Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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X

Als die Kunde von der Ankunft des schrecklichen Tarabas und seiner schrecklichen Begleiter in den Gasthof »Zum weißen Adler« gedrungen war, beschloß der Wirt, der Jude Nathan Kristianpoller, unverzüglich seine Wohnung zu räumen und seine Frau sowie seine sieben Kinder zu den Schwiegereltern nach Kyrbitki zu schicken. Einigemal schon hatte die Familie Kristianpollers diese Reise gemacht. Zuerst, als der Krieg ausbrach, hierauf, als ein fremdes Kosakenregiment in das Städtchen Koropta einrückte, später, als die Deutschen einmarschierten und die westlichen Teile Rußlands besetzten. Bei der ersten Fahrt waren es fünf Kinder gewesen, hierauf sechs, zuletzt nicht weniger als sieben, Mädchen und Knaben. Denn unabhängig von den unaufhörlich wechselnden Schrecken des Krieges erteilte die Natur der Familie Kristianpoller ihren gleichen unerbittlichen und freundlichen Segen. Den Gasthof »Zum weißen Adler« – es war der einzige im Städtchen Koropta – hatte der Jude Kristianpoller von seinen Vorfahren geerbt. Seit mehr als hundertfünfzig Jahren besaßen und verwalteten die Kristianpollers diesen Gasthof. Der Erbe Nathan Kristianpoller wußte nichts mehr von den Schicksalen seiner Großväter. Er war in diesem alten Gasthof aufgewachsen, hinter der dicken, verfallenden, von vielen Sprüngen gezeichneten, von wildem Weinlaub bewachsenen Mauer, die ein großes, rotbraun gestrichenes, zweiflügeliges Tor unterbrach und gleichzeitig verband, wie ein Stein einen Ring unterbricht und verbindet. Vor diesem Tor hatten der Großvater und der Vater Nathan Kristianpollers die Bauern erwartet und begrüßt, die Donnerstag und Freitag auf den Markt nach Koropta kamen, ihre Schweine zu verkaufen und Sensen, Sicheln, Hufeisen und bunte Kopftücher in den kleinen Läden der Händler zu erstehen. Bis zu der Stunde, in welcher der große Krieg ausbrach, hatte der Gastwirt Kristianpoller keine Veranlassung gehabt, an eine Veränderung zu denken. Später aber gewöhnte er sich sehr schnell an die verwandelte Welt, und es gelang ihm, wie vielen seiner Brüder, die Gefahren zu umgehen, mit List und mit Hilfe Gottes der Gewalt heimischer und fremder Soldaten die angeborene und eingeübte Schlauheit entgegenzuhalten wie einen Schild und, was das wichtigste war, das nackte Leben zu bewahren, das eigene und das der Familie. Jetzt aber, nach der Ankunft des schrecklichen Tarabas, ergriff den Gastwirt Kristianpoller ein ganz fremder, ihm völlig unbekannter Schrecken. Eine neue Bangnis erfüllte sein Herz, das sich schon mit den heimischen, gewohnten Bangnissen vertraut gemacht hatte. Wer ist dieser Tarabas? fragte das Herz Kristianpollers. Wie ein schimmernder König aus Stahl kommt er nach Koropta. Gefährlich neue und eiserne Nöte bringt er nach Koropta. Andere Zeiten werden anbrechen und, Gott weiß, welche neuen Gesetze! Erbarme Dich unser aller, Herr, und insbesondere Nathan Kristianpollers!

Zwar wohnten schon seit zwei Wochen im Gasthof »Zum weißen Adler« die Offiziere der neuen Armee des jungen Landes mit ihren Burschen. Zwar lärmten sie jede Nacht im großen, weiten Saal der Gaststube unter dem braunen Gebälk der niedrigen, hölzernen Decke und später noch in ihren Zimmern. Kristianpoller aber hatte bald erkannt, daß sie nur aus harmlosem Übermut wüteten und tranken und daß sie eines Meisters und Gebieters harrten, der sie noch unbekannten, gewiß aber gefährlichen Zielen entgegenführen würde. Und gewiß war Tarabas dieser Gebieter. Infolgedessen lud Kristianpoller seine ganze Familie, wie er es schon gewohnt war, in den großen Landauer, der im Schuppen des Gasthofs bereitstand, und schickte alle Teuern nach Kyrbitki. Er selbst blieb. Die zwei geräumigen Zimmer, zu denen eine kaum sichtbare Tür hinter dem Schanktisch führte und in denen er mit den Seinigen gewohnt hatte, verließ er und schlug sich ein Lager aus Stroh auf dem Boden der Küche auf. Im weiten Hof, neben dem Schuppen, befand sich noch ein kleines Gebäude aus gelben Ziegeln, halb verfallen und zu keinen sichtlichen Zwecken erbaut, nur vorläufigen und zufälligen dienlich. Dort lagerte allerlei Hausgerät, leere Fässer, Tröge und Körbe, gespaltenes Holz für den Winter und rundgebündelte Kienspäne, alte, ausgediente Samoware und was sich sonst Nützliches und Nutzloses im Lauf der Zeit angesammelt hatte.

Nicht ohne ein gewisses Schaudern hatte Kristianpoller in seiner ersten Jugend dieses Gebäude betreten. Manche erzählten nämlich, vor undenklichen Zeiten, als noch die ersten christlichen Missionare in dieses hartnäckige heidnische Land gekommen waren, hätten sie an dieser Stelle, just in diesem Hofe, eine Kapelle errichtet. Diese Erzählungen bewahrte der Jude Kristianpoller wohl in seiner Brust, er verriet sie nicht, denn er ahnte, daß sie eine Wahrheit enthielten. Wäre er überzeugt gewesen, daß es Märchen seien, so hätte er sich nicht gehütet, ihrer vielleicht bei passenden Gelegenheiten zu erwähnen, statt seiner Frau oder seinen Kindern Schweigen zu gebieten, wenn eins von ihnen jemals auf die merkwürdige Vergangenheit der Kammer zu sprechen kam. Man möge kein törichtes Märchen wiederholen, pflegte Kristianpoller zu sagen.

Dem Stallknecht Fedja gab er jetzt den Auftrag, die »Kammer« zu reinigen und herzurichten. Er selbst ging in den Keller, wo die kleinen, rundlichen Schnapsfässer lagerten und die größeren Weinfässer, die schon sehr alt waren und glücklicherweise sogar den Krieg und alle wechselnden Invasionen überdauert hatten. Es war ein geräumiges Kellergewölbe, angelegt in zwei Stockwerken, mit steinernen Wänden, steinernem Boden und einer steilen Wendeltreppe. Hatte man deren letzte Stufe erreicht, so trat der Fuß auf eine große Platte, die man mit Hilfe eines großen, eisernen Ringes ein wenig heben und dann mit einem schweren, eisernen Stab hochstemmen konnte. Den Ring hatte Kristianpoller aus der Öse gelöst und verborgen, damit kein Unberufener etwa auf den Gedanken komme, daß ein tieferes Stockwerk des Kellers vorhanden sei. Tief unten befand sich der alte, kostbare Wein. Schnaps und Bier lagen, jedermann erreichbar, in der oberen Abteilung.

Die eiserne Stange wie den Ring holte nun Kristianpoller aus dem Versteck und schleppte sie in seine Schankstube. Er war ein ziemlich kräftiger Mann, wohlgerötet durch den Atem des Alkohols, der ihn seit seinen Kindertagen umwehte, waren sein Gesicht und sein Nacken, und kräftig spannten sich seine Muskeln dank der gewohnten Arbeit an den schweren Fässern und an den Fuhrwerken der bäurischen Gäste. Dem Dienst bei der Armee und also den unmittelbaren Gefahren des Krieges war Kristianpoller nur infolge eines geringen körperlichen Fehlers entgangen: ein zartes, weißes Häutchen verschleierte sein linkes Auge. Auf seinen entblößten Unterarmen, unter den aufgerollten Hemdärmeln wucherten Wälder von dichten, schwarzen Haaren. Der ganze Mann hatte etwas Furchtbares, und sein verschleiertes Auge machte sein braunbärtiges Angesicht zuweilen sogar grimmig. Unerschrocken war er von Natur. Dennoch wohnte jetzt die Angst in seinem Herzen. Allmählich, im Laufe der Vorbereitungen, die er traf, gelang es ihm, sich ein wenig zu beruhigen und die Furcht vor dem unbekannten Tarabas zurückzudrängen. Ja, er machte sich sogar langsam mit der Vorstellung vertraut, daß er der Grausamkeit des fremden, eisernen Mannes zum Opfer fallen könnte. Und sollte es auch ein schreckliches Ende werden, dachte Kristianpoller, so sollte es auch ein mutiges sein. Und er betrachtete die eiserne Stange, die er aus dem Keller geholt hatte und die neben dem Schanktisch lehnte. Sie war ein wenig rostig von der Feuchtigkeit des Kellers. An altes Blut erinnerten ihre braunen Flecke.

Die Mittagsstunde war da, und Kristianpoller begrüßte die Offiziere, die bei ihm wohnten und die jetzt mit sehr viel Geklirr und lauten Rufen in die Gaststube traten. Er haßte sie. Seit nunmehr vier Jahren ertrug er mit lächelndem Angesicht, bald Zorn und bald Schrecken im Herzen, die verschiedenen Uniformen, das Scheppern der verschiedenen Säbel, den dumpfen Aufschlag der Karabiner und Gewehre auf die hölzernen Dielen dieser Gaststube, das Klirren der Sporen und den brutalen Tritt der Stiefel, das knarrende Lederzeug, an dem die Pistolen hingen, und das Klappern der Menageschalen, die gegen die Feldflaschen anschlugen. Der Wirt Kristianpoller hatte gehofft, nachdem der Krieg zu Ende gegangen war, endlich wieder eine andere Art von Gästen sehn zu können, Bauern aus den Dörfern, Händler aus den Städten, scheue, schlaue Juden, die verbotenen Branntwein verkauften. Aber die kriegerische Mode hörte offenbar in dieser Welt nicht mehr auf. Nun erfand man noch neue Monturen und allerneueste Abzeichen. Kristianpoller kannte nicht einmal mehr die Chargen seiner Gäste. Er sagte zur Sicherheit einem jeden Herr Oberst. Und er war entschlossen, Tarabas mit dem Titel »Exzellenz« und »Herr General« zu begrüßen.

Er trat vor den Schanktisch, lächelte und verneigte sich unaufhörlich und wünschte im stillen jedem Gast, ohne Ausnahme, einen qualvollen Tod. Sie fraßen und tranken, aber sie zahlten nicht, seitdem dieses neue Land auferstanden war. Sie erhielten keine Gage und konnten demzufolge auch gar nicht zahlen. Verdächtig erschienen dem Juden Kristianpoller die Finanzen seines neuen Landes. Diese Herren warteten gewiß auf Tarabas, auf das neue Regiment. Sie sprachen unaufhörlich von ihm, und das feine und schlaue Ohr Kristianpollers lauschte fleißig, während er die Gäste bediente. Es schien ihm alsbald, daß sie vor Tarabas beinahe ebensoviel Angst hatten wie er selbst, ja vielleicht fürchteten sie ihn noch mehr. Näheres über Tarabas zu fragen, wagte der Jude nicht. Gewiß hätten sie ihm Auskunft geben können. Alle kannten sie ihn schon.

Auf einmal, während sie noch aßen, wurde die Tür aufgestoßen. Einer von Tarabas' Bewaffneten trat ein, schlug salutierend die Absätze zusammen und blieb an der Tür stehn, eine fürchterliche Bildsäule. Das ist Tarabas' Bote, sagte sich der Wirt. Bald kommt er selber.

In der Tat hörte man einen Augenblick später die klirrenden Schritte von Soldaten. Durch die offene Tür trat der Oberst Tarabas, gefolgt von seinen Getreuen. Die Tür blieb offen. Alle Offiziere sprangen auf. Oberst Tarabas salutierte und gab ihnen ein Zeichen, sich wieder zu setzen. Zum Juden Kristianpoller wandte er sich, der die ganze Zeit gebückt vor seiner Theke stand, und befahl ihm, Essen, Trinken und Lager für zwölf Mann unverzüglich herzurichten. Er selbst werde hier wohnen, sagte Tarabas. Ein geräumiges Zimmer brauche er. Ein Bett vor der Tür für seinen Diener. Zwölf seiner Leute wolle er in der nächsten Umgebung wissen. Pünktlichkeit, Sauberkeit und Gehorsam verlange er auch vom Wirt und dessen Personal, falls solches vorhanden. Und er schloß mit dem Satz: »Wiederhole, Jude, was ich eben gesagt habe!«

Wort für Wort wiederholte nun Kristianpoller alle Wünsche des Obersten Tarabas. Ja, es war ihm ein leichtes, sie zu wiederholen. Eingegraben hatten sich die Worte Tarabas' in den Kopf Kristianpollers wie harte Nägel in Wachs. Für ewige Zeiten steckten sie drin. Er wiederholte Wort für Wort, das Angesicht immer noch gegen den Fußboden geneigt, den Blick auf die glänzenden Stiefelkappen Tarabas' gerichtet und auf den silbernen Saum, den der Schlamm an den Stiefelrändern zurückgelassen hatte. Er könnte verlangen, dachte Kristianpoller, daß ich den Rand seiner Stiefel mit der Zunge säubere. Wehe, wenn er es fordert.

»Sieh mir ins Auge, Jude!« sagte Tarabas. Kristianpoller erhob sich.

»Was hast du zu erwidern?« fragte Tarabas.

»Euer Hochwohlgeboren und Exzellenz«, antwortete Kristianpoller, »es ist alles bereit und in Ordnung. Ein großes Zimmer steht Euer Hochwohlgeboren zur Verfügung. Eine geräumige Kammer ist für Euer Hochwohlgeboren Begleiter bereit. Und vor dem Zimmer wollen wir ein Bett bereitstellen, ein bequemes Bett!«

»Recht, recht«, sagte Tarabas. Und er befahl seinen Leuten, Essen aus der Küche zu holen. Und er setzte sich an einen freien Tisch.

Es war ganz still im Schankzimmer geworden. Die Offiziere rührten sich nicht mehr. Sie sprachen nicht mehr. Ihre Gabeln und Löffel lagen unbeweglich neben den Tellern.

»Guten Appetit!« rief Tarabas, zog sein Messer aus dem Stiefel und betrachtete es sorgfältig. Er leckte seinen Daumen ab und fuhr mit dem nassen Finger sachte über die Schneide.

Der Jude Kristianpoller nahte mit dampfender Schüssel in der Rechten, Löffel und Gabel in der Linken. Erbsen und Sauerkraut brachte er, dazwischen eine rosa leuchtende Schweinsrippe. Zarter, grauer Dunstschleier lag über dem Ganzen.

Nachdem Kristianpoller die Schüssel niedergesetzt hatte, verneigte er sich und schritt rücklings gegen den Schanktisch.

Von hier aus beobachtete er unter halbgeschlossenen Lidern den äußerst gesunden Appetit des gefährlichen Tarabas. Er wagte nicht, ohne besondere Aufforderung der Stimme seines Herzens zu gehorchen, die ihm da zuflüsterte, er möchte dem gewaltigen Manne Alkohol anbieten. Vielmehr wartete er auf einen Befehl.

»Trinken!« rief endlich der fürchterliche Tarabas.

Kristianpoller verschwand und erschien einen Augenblick später mit drei großen Flaschen auf einer soliden, hölzernen Platte: Wein, Bier und Schnaps.

Er stellte die drei Flaschen sowie drei verschiedene Gläser vor den Obersten Tarabas, verbeugte sich tief und zog sich zurück. Tarabas prüfte zuerst die Flaschen, indem er jede einzelne nacheinander hob und in der Luft betrachtete, wie um sie mit Hand und Blick zu wägen, und entschloß sich hierauf für den Branntwein. Er trank, wie es die Gewohnheit aller Schnapstrinker ist, ein Gläschen auf einen Zug und schenkte sich ein neues ein. Vollkommene Stille herrschte in der Wirtsstube. Die Offiziere saßen steif vor ihren Tellern, Bestecken und Gläsern und schielten zu Tarabas hinüber. Kristianpoller stand reglos, mit gesenktem Kopf vor seiner Theke, in harrender Dienstfertigkeit, jeden Moment bereit, auf einen Wink, ja auf ein Zucken der Augenbrauen des Obersten Tarabas herbeizueilen. So stand Kristianpoller da, lauschend und lauernd auf die Wünsche des Kriegsgottes von Koropta, die sich in dessen Innerm langsam oder, wer weiß, auch plötzlich bilden mochten. Man hörte deutlich das gurgelnde Rinnen des Branntweins, wenn der Oberst ein neues Gläschen füllte; und hierauf die anerkennenden Worte des Furchtbaren: »Ein guter Schnaps, mein lieber Jude!« – ein Satz, den Tarabas immer häufiger und mit immer lauterer Stimme wiederholte. Schließlich, nachdem der Oberst sechs Gläschen getrunken hatte, schien es dem jüngsten der anwesenden Offiziere, dem Leutnant Kulin, an der Zeit, die allgemeine, von Respekt und Furcht geladene Stille zu unterbrechen. Er erhob sich, ein gefülltes Glas Branntwein in der Hand, und näherte sich dem Tisch des Obersten. Die Hand des Leutnants Kulin zitterte nicht, aus dem bis zum Rande gefüllten Glas fiel kein Tropfen, als er in soldatischer Haltung vor Tarabas stehenblieb. »Wir trinken auf das Wohl unseres ersten Obersten!« sagte der Leutnant Kulin. Alle Offiziere erhoben sich. Auch Tarabas stand auf. »Es lebe die neue Armee!« sagte Tarabas. »Es lebe die neue Armee!« wiederholten alle. Und mitten in das Geklirr der aneinanderstoßenden Gläser brach, ein etwas verspätetes und schüchternes Echo, die Stimme des Juden Kristianpoller: »Es lebe unsere neue Armee!«

Sofort, nachdem er diese Worte ausgestoßen hatte, erschrak Nathan Kristianpoller gewaltig. Und er eilte hinter die Theke, schlug die kleine, hölzerne Tür auf, die in den Hof ging, rief nach dem Hausknecht Fedja und befahl ihm, zwei Fäßchen Branntwein aus dem Keller zu holen. Indessen hub drinnen in der Stube eine allgemeine Verbrüderung an. Einzeln zuerst, hierauf in kleinen Gruppen, verließen die Männer ihre Sitze, näherten sich, immer mutiger und vertraulicher, dem Obersten Tarabas und leerten ihre Gläser auf sein Wohl. Tarabas fühlte sich immer wohler und heimischer. Mehr noch als der Schnaps wärmte ihn die untertänige Freundschaft der Offiziere, Eitelkeit wärmte sein Herz. »Du, mein Freund«, sagte er bald wahllos dem und jenem. Alsbald rückten sie auch die Tische zusammen. Keuchend und die Stirnen schweißbedeckt, kamen Kristianpoller und der Hausknecht Fedja mit den Schnapsfässern. Eine Weile später rann der wasserklare Branntwein in die geräumigen, funkelnden Weingläser, sechsunddreißig an der Zahl, die auf dem Schanktisch warteten. Sobald eines gefüllt war, wurde es von Hand zu Hand gereicht wie Wassereimer bei einem Brand. Dann, als gälte es, ein Feuer zu löschen, stellten sich die Offiziere in einer Kette auf, von der Theke Kristianpollers bis zum Tisch, an dem der furchtbare Tarabas saß, und reichten einander die gefüllten Gläser. So reichten sie einander ein volles Glas nach dem andern weiter; und ordentliche Gläser waren es.

Auf einen Wink des Majors Kulubeitis erhoben alle gleichzeitig die Gläser, brüllten ein unheimliches »Hurra«, das den Juden Kristianpoller vollends verzagt machte, den Knecht Fedja aber dermaßen erfreute, daß er überraschend aus vollem Herzen zu lachen anfing. Er mußte sich bücken, so schüttelte ihn sein eigenes Gelächter. Dabei schlug er mit seinen schweren Händen auf seine vollen Schenkel. Anstatt daß dieses törichte Gelächter die Herren beleidigt hätte, wie Kristianpoller bereits zu befürchten begann, steckte es im Gegenteil auch die gutgelaunten Offiziere an, und alle Welt lachte nun, stieß mit den Gläsern an, prustete, schüttelte sich, brüllte und hustete. Alle waren sie plötzlich von einer unerbittlichen Fröhlichkeit unterjocht worden, preisgegeben und ausgeliefert waren sie ihrem eigenen Gelächter. Ja, Tarabas selbst, der Gewaltige, winkte unter dem unaufhörlichen Jubel aller den lachenden Fedja heran und befahl ihm zu tanzen. Und damit die Musik nicht fehle, ließ Tarabas einen der Seinen hereinrufen, einen gewissen Kalejczuk, der vortrefflich die Ziehharmonika zu handhaben verstand. Dieser begann aufzuspielen, sein Instrument in beiden Händen vor der gereckten Brust. Er spielte den weitbekannten Kosakentanz, denn er hatte sofort erkannt, daß der Knecht Fedja sein Landsmann war. Und sofort gleichsam Herz und Füße getroffen von den Klängen der Ziehharmonika – begann Fedja zu tanzen. Die Kette, welche die Offiziere bis jetzt gebildet hatten, rundete sich zu einem Ring, in dessen Mitte Fedja herumhüpfte und Kalejczuk die Ziehharmonika bearbeitete. Freiwillig, ja glückselig zuerst hatte Fedja zu tanzen begonnen. Allmählich aber, unter der Gewalt der Musik, die ihn befehligte und der er sich in süßem und zugleich qualvollem Gehorsam fügte, erstarrte sein lächelndes Gesicht, und sein offener Mund konnte sich nicht mehr schließen. Zwischen seinen gelben Zähnen zeigte sich von Zeit zu Zeit die lechzende Zunge, als gälte es, die Luft zu lecken, an der es den Lungen fehlte. Er drehte sich um die eigene Achse, ließ sich hierauf fallen und wirbelte hockend in den Knien im Kreise herum, erhob sich wieder, um einen Luftsprung zu vollführen: alles, wie es die Gesetze des Kosakentanzes vorschrieben. Man sah ihm an, daß er gerne innegehalten hätte. Zuweilen schien es, daß den Tänzer alle Kräfte zu verlassen drohten, ja, daß sie ihn schon verlassen hätten und daß er nur noch getrieben und belebt ward von den wehklagenden und feurigen Klängen des Instruments und von den rhythmischen, klatschenden Schlägen, welche die rundum als Wächter des Tanzes aufgestellten Offiziere mit ihren Händen vollführten. Auch den Musikanten Kalejczuk ergriff alsbald die Lust sich zu bewegen. Die Musik, die er machte, überwältigte ihn selbst so, daß er sich, die rührigen Finger immer noch unablässig in den Klappen der Ziehharmonika, plötzlich zu drehen begann, zu hüpfen, sich in die Knie fallen zu lassen und dem unermüdlichen Fedja entgegenzutanzen. Schließlich sprangen auch einige Offiziere aus dem Kreis, tanzten, so gut sie konnten, mit den beiden um die Wette, und die übrigen, die noch dastanden, stampften zum Takt mit den Stiefeln und hörten nicht auf, in die Hände zu klatschen. Ein ungeheuerlicher Lärm erhob sich. Es dröhnten die Stiefel auf dem Boden, die Fensterscheiben schepperten, die Sporen klirrten und die noch leeren Gläser, die nebeneinander auf dem blechernen Schanktisch standen und auf neue Trinker zu warten schienen. Der Jude Kristianpoller wagte nicht, den Platz zu verlassen, auf dem er stehengeblieben war. Merkwürdigerweise beruhigte ihn dieser ganze Lärm in der gleichen Weise, wie er ihn erschreckte. Er fürchtete, man würde auch ihn im nächsten Augenblick tanzen lassen, wie Fedja, den Knecht. Haß war in seinem Herzen und Bangnis. Zugleich wünschte er, diese Leute möchten noch mehr trinken, obwohl sie ja, wie er bereits wußte, kein Geld hatten, zu bezahlen. Reglos stand er neben seiner Theke da, ein Fremder in seinem eigenen Hause. Und er wußte nicht, was er da zu tun hätte. Und er wollte seinen Schanktisch verlassen – und er wußte auch, daß es unmöglich sei. Ratlos, armselig und geschäftig, trotz seiner Unbeweglichkeit, stand er da, der Jude Kristianpoller.

Nun, der goldige Herbsttag ging indessen zu Ende. Und den drei großen Fenstern gegenüber, auf den Schragen, an denen die gebräunten, fettigen Ledergürtel hingen und die blitzenden Säbel, spiegelte sich die rötlich untergehende Sonne des Herbstes. Auf sie richtete der Jude Nathan Kristianpoller seinen Blick. Ein Zeichen schien es ihm, daß der alte Gott noch bestehe. Er wußte, der Jude, daß die Sonne im Westen unterging und daß sie jeden wolkenlosen Tag auf diesen Schragen fiel: dennoch schöpfte er in diesem Augenblick Trost aus längst vertrautem und selbstverständlichem Tatbestand. Mochte Tarabas, der Fürchterliche, auch gekommen sein. Die Sonne Gottes ging noch unter, wie jeden Tag zuvor. Es war die Zeit gekommen, das Abendgebet zu sagen, das Antlitz gegen Osten gewendet, das heißt eben gegen den Schragen, den Kristianpoller jetzt betrachtete. Wie konnte er beten? Immer noch verstärkte sich der Lärm. Alle Schrecken des Krieges und der bisherigen verschiedenen Besatzungen erschienen Kristianpoller in diesem Augenblick harmlos, verglichen mit dem eigentlich ganz ungefährlichen Gestampf und Gebrüll der Männer um Tarabas. Dieser saß übrigens, als der einzige, an seinem Tisch. Er lehnte sich weit zurück, fast lag er mehr, als er saß, die Beine in den prallen Hosen auseinandergespreizt, die Füße in den funkelnden Stiefeln weit vor sich hingestreckt. Von Zeit zu Zeit fühlte er sich bewogen, in die Hände zu klatschen, wie die andern es unaufhörlich taten. Nun stand schon ein gutes Dutzend geleerter Gläschen auf seinem Tisch – und immer noch gesellte sich ein neues, gefülltes dazu, dargebracht wie ein Opfer von den fürsorglichen Händen der im Rund aufgestellten Offiziere. Außer Tarabas trank seit einer halben Stunde kein anderer mehr. Von seinem Platz an der Theke aus konnte der Jude Kristianpoller merken, wann es an der Zeit sei, ein neues Gläschen zu füllen. Eigentlich starrte er die ganze Zeit nur noch auf den Tisch des Obersten Tarabas, und weder der Lärm, der ihn fast betäubte, noch der vielfältige Kummer, der ihn erfüllte, konnte ihn von der im Augenblick allerwichtigsten Sorge ablenken: ob der Fürchterliche noch mehr zu trinken wünsche. Aus der Flasche, die Kristianpoller vorher auf den Tisch gestellt hatte, schüttete Tarabas nichts mehr nach. Offenbar gefiel es ihm besser, wenn ihn die Offiziere bedienten. Nunmehr fing er an, wie Kristianpoller zu bemerken glaubte, der Müdigkeit anheimzufallen. Er mochte, nach der oberflächlichen Schätzung des Wirtes, bereits das sechzehnte Glas geleert haben. Er gähnte, der Große; Kristianpoller sah es ganz deutlich. Und diese unzweifelhafte Äußerung einer allgemeinen menschlichen Schwäche beruhigte den Juden.

Indessen verschwand der abendliche Widerschein der Sonne sehr schnell aus der Gasthausstube. Es wurde dunkel, auf einmal fast. Plötzlich hörte man einen schweren Fall. Fedja lag da, auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt, und die Ziehharmonika brach ab, als hätte sie jemand in der Mitte entzweigeschnitten. »Wasser!« rief einer. Kristianpoller stürzte mit dem Eimer herbei, der immer hinter der Theke bereitstand, und goß einen schweren, kalten Schwall auf Fedjas Angesicht. Ringsum beobachtete man genau, mit mehr Eifer als Schrecken, wie Fedja aus der Ohnmacht erwachte, prustete und sofort nach seiner Rückkehr ins Leben, liegend noch, ein schallendes Gelächter begann ... ähnlich, wie ein Neugeborenes das Licht der Welt mit jämmerlichem Weinen begrüßt. Es war inzwischen völlig dunkel geworden.

»Macht Licht!« rief Tarabas und erhob sich. Kristianpoller entzündete zuerst die Laterne, die stets auf dem Schanktisch stand, und an ihr, wie er es immer gewohnt war, mit Hilfe eines zusammengerollten Papierchens die Petroleumlampe. Das gelbliche, fettige Licht fiel gerade auf Fedja, der sich lachend erhob. Er prustete, schnaufte, Wasser rann von seinem Kopf und von seinen Schultern. Alle anderen schwiegen. Keiner rührte sich. »Zahlen!« rief plötzlich Tarabas. Wie lange schon hatte der Jude Kristianpoller diesen Ruf nicht mehr gehört! Wer hatte »Zahlen« gerufen?

»Euer Hochwohlgeboren, Euer Exzellenz, Herr General«, sagte Kristianpoller, »ich bitte um Vergebung, ich habe nicht gezählt ...« »Von morgen an wirst du zählen!« sagte Tarabas. »Ich schlage einen Spaziergang vor, meine Herren.«

Und alle gürteten sich hastig. Mit Geklirr und Gepolter gingen sie hinaus, in die Nacht des kleinen Städtchens Koropta, in einem Rudel hinter Tarabas, der Kaserne entgegen, um zu sehen, wie sich die Mannschaft des neuen Regiments in der Finsternis betrage.


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