Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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IV

Angesichts des gewaltigen Hafens von New York, der großen, bräutlich-weißen Schiffe, vor dem ewigen Anschlag eintöniger, dunkelgrüner Wellen an Planke und Stein, dem Gewoge der Träger, der Matrosen, der Beamten, der Zuschauer, der Händler, verlor Nikolaus Tarabas vollends die Erinnerung an den vorhergegangenen Tag. Die Herzen kühner, törichter und leicht berauschter Menschen sind unergründlich; nächtliche Brunnen sind es, in denen die Gedanken, die Gefühle, die Erinnerungen, die Ängste, die Hoffnungen, ja die Reue selbst versinken können und zeitweise auch die Furcht vor Gott. Tief und dunkel, ein wahrer Brunnen, war Nikolaus Tarabas' Herz. In seinen großen, hellen Augen aber leuchtete die Unschuld.

Immerhin: als er das Schiff bestieg, kaufte er alle Zeitungen, die in der letzten Stunde erreichbar waren, um nachzulesen, ob sich nicht doch irgendeine Nachricht von dem Mord eines gewissen Tarabas an einem gewissen Wirt einer bestimmten Bar fände. Es war, als suchte Tarabas nach dem Bericht eines Vorgangs, dessen Zeuge lediglich er gewesen wäre. Wichtiger schien ihm das Schiff, die Kabine, die er bewohnen sollte, schienen ihm die merkwürdigen Passagiere, die es führen mochte, der Krieg und die Heimat, denen er entgegenfuhr. Den heimatlichen Feldern fuhr er entgegen, dem Geschmetter der Lerchen, dem Gewisper der Grillen, dem süßlichen Duft bratender Kartoffeln auf den Äckern, dem silbernen Staketenzaun, ringsum geschlungen um das väterliche Gehöft wie ein geflochtener Ring aus Birkenholz, dem Vater, der Nikolaus früher grausam erschienen war und nach dem er sich jetzt wieder sehnte. In zwei mächtigen, schwarzgrauen Hälften lag der Schnurrbart des Vaters über dem Mund, eine gewaltige Kette aus struppigem Haar, oft im Laufe des Tages gebürstet und gekämmt, natürliches Abzeichen häuslicher Allgewalt. Sanft und blond war Tarabas' Mutter. Liebling des Vaters waren die zwölfjährige Lusia gewesen und die Cousine, Tochter des frühverstorbenen, sehr reichen Onkels Maria. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, oft im Streit mit Nikolaus Tarabas, zanksüchtig und hübsch. Alles lag weit, unsichtbar noch, aber schon fühlbar, hinter den dunkelgrünen Wogenkämmen des Ozeans und weiter, dort, wo er sich dem Himmel entgegenwölbte, um sich mit ihm zu vereinigen.

In den Zeitungen stand nichts von einem Mord an einem Barwirt. Tarabas warf sie, alle auf einmal, ins Meer. Wahrscheinlich war der Wirt nicht gestorben. Eine kleine Schlägerei war es gewesen, nichts mehr. In New York und in aller Welt kamen täglich tausende dergleichen vor. Als Tarabas sah, wie Wind und Wasser die Zeitungen davontrugen, dachte er, nun sei Amerika endgültig erledigt. Eine Weile später fiel ihm Katharina ein. Er war gut zu ihr gewesen, sie hatte ihm die Heimat ersetzt – und ihn nur ein einziges Mal belogen. Glücklich war Tarabas in diesem Augenblick. (Glück allein konnte seine Großmut wecken.) Möge sie sehen, dachte er, was ich für ein Mann bin und was sie an mir verloren hat. Trauern wird sie um mich, vielleicht wird sie auch, wenn es wahr ist, was sie mir erzählt hat, ihren kranken Vater besuchen. Trauern soll sie jedenfalls um mich! Und er ging hin und schrieb ein paar Zeilen an Katharina. Der Krieg riefe ihn. Ausharren möchte Katharina. Treue erwarte er von ihr. Geld schickte er ihr eben. Und er schickte ihr in der Tat fünfzig Rubel, die Hälfte des Reisegeldes, das er von der Botschaft bekommen hatte.

Erleichtert (und auch ein wenig stolz) betrieb er dann weiter den Müßiggang eines Schiffspassagiers, spielte Karten mit Fremden, führte Gespräche ohne Sinn; sah die hübschen Frauen oft mit begierigen Augen an, und kam es mit einer von ihnen zu einer Unterhaltung, vergaß er nicht, zu erwähnen, daß er als russischer Leutnant der Reserve in den Krieg ziehe. Hie und da glaubte er auch in den Augen der Frauen Bewunderung – und Verheißungen – zu lesen. Aber dabei ließ er es bewenden. Die Seereise behagte ihm. Sein Appetit war mächtig, sein Schlaf ausgezeichnet. Cognac und Whisky trank er viel. Auf dem Meere vertrug man sie weitaus besser als zu Lande.

Gebräunt, gekräftigt, neugierig auf die Heimat und begierig auf den Krieg, verließ Tarabas eines Morgens im Hafen von Riga das Schiff.


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