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Die Bilanz Moskaus, richtiger wäre zu schreiben: des Bolschewismus, allein absichtlich nehme ich pars pro toto; denn der Bolschewismus ist ein kaum mehr definierbarer Begriff geworden, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellt. Je nach der Auffassung begreift er alles in sich, vom reinsten Kommunismus bis in sein striktes Gegenteil. Man kann ihn nach Belieben auslegen – und legt ihn aus –, so daß dieses Wort nicht einmal zur Verdeutlichung einer auch noch so verschwommenen Idee ausreicht.
»Moskau« dagegen ist ein sehr realer Begriff. Das ist: die sehr feste und sehr reale Leitung der Sowjetrepubliken, der kommunistischen Partei und der Dritten Internationale, die teilweise identisch sind, teilweise aber scharfe Gegensätze bedeuten.
Wenn man – und mit Recht – vom Zusammenbruch des Bolschewismus spricht, vergißt man in Europa nur zu leicht, daß »Moskau« diesen Zusammenbruch nicht mitmachte, sondern im Gegenteil mit einer bewundernswerten Wandlungsfähigkeit aus allen Krisen und Zusammenbrüchen nur um so konsolidierter hervorging. Restlos zusammengebrochen ist das kommunistische Programm in seiner ursprünglichen Fassung und auch die kommunistische Idee als ideeller, die Massen fortreißender und begeisternder Faktor. Darüber gibt man sich wohl nur in nichtrussischen kommunistischen Parteien noch Illusionen hin. Die russischen Kommunisten selbst beurteilen dieses Scheitern ihrer Ideen und Pläne sehr nüchtern. In den führenden Köpfen steckt allerdings hinter dieser Nüchternheit eine weitsichtige, mit großen Zeiträumen rechnende Politik, die sich keineswegs nur um jeden Preis unter Aufgabe der Idee an die Macht klammert, sondern die die ursprünglichen Ziele trotz aller Rückschläge und trotz aller notwendig gewordenen Konzessionen unverrückbar im Auge behält.
So grotesk auch die russische Wirklichkeit von den Illusionen des europäischen und amerikanischen kommunistischen Proletariats abweicht, so falsch ist andererseits die Vorstellung, die man in »bürgerlichen«, »konterrevolutionären« und »reaktionären« Kreisen von den Dingen in Rußland hat. Mag der »Bolschewismus« zusammengebrochen und erledigt sein, »Moskau« lebt und bedeutet in seiner Anpassungsfähigkeit für die gegenwärtigen imperialistischen westlichen Regierungen und die wirtschaftlichen Monopolbestrebungen der Großbourgeoisie einen viel gefährlicheren Gegner als die doktrinäre Taktik der außerrussischen Kommunisten.
An dem verzerrten Urteil Westeuropas sind – von bewußten Tendenzmeldungen abgesehen – auf der einen Seite jene theoretischen ideal-kommunistisch gesinnten europäischen Intellektuellen schuld, die mit einem glühenden Herzen nach Sowjetrußland reisten und in ihrer Begeisterung einfach alles im günstigen Licht sehen wollten. Auf der andern Seite hat sich das Heer der über die ganze Welt verstreuten russischen Emigranten alle Mühe gegeben, über das heutige Rußland von Grund aus falsche Vorstellungen zu verbreiten. Beide Teile, die kommunistischen Verherrlicher wie die Antibolschewisten, haben letzten Endes nur das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht. Wer heute mit den Vorstellungen eines deutschen Kommunisten nach Rußland kommt, muß in dem Glauben an seine Ideale bis ins Innerste erschüttert werden, und ich habe in Rußland deutsche und österreichische Arbeiter getroffen, denen es nicht anders erging. Wer sich dagegen über russische Zustände nur aus der antibolschewistischen großbürgerlichen oder sozialdemokratischen Presse unterrichtet, wird von der Wirklichkeit angenehm enttäuscht werden und in Rußland alles besser vorfinden, als er es sich vorgestellt hatte.
Dieser Relativität in der Urteilseinstellung muß man unbedingt Rechnung tragen, wenn man eine Beurteilung des heutigen Rußlands kritisch prüft. Im allgemeinen macht der vorurteilslose »bürgerliche« europäische Reisende in Sowjetrußland drei Stadien durch. Zuerst wird ihm alles viel besser erscheinen, als er sich dachte. Die Greuelschilderungen und Tendenzmeldungen der antibolschewistischen Presse und der Emigranten lassen die Wirklichkeit, die man vorfindet, um so viel besser hervortreten, je mehr man vorher mit dem Gegenteil gefüttert wurde. Bei längerem Aufenthalt erlebt man dann den unvermeidlichen Ärger mit den russischen Behörden, mit Unzuverlässigkeit und Korruption und neigt dazu, sein anfänglich günstiges Urteil in das gerade Gegenteil zu verkehren, bis man schließlich die dritte Etappe durchmacht und zu einer ungefähr richtigen und gerechten Würdigung von Sowjetrußland gelangt.
In keinem Land ist es heute leicht, die wirkliche Lage und die treibenden, zukunftsgestaltenden Kräfte zu erkennen und in ihren Konsequenzen einzuschätzen. Allein nirgends ist es wohl so schwer wie in Rußland, wo alles sich in Fluß befindet und wo man vielfach derart andersartige Verhältnisse antrifft, daß jeder Vergleichsmaßstab fehlt.
Man hat sich außerhalb Rußlands daran gewöhnt, nur die negative Seite des bolschewistischen oder sagen wir lieber des russischen Problems zu sehen, man vergißt dabei jedoch, daß diese negative Seite, die Zertrümmerung alles vorher Bestehenden, gleichzeitig einen sehr realen positiven Faktor im politischen Leben bedeutet. Die Bolschewiki haben nicht nur das alte System zertrümmert und seine hervorragendsten Vertreter vernichtet, sondern sie haben auch seine Wurzeln und Grundlagen in der Seele des russischen Volkes ausgerissen und damit für immer eine Wiederkehr zum Alten unmöglich gemacht, auch wenn es sich noch so sehr angepaßt und modernisiert präsentierte. Man darf sich nicht täuschen lassen durch die abfällige Kritik der Sowjets, die einem allenthalben in aller Öffentlichkeit und in Arbeiterkreisen vielleicht noch unverblümter als unter den Bourgeois entgegentritt. Gewiß, man kann mitunter selbst Leute aus dem Proletariat sagen hören: »Da war es unter dem Zaren ja noch besser.« Allein, wenn man solchen Worten auf den Grund geht, stellt sich meist heraus, daß sie nicht so ernst gemeint sind. Wenn ich beispielsweise auf solche Reden hin fragte, warum die Koltschak, Denikin und all die andern konterrevolutionären Generale nicht siegten, erfolgte regelmäßig die nach dem Vorhergehörten einigermaßen verblüffende Antwort: »Ja, die wollten allzu unverhohlen die früheren Zustände wieder einführen, und die will niemand.« Und wenn man sich näher nach den antibolschewistischen Heeren und provisorischen Regierungen erkundigt, erhält man regelmäßig selbst von abgesagten Gegnern der Sowjets das Geständnis, daß letzten Endes die Weißen doch noch schlimmer waren als die Roten, so jubelnd man sie anfangs auch als Befreier begrüßt haben mochte.
Hierin ruht die Sicherheit der bolschewistischen Machthaber, noch fester als in der ausgezeichneten, straffen Organisation der kommunistischen Partei und der Zuverlässigkeit der Roten Armee. Im Grunde will heute in Rußland niemand eine politische Umwälzung, selbst nicht die ausgesprochen reaktionären Kreise, da es zunächst keinerlei Nachfolger für die Bolschewiki gibt und jeder das mit ihrem Sturze unvermeidlich verknüpfte Chaos fürchtet. Man ist auch allgemein revolutionsmüde und will die Bolschewiki gern an der Macht lassen, wenn man nur einigermaßen in Ruhe leben und verdienen kann.
Auf das Verdienenwollen, und zwar auf das gut und reichlich Verdienen, ohne allzu viele Arbeit, kommt es heute auch in Sowjetrußland hinaus. Durch die zeitweise restlose Durchführung der kommunistischen Wirtschaft ist in Rußland der individualistische Wirtschaftstrieb nur um so stärker entfacht. Und indem Lenin durch die Einführung der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik diesem Trieb rechtzeitig ein Ventil öffnete, hat er seine Macht und vielleicht auch die endliche, wenn auch noch in weiter Zukunft liegende Erreichung seiner kommunistischen Ziele stärker gefördert als durch irgendwelche drakonischen Maßnahmen zur Durchführung der kommunistischen Wirtschaft vorher.
Das persönliche bewegliche Eigentum ist heute in Rußland in vollem Umfang freigegeben. Man kann auch als Einheimischer sich heute in Rußland Vermögen in beliebiger Höhe erwerben, und es gibt bereits wieder Millionäre, nicht nur in Sowjetrubeln. Gerade in dem luxuriösen Auftreten dieser neuen Reichen, neben denen sich unmittelbar die krasseste Armut bis zum Verhungern auf der Straße zeigt, wird der Fremde zuerst den völligen Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der kommunistischen Idee erblicken und annehmen, daß vom Bolschewismus nichts mehr übrig ist, als daß die Machthaber im Kreml äußerlich die gleichen blieben.
Die Bolschewiki haben jedoch, von dem uneingeschränkten Besitz der politischen Macht abgesehen, noch zwei Trümpfe in der Hand. Einmal den Grund und Boden, zum andern die Kontrolle der Industrie und des Außenhandels.
Der gesamte Grund und Boden ist auch heute noch in Rußland Staatseigentum. Auch die Bauern, unter die man das Land der Großgrundbesitzer teilweise aufteilte, sind nur Pächter, allerdings Pächter, denen man klugerweise das Gefühl läßt, daß sie Herren auf eigenem Grund und Boden sind, und in denen die Sowjets deshalb auch heute noch mit Recht die stärkste Stütze ihrer Macht sehen. Überhaupt ist das ganze russische Problem in allererster Linie ein Agrarproblem. Die Sowjets müssen, um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen, die Bauern weidlich mit Steuern und Abgaben plagen, die sich mitunter nur mit Hilfe der Roten Armee eintreiben lassen. Trotzdem stehen die Bauern noch zu den Bolschewiki, da sie dank den rasch einsetzenden Reformen der Koltschak, Denikin und andern davon durchdrungen sind, daß nur die Roten sie im effektiven Besitz ihres Landes lassen. Es ist durchaus ein Ammenmärchen, daß die Bauern unter dem Sowjetsystem nur das Nötigste für den eigenen Bedarf produzieren; im Gegenteil, hat Rußland nur ein paar gute Ernten, so kann es in einigen Jahren bereits wieder Getreide ausführen.
Gegenüber dem langsamen Wiederaufbau der Landwirtschaft, der durch die Mißernte und durch die Hungerkatastrophe des letzten Jahres nur aufgehalten, aber nicht zerstört werden konnte, ist das völlige Darniederliegen der Industrie ein Faktor sekundärer Bedeutung. Die Lage der industriellen Werke ist im allgemeinen jämmerlich, und die Russen aller politischen Schattierungen geben offen zu, daß sie allein nicht imstande sind, ihre Fabriken wieder aufzubauen und zu betreiben. Hier erwarten sie Hilfe in erster Linie von den Deutschen, eine Erwartung, die bisher allerdings immer wieder enttäuscht wurde. Es würde zu weit führen, hier ausführlich auf die Möglichkeiten und Aussichten für die Investierung deutschen Kapitals einzugehen, aber man muß doch immer wieder darauf hinweisen, daß die Unentschlossenheit, ernstlich mit großen Mitteln in das russische Geschäft hineinzugehen, Deutschland um eine Chance nach der andern bringt.
Gewiß, es ist kein risikoloses Geschäft und auch keines, das von heut auf morgen Gewinn abwirft. Aber auf lange Sicht ist es doch das aussichtsreichste, das heute zu machen ist. Die Sowjetregierung ist bei der Vergebung der Konzessionen durchaus nicht kleinlich und bietet von ihrer Seite bei ernstem Willen und energischem Druck alle Möglichkeiten des geschäftlichen Erfolgs, wie ja auch die kaufmännischen und industriellen Unternehmungen der Sowjetstaaten und Kommunen mehr und mehr nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen geleitet werden. In dieser Bewirtschaftung des Gemeinbesitzes nach kaufmännischen Methoden, bei stärkster Berücksichtigung des individuellen Impulses, liegt die praktisch bedeutsamste Weiterentwicklung des sozialistischen Gedankens. Gelingt es den Sowjets, ihre Industrie auf dieser Grundlage aufzubauen, so ist es möglich, daß sie damit über die schweren sozialen Erschütterungen hinaus sind, die Europa noch bevorstehen.
Mit der innenpolitischen Konsolidierung ist es jedoch noch nicht getan. Eine Überfülle außenpolitischer Probleme bedrängt Rußland. Dazu gehören nicht nur die Beziehungen zu den Großmächten, sondern auch in erster Linie das Verhältnis zu den eigenen Fremdvölkern, die die Revolution teils ganz aus dem russischen Staatsverbande gelöst, teils nur in mehr oder weniger lockerem Verhältnis zu ihm gelassen hat.
Rußland ist heute ein Bundesstaat, dessen einzelne Glieder einen sehr verschiedenen Grad von Selbständigkeit genießen. Die zentralrussischen Föderativstaaten sind kaum mehr als Provinzen, während beispielsweise die Ukraine, oder auch Buchara, wenigstens nominell, völlig selbständige Staaten sind, die nur Bündnisverträge mit Moskau verbinden.
Diese Föderativpolitik der Sowjets sollte die Schwäche des kaiserlichen Rußlands – daß die Fremdvölker nur mit Gewalt beim Reiche gehalten wurden – ausmerzen. Man ist dabei vielleicht über das Ziel hinausgeschossen und hat den Fremdvölkern mehr Selbständigkeit gewährt, als für den Zusammenhalt des Reiches dienlich ist. Der Gedanke dabei war: über die nationale Idee zur internationalen zu kommen. Allein bei Georgiern, Tataren, Sarten und vielen andern hat sich die nationale Idee derart entwickelt, daß damit die internationale und gleichzeitig die großrussische Schaden zu leiden droht. Bei längerem Aufenthalt in Rußland gewinnt man durchaus den Eindruck, daß die Randgebiete, wie Kaukasien und Turkestan, nur durch die kommunistische Partei unter dem Einfluß und der Gewalt Moskaus gehalten werden. Die Disziplin dieser Partei ist eine so eiserne, daß ihre Mitglieder und Funktionäre, die als Kommissare in den verschiedenen Regierungen sitzen, stets den Weisungen der Zentrale ihrer Partei folgen, auch wenn ihre nationalen Gefühle und die Stimmung ihrer Volksgenossen sie zu einer andern Politik drängen würden. Jedenfalls liegt die Möglichkeit vor, daß das Ende der Herrschaft der kommunistischen Partei gleichzeitig auch den Zerfall Rußlands in eine Reihe selbständiger Nationalstaaten bedeuten würde.
Gelingt es Moskau aber, über die gegenwärtige Krise hinwegzukommen und den internationalen Gedanken mit dem nationalen zu verschmelzen, dann wird die jetzige russische Föderativrepublik keinen schwächeren weltpolitischen Machtfaktor bedeuten, als es das ehemalige Kaiserreich war. Das wichtigste der Fremdenprobleme ist das Verhältnis zum Islam. Kommt eine Lösung zwischen Moskau, Angora und Kabul zustande, so übernimmt Rußland als asiatische Macht eine führende Rolle in dem bevorstehenden Befreiungskampfe Asiens.