« Und, als müßte er genaue Daten angeben und als wäre es ein amtliches Verhör, fügte er hinzu: »Er heißt Schemarjah und ist rothaarig. Ich habe ihn suchen lassen, aber er ist verschwunden. Man sagt, er sei närrisch geworden und in die Wälder der Umgebung geflohen. Ich möchte ihn selber suchen. Was soll ich tun? Ist er durch mich närrisch geworden? Ich wollte, ich hätte ihn lieber getötet. Ja«, fuhr Tarabas fort, mit einer gleichgültigen Stimme, »ich wollte lieber, ich hätte ihn getötet. Ich habe viele Männer totgemacht. Sie haben mich nicht weiter beunruhigt. Ich war ein Soldat.«

Noch nie in seinem langen Leben hatte der Pfarrer von Koropta eine derartige Rede gehört. Er kannte viele Menschen, der Alte, Bauern, Knechte und Mägde. Sechsundsiebzig Jahre war er alt. Und dreißig Jahre schon lebte er in Koropta. Vorher war er in anderen kleinen Städtchen gewesen. Viele Beichtkinder hatte er angehört, alle hatten beinahe die gleichen Sünden gestanden. Einer hatte seinen Vater geschlagen (es war ein ohnmächtiger Greis gewesen) in der Hoffnung, der Vater würde an den Folgen der Schläge sterben. Frauen hatten ihre Männer betrogen. Ein dreizehnjähriger Knabe hatte mit einem sechzehnjährigen Mädchen geschlafen und einen Knaben gezeugt. Den Neugeborenen erwürgte die Mutter. Das waren alle außergewöhnlichen Begebenheiten. Kam der Alte jemals überhaupt dazu, sich Rechenschaft über seine Welt- und Menschenkenntnis abzulegen, so erschienen ihm die obengenannten Fälle als die entsetzlichsten Beispiele einer abgrundtiefen, höllischen Versuchung, die den Menschen ankommen kann. Als er nun Tarabas so reden hörte, war er eher erstaunt als entsetzt. »Setzen Sie sich doch endlich«, sagte der Alte, denn das Stehen hatte ihn ebenso ermüdet wie diese merkwürdige Geschichte. Tarabas setzte sich.

»Also«, begann der Pfarrer, der sich selbst über den Vorgang Rechenschaft geben wollte, »wir wollen versuchen zu wiederholen: Sie haben, Herr Oberst, einem Ihnen unbekannten Juden namens Schemarjah den Bart ausgerissen. Und, was gedenken Sie zu tun? Ich kenne diesen Schemarjah. Ich kenne ihn seit dreißig Jahren. Er hat seinen Sohn verstoßen, der ein Revolutionär war. Es ist ein gefährlich aussehender Mann, aber ein harmloser Narr. Nun, Herr Oberst, was kann ich dabei?«

»Ich komme nicht um einen praktischen Rat zu Ihnen!« sagte Tarabas und senkte den Blick auf das gelbliche, rissige Linoleum, das den Tisch des Pfarrers bedeckte.

»Ich will büßen!«

Sie schwiegen lange.

»Ich will lieber«, sagte der Pfarrer, »so tun, als ob ich Sie nicht gehört hätte, Herr Oberst. Sie können gehn, Herr Oberst, wenn Sie wollen. Ich weiß keinen Rat, Herr Oberst. Wollen Sie einen geistlichen Trost? – Gott möge Ihnen verzeihen! Ich werde für Sie beten. Sie haben einem armen, törichten Juden weh getan! Viele von Ihnen haben es getan, Herr Oberst. Viele werden es noch tun ...«

»Ich bin schlimmer als ein Mörder«, sagte Tarabas. »Ich war es schon jahrelang, aber es ist mir jetzt eben ganz klar geworden. Ich werde büßen. Sehen Sie, ich werde meinen ganzen mörderischen Glanz ablegen und zu büßen versuchen. Ich wollte es Ihnen nur sagen. Als ich hier eintrat, hatte ich noch die letzte, dumme Hoffnung, die sündige Hoffnung, Sie könnten mir vergeben. Ach, wie konnte ich so was denken!«

»Gehen Sie, gehen Sie, Herr Oberst!« sagte der Pfarrer. »Mir scheint, Sie werden Ihren Weg finden. Gehn Sie, mein Sohn!«

 

Noch in dieser Nacht ritt er nach der Hauptstadt. Er kam am frühen Morgen an. Er erkundigte sich nach der Wohnung des Generals Lakubeit und ritt vor dessen Haus. Er band sein Pferd an, setzte sich auf die Schwelle des Hauses und wartete, bis Lakubeit aufgestanden war.

Der Adjutant des Generals, der elegante Leutnant, sah den Obersten Tarabas in das Zimmer des Generals gehn und nach einer Viertelstunde wieder herauskommen. Merkwürdigerweise trug der Oberst ein Päckchen in der Hand, das er sich nicht abnehmen lassen wollte. Den neugierigen Offizieren, die auf den General im Vorzimmer warteten, konnte der Adjutant über die Unterredung des Obersten mit Lakubeit leider gar nichts mitteilen.

Die Offiziere grüßten, als Tarabas hinausging.

Er winkte den Adjutanten heran und sagte: »Mein Pferd steht unten. Ich werde es in ein paar Tagen abholen. Lassen Sie inzwischen darauf achtgeben.«

Tarabas verließ das Haus, stand noch eine Weile vor dem Tor, entschloß sich, die linke Richtung einzuschlagen, und ging die breite Straße entlang, schnurgerade nach dem Westen der Stadt, bis er die Felder erreichte. Er ließ sich am Wegrand nieder, entfaltete sein Bündel, legte die Uniform ab, zog die Zivilkleider Kristianpollers an, suchte noch in den Taschen seiner Uniform, entnahm ihnen nur ein Messer und den Bart Schemarjahs, steckte beides in die Rocktasche, faltete die Uniformstücke sorgfältig, warf noch einen letzten Blick auf sie und begann darauf, die gerade Straße entlangzuwandern, die weit, weit in den blassen, fernen Horizont zu münden schien.


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