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Alfred Blumman erschien in der Tür und winkte lebhaft: »'n Morgen, gnädiges Fräulein, bin ich pünktlich?!«
Anna Hedenus schob den Kaffee zur Seite, sie hatte das Frühstück kaum berührt. Die Nacht war schlaflos und voller Qual gewesen, den Morgen hatte sie in Unruhe durchgewacht und sich mit der Vorstellung vertraut zu machen gesucht, daß Blumman sein Versprechen nicht halten würde.
Was sollte dann werden? Sie wußte es nicht, Blumman war ihre letzte Hoffnung im Augenblick, warum war sie nicht freundlicher zu ihm gewesen, man mußte solchen Menschen entgegenkommen, sie waren es gewöhnt, sicherlich!
»Sie sind sehr pünktlich, Herr Blumman – ich bin ganz erstaunt.«
»Aber, aber, meine Gnädigste! Alfred Blumman ist immer Gentleman. Wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch – sind wir fertig?«
»Ich bin fertig, Herr Blumman«, sagte sie müde und versuchte unbekümmert zu lächeln. Es gelang nicht. Sie fühlte mit Schrecken, daß sie elend aussah, es war sinnlos, in diesem Zustand ins Atelier zu fahren und sich vorzustellen.
»Sie sehen ausgezeichnet aus, heute Morgen!« sagte Blumman in diesem Augenblick, als könne er Gedanken lesen, »'n bißchen blaß aber das macht nichts, das ist ganz interessant, gehen wir!«
Während sie die schmale Treppe hinunterstiegen, sprach er ununterbrochen von seinen guten Beziehungen, von den Chancen, die sie heute wahrnehmen müßten; immer schloß er damit, daß sie ihn, Alfred Blumman, nur machen lassen sollte.
»Ich lege mein Schicksal in Ihre Hände, Herr Blumman!«
»Das ist gut, dann wird's schon werden – Auto, halt!«
Während der Fahrt zum Atelier versuchte er immer wieder, sie ihrer Schweigsamkeit zu entreißen, aber sie konnte sich nicht soweit aufraffen, harmlos und liebenswürdig zu plaudern, es ging nicht mehr. Sie hätte im Augenblick gern mit jedem der kleinen Ladenmädchen getauscht, die die Markisen über die Schaufenster herabließen und ihnen nachschauten; die wußten nichts von allen diesen Dingen, sicherlich hatten sie jemand, der sie nach Geschäftsschluß erwartete und auf den sie rechnen konnten, der mit ihnen lebte und sie verstand und Sinn für ihre kleinen Sorgen hatte – sie wollten nicht mehr vom Leben und waren zufrieden. Warum ist mir es nicht gegeben, mich zu bescheiden? dachte sie verzweifelt, warum will ich mehr, was berechtigt mich denn dazu? Nichts, dachte sie niedergeschlagen, gar nichts gibt mir das Recht, mehr sein zu wollen als die vielen anderen – ich bin eine Närrin! Sie verkroch sich neben Blumman, der sehr selbstbewußt in seiner Ecke lehnte.
Der Wagen fuhr um eine Straßenecke, sie konnte eins von diesen kleinen Mädchen sehen, deren Leben sie sich eben in den schönsten Farben ausgemalt hatte – das Mädchen stand vor einem Schaufenster, den Staubwedel in der Hand, und starrte ihnen nach.
Sie mußte auflachen.
Vielleicht gab es sogar wirklich noch ahnungslose Gemüter, die sie beneideten, wahrhaftig, alles war möglich, die Welt war ein einziger Bluff heutzutage, alle blufften, Mason, Harry – bis zu diesem schäbigen Elegant, der neben ihr saß.
Vielleicht Mrs. Spencer nicht, sicherlich die nicht – sie war wohl restlos glücklich und zufrieden mit ihrem Leben; wie sollte es auch anders sein?!
Sie wurde ihren Gedanken entrissen, sie waren vor dem Atelierbau angelangt. »Bitte folgen Sie mir!« sagte Blumman und schien irgendwie aufgeregt.
Im Vorraum warteten viele Menschen, alte und junge, Frauen und Männer, Greise und Mädchen, ein ganzer Trupp Revuegirls, alles ausgesuchte Schönheiten mit einem siegesgewissen Lächeln auf den Lippen, das bestach und für sie einnehmen mußte.
Wie soll ich gegen diese aufkommen? erkannte sie voller Scham. Ein länglicher Spiegel warf ihr Bild zurück, erbarmungslos scharf; sie sah sich und fand ihre Figur zu schmal, das Gesicht zu blaß, die Haare kamen wirr unter dem Hut hervor – warum mußte es gerade heute sein? Konnte man nicht noch zurück? Sicherlich war es besser, den Versuch auf einen günstigeren Tag zu verschieben. Sie wandte sich unschlüssig zu ihrem Begleiter um. Blumman verhandelte mit einem Mann, der der Portier sein mußte, er gebärdete sich wie der Direktor selbst und gab barsche, unfreundliche Antworten.
»Sie werden Herrn Brann heute kaum zu sprechen bekommen!«
»Wir sind angemeldet, mein Lieber!«
»Haha! Das sagen alle!«
»Ach – melden Sie mich doch erst mal, das werden wir ja sehen!«
»Dann schreiben Sie Ihren Namen hier auf!« grollte der Portier und deutete auf den Anmeldeblock; er ärgerte sich sichtlich, daß sich Herr Blumman nicht einschüchtern ließ. Wozu war man denn da?
»Was wollen Sie denn?« fauchte er zum Ausgleich einen alten Mann an, der schüchtern wartete, »können Sie lesen? Jeder unnötige Aufenthalt im Vorraum ist verboten.«
»Ich hätte gern Herrn Sinsberger gesprochen«, stammelte der arbeitslose Schauspieler erschrocken. Er zitterte beständig und wandte sich hilflos nach allen Seiten. Man war doch früher ganz anders zu ihm, er war doch einmal am Burgtheater engagiert gewesen! Warum behandelte man ihn so?
»Herr Sinsberger hat keine Zeit!« entschied der Portier.
»Keine Zeit – – keine Zeit!« wiederholte der Alte verständnislos.
»Blumman«, las der Portier halblaut den Zettel, den der Agent ausgefüllt hatte; er erinnerte sich jetzt, daß ihm dieser Herr das letztemal eine Schachtel Zigaretten spendiert hatte. »Moment mal – ich will gleich selbst nachsehen!«
Er verschwand hinter der geheimnisvollen Tür mit den dicken roten Buchstaben: Rauchen strengstens verboten! Es war die Tür, die ins Atelier führte, ein Tor der Hoffnung, von einem harrenden, gläubigen, verzweifelnden Menschenhaufen mit gierigen Augen angestarrt.
»Man kann es ja auf einen anderen Tag verschieben«, flüsterte Anna mutlos dem Agenten zu.
»Gar nichts kann man!« antwortete er verärgert und drehte ihr den Rücken zu.
Sie fing den Blick einer jungen Statistin auf, die sie mitleidlos taxierte und ihr Urteil den Kolleginnen mitteilte. Alles atmete hier Konkurrenzneid und Haß, jeder witterte hinter dem andern den Gegner, der eher durch das Tor hindurch wollte, das in die erträumte Zukunft führte.
»Herr Blumman?«
Neben dem Portier erschien ein jüngerer Mann, in der Hand hielt er den Anmeldezettel.
»Servus!« beeilte sich der Agent zu rufen und stürzte auf den jungen Mann zu, »wie geht's, Verehrtester?«
»Mies; wo ist die Kleine?!«
»Kommen Sie, kommen Sie, Fräulein Hedenus – darf ich Ihnen Fräulein Hedenus vorstellen – das ist hier Deutschlands größter Aufnahmedirektor, seien Sie lieb und nett zu ihm!«
»Ich will mir Mühe geben!« sagte sie mit zuckenden Lippen, erstickt vor Scham. Die Statistinnen kicherten und machten Bemerkungen.
»Nett!« fand der Mann im weißen Arbeitskittel und holte sein Notizbuch heraus. Der Agent wurde um eine Spur blasser: »Du wirst uns doch nicht hier abfertigen wollen, zwischen Tür und Angel, kommt doch gar nicht in Frage!« Er faßte ihn vertraulich unter den Arm und ging mit ihm ein paar Schritte beiseite; sie fühlte, daß von ihr geflüstert wurde.
Warum stand man hier? Warum durfte man nicht hinaus und weit fort, warum das alles?
Die beiden standen jetzt in der Nähe der Tür, der ›Aufnahmedirektor‹ winkte sie heran. Blumman verschwand bereits im Innenraum.
»Wir werden später eine Probeaufnahme machen!« meinte er, als sie nebeneinander hergingen. Sie wußte nicht zu antworten und sah sich hilflos nach Blumman um; die Erde schien den Agenten verschluckt zu haben.
Ihr Führer öffnete die Tür zu einem kleinen stickigen Raum, der als Büro zu dienen schien, Garderobestücke hingen an der Wand, eine Schreibmaschine stand auf dem Tisch, in einer Ecke waren Requisiten aufgestapelt.
»Du kannst dich hier ausziehen – ich werde mal den Friseur suchen.«
Sie zuckte zusammen.
Was hieß das: »Du kannst dich hier ausziehen«, was wollte der Mensch von ihr? Sie nahm sich zum erstenmal die Mühe, ihn genauer zu betrachten; er war gar nicht mehr so jung, wie es auf den ersten Blick schien, sie sah ein mageres Gesicht mit blassen, verlebten Zügen, das irgend etwas von einem Jungen behalten hatte.
»Wozu soll ich mich denn ausziehen – was denn?« fragte sie unruhig. Er blickte sie mit eindeutigen Augen an und wandte sich langsam zur Tür, vermutlich wollte er abschließen.
»Frag' nicht so viel – mach, was ich sage, dann wollen wir mal sehen!«
Sie sprang auf.
Jetzt geschieht ein Unglück! fühlte sie noch, ehe ihre Hand nach diesem unverschämten Gesicht schlug; die Hand erreichte ihr Ziel nicht, sie wurde festgehalten und brutal herumgedreht. »Kleine Katze!« keuchte er.
»Lassen Sie mich heraus – lassen Sie mich!«
In diesem Augenblick pochte eine herrische Faust gegen die verschlossene Tür; der Mann ließ schwer atmend von ihr ab und öffnete. Draußen stand ein untersetzter Herr, der alles mit einem Blick sah – und nichts zu sehen schien.
Er schüttelte mißbilligend den Kopf. »Wo bleibt das Gespräch mit meiner Frau – wo bleibt der Architekt – wo bleibst du, in drei Teufelsnamen? Was ist das heute für eine Schlamperei?!«
»Entschuldigen Sie, Herr Brann, ich mußte erst die junge Dame hier abfertigen – Fräulein Hedenus, sie kommt auf Veranlassung von Herrn Blumman!«
»Wer ist Blumman?« fragte der Regisseur geistesabwesend.
»Er glaubte, sie könnte die Mizzi übernehmen«, erinnerte vorsichtig der Assistent, der den Wunsch hatte, die unangenehme Unterhaltung zu beenden.
»Die Mizzi?« fragte der Herr in Gedanken, hm. Er schien wieder zu erwachen und sah jetzt Anna Hedenus, die blaß, mit zusammengepreßten Lippen, vor ihm stand.
»Brann!«
Er musterte sie sehr aufmerksam, aber es war eine ganz andere Art von Musterung als die, die sie kurz zuvor über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie erniedrigte nicht, sie weckte nur den Wunsch, sie zu bestehen. Der Regisseur schien nicht unzufrieden.
»Haben Sie die Liebenswürdigkeit, mein Fräulein, mir zu folgen, ich habe ein paar Minuten Zeit, wir wollen gleich mal sehen!«
Sie gingen den Korridor zurück, den sie gekommen war, die von grellen blendenden Lichtbündeln durchzuckte Dämmerung des Ateliers nahm sie auf, Rufe entfachten lautes Echo, Musik klang von irgendwoher, sie stolperte über ein Gewirr von Kabeln und Requisiten, durch ein Labyrint von Kulissen, bis Brann stehen blieb.
»Lebbs!« rief er, »Lebbs!«
Ein junger Mensch erschien und versicherte, daß er Lebbs sofort suchen würde, dann waren sie wieder allein, in der Nähe hämmerten Arbeiter, Maler strichen zum letztenmal ein Zimmer aufnahmefertig, ein Schauspieler im mittelalterlichen Kostüm des Films, den Brann drehte, ging vorüber und winkte.
»Haben Sie schon gearbeitet?« fragte er, »ich kenne Sie noch nicht!«
»Nein!« gestand sie ehrlich, »ich habe noch niemals gefilmt.«
Er schüttelte den Kopf, man wußte nicht, ob es Ärger oder Verwunderung war.
»Warum wollen Sie denn zum Film?« fragte er. Immer dasselbe, wußte sie mutlos, wenn ich einmal fragen würde, warum sie alle ihren Beruf ergriffen hätten, was würde man mir antworten?
»Ich muß Geld verdienen!« gab sie müde seine Frage zurück.
»Und da wollen Sie gerade zum Film? Gott, was die Leut' alle für eine Vorstellung haben! Gibt's nichts anderes für Sie, mein Fräulein? Was haben Sie denn schon, wenn Sie eine Rolle bekommen – das bedeutet noch gar nichts! Lassen Sie sich doch bloß nicht durch ein paar Ausnahmen bestechen!«
»Ich weiß es«, gab sie ihm leise und verzweifelt recht.
Er horchte auf und warf ihr einen raschen Blick zu. Dieses blasse, von einer letzten Energie gestraffte Gesicht sprach eine Sprache, die sehr selten hier war. Josef Brann hatte selbst sehr kämpfen müssen, er wußte um alles, was in Anna Hedenus vorging, ohne daß sie es ihm zu sagen brauchte. Sie tat ihm leid. »Gibt's wirklich nichts anderes für Sie, gnädiges Fräulein? Was ist Ihr Herr Vater, wenn ich fragen darf?«
»Professor – er war früher ein bekannter Forscher – heute haben uns leider die modernen Expeditionen ein bißchen überholt«, sagte sie und fühlte Mitleid mit sich und ihm, daß es soweit gekommen war.
»Interessant«, nickte Brann, »interessant! Ja, ja – es ist heute nicht so einfach, na, vielleicht kann ich Sie verwenden, es sollte mich freuen, mein Fräulein!«
Lebbs erschien in wehendem Mantel und sah sie durch kalte, sachliche Brillengläser scharf an.
»Lieber Lebbs, wir werden hier von Fräulein Hedenus eine Probeaufnahme machen – die Herrschaften kennen sich noch nicht? Herr Lebbs – Fräulein Hedenus, die Tochter des berühmten Forschers, geben Sie sich Mühe, Lebbs!«
Als sie vor dem Aufnahmeapparat stand, der sich langsam auf sie richtete und sie bannte, wie der Blick einer Giftschlange, gab sie den Kampf verloren, ehe er begann. Sie war mürbe, mochte es kommen, was wollte, mochten sie sie verlachen, hinausjagen, noch mehr demütigen, sie war am Ende, ihr war alles gleich.
»Nicht in den Apparat sehen – nicht in den Apparat sehen!« warnte Branns Stimme. Wie gleichgültig das alles war, wie unwichtig. Sie riß sich zusammen, ging ein paar Schritte hin und her, lächelte, hob die Hand. Dann mußte sie sich an einen Tisch setzen, jemand drückte ihr einen Federhalter in die Hand.
»Jetzt stellen Sie sich bitte vor, daß Sie dem Mann, den Sie lieben, für den Sie alles tun könnten, einen Abschiedsbrief schreiben – während Sie schreiben, tritt er ins Zimmer – ich werde ihn markieren.« Brann trat zurück, der Apparat verfolgte wieder ihre Bewegungen, sie schrieb einen Brief auf einen nicht vorhandenen Bogen und hatte ein bitteres Lächeln um den Mund, wozu die Komödie?
»Aber, mein liebes gnädiges Fräulein, was machen Sie denn? – Können Sie sich denn das nicht vorstellen, was ich Ihnen gesagt habe? Sie lieben doch den Mann – da schreibt man doch anders, mehr Schwung bitte – so, jetzt kommt er ins Zimmer – sehen Sie mich an – was tun Sie jetzt – was geschieht jetzt?!«
Sie starrte ihm entgegen, er kam langsam näher und spielte die Rolle des Mannes, den sie liebte, für den sie alles zu tun imstande sein mußte, sicherlich spielte er gut.
Mason! erinnerte sie sich plötzlich und sprang auf, wenn Mason in ihr Zimmer träte, wenn er auf sie zukäme – Mason, der an sie geglaubt hatte, und der sie verlassen hatte wie alle anderen!
»Halt, halt, aus!« erweckte sie eine Stimme, die Brann zu gehören schien, »mein Kompliment, Fräulein Hedenus, wir werden zusammenkommen – schreiben Sie hier Ihre Adresse auf – so, recht deutlich – Sie müssen mich jetzt entschuldigen, Sie bekommen so bald als möglich Nachricht.«
Sie kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten, lärmendes Treiben ringsum verschlang jedes Wort, Menschen hasteten von allen Seiten heran, grell geschminkte gelbe Gesichter lachten und riefen durcheinander, sie erinnerte sich erst jetzt, daß man sich nicht einmal Zeit genommen hatte, sie für die Aufnahme zu schminken – vielleicht wollte Brann es absichtlich so, versuchte sie sich selbst Mut zu machen, sie sollte Nachricht bekommen, er schien doch zufrieden mit ihr.
Achtung – Aufnahme – Rrruhee!«