Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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Zweiter Teil: Die Erfüllung

XVI

Nun war Tarabas allein mit dem toten Konzew. Man hatte das Angesicht des Feldwebels gewaschen, die Uniform von den Blut- und Kotspuren gereinigt, die hohen Stiefel gewichst, den mächtigen Schnurrbart gebürstet. Säbel und Pistole lagen neben ihm, zur Rechten und zur Linken, die kräftigen, behaarten Hände mit den großen, rissigen Nägeln waren über dem Bauch gefaltet. Der milde Schimmer des ewigen Friedens schwebte über dem scharfen, soldatischen Angesicht. Das Angesicht des Obersten Tarabas aber zeigte Zerfahrenheit, Unrast und Bitterkeit. Er wünschte sich, weinen zu können, toben zu dürfen. Er konnte nicht weinen, der Oberst Tarabas. Er sah graue Haare an den Schläfen des Feldwebels und fuhr mit der Hand über die Schläfen und zog sie sofort zurück, erschrocken über seine eigene Zärtlichkeit. Er dachte an die Weissagung der Zigeunerin. Noch kündigte nichts seine Heiligkeit an! Törichte Worte, längst begraben unter dem Gewicht der Schrecknisse, ertrunken im Blut, das man vergossen hatte, versunken wie die Jahre in New York, der Wirt, das Mädchen Katharina, die Cousine Maria, Vater, Mutter und Haus! Tarabas gab sich Mühe, die Bilder, die vor ihm auftauchten, Erinnerungen zu nennen und sie also ihrer Macht zu berauben. Er wollte den Gedanken, die ihn peinigten, jene gewichtlosen Bezeichnungen geben, die sie zu unbedeutenden und ungefährlichen Schatten der Vergangenheit stempeln, die ebensoschnell verfliegen, wie sie auftauchen. Er versuchte, sich in die Verbitterung über den Tod Konzews, seines besten Mannes, zu retten und sein Gelüst nach Rache für diesen Toten noch zu steigern. Er haßte nun diese Juden, diese Bauern und dieses Koropta, dieses Regiment, dieses ganze neue Vaterland, diesen Frieden und diese Revolution, die es geboren und gebildet hatten. Ach, er wollte – wie rasch faßte Tarabas seine Entschlüsse! – Ordnung machen, dann sein Amt niederlegen, dem kleinen General Lakubeit ein paar grobe Wahrheiten sagen und auf und davon gehn! Auf und davon! Wohin aber, gewaltiger Tarabas?! Gab's noch Amerika? Gab es noch das väterliche Heim? Wo war man zu Hause? Gab es noch irgendwo Krieg in der Welt?!

Aus diesen Überlegungen – es waren, wie man sieht, verworrene Ketten von Einfällen – riß Tarabas die Stimme der Ordonnanz, die durch die geschlossene Tür meldete, der Anruf des Generals Lakubeit werde in zwanzig Minuten erfolgen, der Oberst möge zur Post gehen. Tarabas fluchte auf die primitiven und umständlichen postalischen Verhältnisse – auch eine der üblen Folgen neuer und überflüssig gegründeter Staaten.

Er befahl Kerzen, für den Toten eine Ehrenwache und den Priester und ging ins Postamt. Er befahl dem einzigen Beamten, der seinen Dienst verrichtete, das Amt zu verlassen, man habe »Staatsgeschäfte« zu führen. Der Beamte ging hinaus. Es klingelte, und der Oberst Tarabas nahm selbst den Hörer ab. »General Lakubeit!« Tarabas wollte einen kurzen Bericht erstatten. Aber die sanfte, klare Stimme des kleinen Generals, die wie aus dem Jenseits herüberkam, sagte: »Nicht unterbrechen!« Hierauf gab sie in kurzen Sätzen Anweisungen: den Befehl, das Regiment in Bereitschaft zu halten; übermorgen erst könnten Teile des Regiments aus der entfernten Garnison Ladka nach Koropta beordert werden; man müsse mit neuen Unruhen rechnen; alle Bauern der Umgebung sammelten sich, das Wunder zu sehen; man müsse den Ortspfarrer bitten, die Leute zu beruhigen; alle Juden seien in den Häusern zurückzuhalten – »soweit solche noch vorhanden«, sagte der General wörtlich, und der Oberst Tarabas hörte Hohn und Tadel in dieser Bemerkung. »Das ist alles!« schloß der General, und: »Warten Sie!« rief er noch. Tarabas wartete. »Wiederholen Sie kurz!« befahl Lakubeit. Tarabas erstarrte vor Schreck und Wut. Er wiederholte gehorsam. »Schluß!« sagte Lakubeit.

Geschlagen, ohnmächtig und voller Zorn, vernichtet von der schwachen, fernen Stimme eines schwächlichen, alten Mannes, der kein Soldat, sondern »nur ein Advokat« war, verließ der gewaltige Tarabas das Postamt. Fast wunderte er sich über den Gruß des Postbeamten, der vor dem Eingang gewartet hatte. Kräftig von Ansehn, aber in Wirklichkeit schwach und ohne seinen alten Stolz, ging der große Tarabas durch die Trümmer des Städtchens Koropta. Es rauchte und schwelte immer noch zu beiden Seiten der Straße. Und Tarabas nahm sich trotz seiner wirklichen muskulösen und fleischlichen Erscheinung nur wie ein gewaltiges Gespenst aus, zwischen dem Schutt, der Asche, den wahllos vor den Häusern aufgereihten, nutzlos geretteten, verlassenen Gegenständen. Er ging, ohne Soldaten und Offizieren anzusehn, in den Gasthof zurück. Überrascht blieb er in der Gaststube stehn. Hinter dem Schanktisch verneigte sich, als wäre nichts geschehen, der Jude Kristianpoller. Als wäre nichts geschehen, spülte der Knecht Fedja die Gläser.

Beim Anblick des Juden, der so unversehrt und unbekümmert sein gewöhnliches Geschäft fortsetzte, als wäre er plötzlich wieder aus einer Wolke hervorgetreten, die ihn bis jetzt unsichtbar gemacht und geschützt hatte, tauchte auch im Obersten Tarabas der Verdacht auf, daß es Juden gebe, die zaubern können und daß dieser Wirt tatsächlich für die Schändung des Muttergottesbildes verantwortlich sei. Die ganze große Mauer, die unüberwindliche Mauer aus blankem Eis und geschliffenem Haß, aus Mißtrauen und Fremdheit, die heute noch, wie vor Tausenden Jahren, zwischen Christen und Juden steht, als wäre sie von Gott selbst aufgerichtet, erhob sich vor Tarabas' Augen. Sichtbar hinter diesem blanken, durchsichtigen Eis stand nun Kristianpoller, nicht mehr das gefahrlose Subjekt von einem Händler und Gastwirt, nicht mehr nur der nichtswürdige, aber ungefährliche Angehörige einer geringgeschätzten Schicht, sondern eine fremde, unverständliche und geheimnisvolle Persönlichkeit, ausgerüstet mit höllischen Mitteln zum Kampf gegen Menschen, Heilige, Himmel und Gott. Auch aus den unergründlichen Tiefen des Tarabasschen Gemüts stieg, wie gestern aus dem ahnungslos frommen der Bauern und Soldaten, ein blinder und brünstiger Haß gegen den unversehrten, gleichsam gegen den ewig aus allen Gefahren unversehrt hervorgehenden Juden, der diesmal zufällig den Namen Nathan Kristianpoller trug. Ein anderes Mal hieß er anders. Ein drittes Mal würde er wieder einen neuen Namen führen. Oben in Tarabas' Zimmer lag der gute, teure Konzew aufgebahrt, tot, für alle Ewigkeit tot, und für diesen unverletzlichen, teuflichen Kristianpoller gestorben. Ganze hunderttausend Juden hätte Tarabas für einen Stiefel des toten Feldwebels Konzew geopfert! Tarabas antwortete nicht auf den ehrfürchtigen Gruß Kristianpollers. Er setzte sich. Er bestellte nicht einmal Tee oder Schnaps. Er wußte, daß der Wirt ohnehin bald mit den Getränken kommen würde.

Und Kristianpoller kam auch. Er kam mit einem Glas heißem, dampfendem, goldenem Tee. Er wußte, daß Tarabas jetzt nicht in der Laune war, Alkohol zu genießen. Tee besänftigt. Tee klärt die Verworrenen, und Klarheit ist den Vernünftigen nicht gefährlich. Er hat den Tee in der Hölle gekocht, fuhr es durch Tarabas Gehirn. Woher weiß er, wonach mich dürstet? Als ich eintrat, hatte ich beschlossen, einen Tee zu verlangen. – Und da Kristianpoller Tarabas' Wunsch erraten hatte, fühlte sich der Oberst geschmeichelt, seinem eigenen Mißtrauen zum Trotz. Er konnte sich einer gewissen Bewunderung für den Juden nicht erwehren. Er war auch neugierig zu erfahren, auf welche Weise Kristianpoller vermocht hatte, sich zu verbergen und frisch wie gewöhnlich wieder zu erscheinen. Und er begann mit einem Verhör:

»Weißt du, was hier los ist?«

»Jawohl, Euer Hochwohlgeboren!«

»Du bist schuld daran, daß man deine Glaubensgenossen geschlagen und gepeinigt hat; einige meiner Leute sind gefallen; mein lieber Konzew ist gestorben; deinetwegen! Ich werde dich aufhängen, mein Lieber! Du bist ein Aufrührer; ein Kirchenschänder; du sabotierst das neue Vaterland, auf das wir seit Jahrhunderten gewartet haben. Was sagst du dazu?«

»Euer Hochwohlgeboren«, sagte Kristianpoller, und er erhob sich aus seiner gebeugten Stellung und sah dem Fürchterlichen mit seinem einen gesunden Auge gerade ins Gesicht, »ich bin kein Aufrührer; ich habe kein Heiligtum geschändet; ich liebe dieses Land soviel und sowenig wie jeder andere auch. Euer Hochwohlgeboren gestatten mir eine allgemeine Bemerkung?«

»Sprich!« sagte Tarabas.

»Euer Hochwohlgeboren«, sagte Kristianpoller und verneigte sich noch einmal, »ich bin nur ein Jude!«

»Das ist es eben!« sagte Tarabas.

»Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte Kristianpoller, »erlauben mir gnädigst, sagen zu dürfen, daß ich ohne meinen Willen ein Jude geworden bin.«

Tarabas schwieg. Es war nicht mehr der fürchterliche Oberst Tarabas, der da schwieg und zu überlegen begann. Es war der längst totgeglaubte, der junge Tarabas, einst ein Revolutionär, Mitglied einer geheimen Bande, die später den Gouverneur von Cherson umgebracht, der Student Tarabas, der tausend nächtliche Diskussionen angehört hatte, der weiche und leidenschaftliche Tarabas, der rebellische Sohn eines steinernen Vaters, ausgestattet mit der Gabe, zu denken und zu überlegen, aber auch der ewig unfertige Tarabas, dem die Sinne den Kopf verwirrten, der sich den Ereignissen auslieferte, wie sie gerade kamen: dem Totschlag, der Liebe, der Eifersucht, dem Aberglauben, dem Krieg, der Grausamkeit, dem Trunk, der Verzweiflung. Tarabas' Intelligenz wachte noch unter dem Schutt seiner vernichteten, unter dem Getümmel seiner lebendigen Leidenschaften und Räusche. Die Sache, die der Jude Kristianpoller mit seinem unerbittlichen Verstand verteidigte, ging ja den Gewaltigen und seine verworrene Vergangenheit gar nichts an! Dennoch leuchtete sie in die Finsternisse, die Tarabas seit vielen Jahren ausfüllten. Die Antwort Kristianpollers fiel in das Gehirn des Obersten wie ein plötzliches Licht in einen Keller. Für eine Weile erhellte es dessen geheime, verschollene Tiefen und die schattigen Winkel. Und obwohl der Oberst, als er das Verhör begann, bereit gewesen war, die rätselhaften Eigenschaften des unheimlichen Juden zu klären und zu erfahren, mußte er sich jetzt selbst zugestehn, daß die Antwort Kristianpollers wie ein plötzliches Licht daherkam, geeignet, eher die Dämmerungen zu erleuchten, die in seinem eigenen Herzen herrschten, als jene, die den Juden umgeben mochten und sein fremdes Volk.

Eine Weile schwieg Tarabas. Einen Augenblick war ihm, als erkenne er die Nichtswürdigkeit, Sinnlosigkeit und Leere seines geräuschvollen und heroischen Lebens und als hätte er allen Grund, den verachteten Kristianpoller um dessen immer wache Vernunft und gewiß sorgfältig geregeltes Dasein zu beneiden. Diese Einsicht währte kurz. Noch war der gewaltige Tarabas von dem Hochmut erfüllt, der in allen Mächtigen dieser Erde die Vernunft unterjocht und die seltenen Erkenntnisse, deren sie zuweilen teilhaft werden, wie mit einer Wolke aus falschem Gold umhüllt. Der Hochmut war es, der aus Tarabas sprach:

»Die andern Juden, deine Brüder, hast du umkommen lassen. Hättest du dich gemeldet, den andern wäre nichts geschehn! Selbst deine Glaubensgenossen hast du ausgeliefert. Du bist ein erbärmlicher Mensch. Ich werde dich zertreten!«

»Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte Kristianpoller, »man hätte alle anderen geschlagen, wie es geschehn ist, und mich hätte man getötet. Ich habe eine Frau und sieben Kinder. Als Euer Hochwohlgeboren hierherkamen, habe ich sie nach Kyrbitki geschickt. Ich sagte mir, es sei gefährlich. Ein neues Regiment ist uns Juden immer gefährlich. Euer Hochwohlgeboren sind ein edler Herr, ich weiß es bestimmt. Aber ...«

Tarabas blickte auf, und Kristianpoller verstummte. Er hatte fürchterliche Angst vor dem Wörtchen »aber«, das ihm entschlüpft war. Er verneigte sich wieder. Er blieb so, den Rücken tief gebeugt, so daß der Blick des sitzenden Tarabas geradewegs auf das seidene Hauskäppchen des Juden fiel.

»Was: ›aber‹?« fragte Tarabas. »Sag alles!«

»Aber«, wiederholte Kristianpoller und richtete sich wieder auf, »Euer Hochwohlgeboren sind selbst in der Hand Gottes. Er lenkt uns, und wir wissen nichts. Wir verstehen nicht seine Grausamkeit und nicht seine Güte ...«

»Philosophiere nicht, Jude!« schrie Tarabas. »Sag, was du meinst!«

»Nun«, erwiderte Kristianpoller, »Euer Hochwohlgeboren haben gestern zuviel Zeit in der Kaserne verbracht.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Es war Gottes Wille!«

»Du versteckst dich immer wieder hinter Gott!« sagte Tarabas. »Gott ist nicht dein Paravent! Ich werde dich aufhängen lassen. Aber jetzt sage mir, wo du dich verborgen hast? Du mußt dich wieder verstecken! Ich habe den Befehl aus der Hauptstadt, alle Juden verborgen zu halten. Die Bauern ziehen heran, das Wunder in deinem Hof wollen sie sehn. Du wirst der erste sein, den sie abschlachten. Und ich will dich persönlich aufhängen lassen. Daß du mir das Vergnügen nicht verdirbst!«

»Euer Hochwohlgeboren!« sagte Kristianpoller, »ich verberge mich im Keller. Mein Keller hat zwei Stockwerke. Im ersten steht der Schnaps. Im zweiten steht alter Wein. Unter der ersten Treppe liegt eine schwere, steinerne Platte. Sie hat eine Öse. In diese stecke ich einen eisernen Ring. In den Ring einen eisernen Stab. So hebe ich die Platte. Wenn ich im zweiten Stockwerk des Kellers sitze, lasse ich die Spitze der Stange zwischen der Platte und dem Boden. Euer Hochwohlgeboren können mich aus diesem Versteck holen und hinrichten lassen.«

Tarabas schwieg. Der Jude log nicht. Aber selbst die Wahrheit noch aus diesem Munde mußte irgendeine Lüge enthalten. Sogar der Mut, den der Wirt Kristianpoller bewies, mußte lediglich die Maske irgendeiner verborgenen Feigheit sein, einer teuflischen Feigheit. Also sagte Tarabas:

»Ich werde dich holen. Sag mir noch, weshalb du die Kirche in deinem Hof und die Mutter Gottes geschändet hast!«

»Ich hab' es nicht getan!« rief Kristianpoller. »Dieses Haus ist sehr alt. Ich habe es von meinem Urgroßvater geerbt! Ich weiß nicht, wann die Kapelle zu einer Rumpelkammer geworden ist. Ich weiß es nicht. Ich bin unschuldig!«

Es war so viel Inbrunst in diesen Rufen Nathan Kristianpollers, daß sich sogar in Tarabas Vertrauen regte. »Also geh, verbirg dich!« sagte der Oberst. »Ich möchte für mich ein anderes Zimmer, auf meinem Bett liegt der Tote.«

»Es ist besorgt!« erwiderte Kristianpoller. »Euer Hochwohlgeboren haben das Zimmer meines seligen Großvaters. Es ist im zweiten Stock, neben dem Dachboden leider! Ich habe es hergerichtet. Das Bett ist gut. Der Ofen ist geheizt. Fedja wird es Euer Hochwohlgeboren zeigen. Für den seligen Herrn Konzew habe ich ein Dutzend Wachskerzen vorbereitet. Sie liegen im Nachtkästchen, neben dem Bett. Seine Hochwürden, der Herr Pfarrer, ist oben!«

»Rufe ihn!« befahl Tarabas.


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