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Rostow am Don.
Europa schläft. Über die russische Steppe jagen die apokalyptischen Reiter, und Europa sieht nicht auf. Europa ist müde. Es hat den einen, den auf dem roten Pferd, lange genug innerhalb seiner eigenen Grenzen gesehen. Es ist so gesättigt mit eigenen Schrecken, daß es stumpf geworden ist gegen fremde.
In manchen unserer Städte stehen auf den Märkten die Pestsäulen. In Chroniken liest man von dem Schrecken der Hungerjahre. Heißt es nicht in alten Gebeten: »Behüte uns Gott vor Hunger, Dürre und Pestilenz«? Wir sehen, lesen und sprechen das, ohne uns etwas dabei zu denken. Für uns ist das »Mittelalter«, und wir machen uns nicht klar, daß es heute wieder Wirklichkeit geworden, unmittelbar vor unsern Toren. In Rußland und der Ukraine sind die Reiter auf dem fahlen und auf dem schwarzen Pferd dem auf dem roten gefolgt. Hunger und Seuche ziehen über das Land.
»Sie fahren nach dem Süden?« fragte mich der lange, blonde Norweger, der Leiter der Nansenschen Hungerhilfe für die Ukraine. »Sehen Sie sich vor. Die Züge sind die schlimmsten Ansteckungsherde.«
Ich weiß es. Aber was soll ich machen? Ich habe keine Zeit zu warten, bis der desinfizierte Sonderwagen irgendeiner hohen Kommission oder eines Volkskommissars kommt und mich mitnimmt. So muß ich schon auf mein gutes Glück vertrauen, das mich auch während der Choleraepidemie auf dem Balkan und inmitten flecktyphuskranker bolivianischer Indianer bewahrte. Und dann, wo gibt es wirklichen Schutz? Als ich in Kijew mit dem Kurier auf die polnische Gesandtschaft kam, gab es ernste Gesichter: zwei neue Flecktyphusfälle. In Charkow lag der älteste Mitarbeiter des Leiters der deutschen Gefangenenfürsorge an der gleichen Krankheit darnieder. Ehe ich noch abreiste, war er daran gestorben.
Zu Typhus und Fleckfieber ist in den letzten Wochen die Cholera getreten. In Charkow nannte man mir nach meiner Ankunft die Zahl der Fälle: im Februar 100, im März 300 und in den ersten zehn Tagen des April 500. Die Seuche steht erst in ihren Anfängen; breitet sie sich aus, so wird sie unter den durch den Hunger Geschwächten fürchterlich aufräumen.
Hunger! Wir fahren, und der Hunger kommt uns entgegen. In Deutschland glauben wir während der letzten Kriegsjahre den Hunger kennengelernt zu haben, aber nach hiesigen Begriffen war es noch immer Wohlleben. Hier spricht man vom Hunger erst dort, wo effektiv kein Brot mehr vorhanden ist, nicht einmal das halbe Pfund Brot, das als Existenzminimum gilt. Ein halbes russisches Pfund, das sind 200 Gramm.
Man mag noch so viel von dem Hungerschrecken gelesen haben, klar macht man sich die Katastrophe in ihrer ganzen Furchtbarkeit doch erst, wenn man die ersten »Hungernden« gesehen hat, diese jämmerlichen Skelette in schmutzstarrenden Lumpen. Da, ein Junge; er hatte nichts weiter an als einen alten zerrissenen Pelz, der ihm nachschleppte; seine Augen verschlangen das Brot, das er in den Händen der Satten sah. Aus dem Schmutz suchte er jede einzelne Krume.
Das Brot, das in den Hungergebieten gebacken wird, besteht ja selbst zum größten Teil aus Schmutz. Kartoffelschalen und Sonnenblumenkerne sind noch seine besten Bestandteile. Man schaudert, wenn man es sieht, und man kann sich nicht entschließen, es auch nur zu kosten. Und doch ist glücklich, wer auch nur solches Brot hat. Es erschüttert, wenn man sieht, wie zur Mittagsmahlzeit der Vater oder die Mutter das Brot unter die zahlreichen Kinder verteilt, in herzlich kleinen Portionen. Und die Kinder machen sich über die schmutzig-grauen Brocken her, die aussehen wie aus Sand und Steinen zusammengebacken. Und ist das letzte Stückchen verzehrt, so wird sorgsam jede Krume zusammengekehrt und in den Mund gesteckt.
Der Hunger ist über das Land gegangen wie ein gefräßiges Tier; er hat es leer und kahl gefressen, als seien ungeheuere Heuschreckenschwärme eingefallen. Die Felder sind ohne Halm, die Bäume ohne Rinde, die Häuser ohne Dächer; längst wurde das letzte Strohdach an das Vieh verfüttert oder in das Brot verbacken.
Und wenn die letzten Surrogate verzehrt sind, wenn Hunde, Katzen, Ratten und Mäuse lange nicht mehr genossene Leckerbissen geworden sind, dann beginnt jener Zustand, in dem Menschen sinnlos schreiend hin- und herlaufen wie jenes Mädchen, das, ein halbnacktes, schmutzstarrendes Lumpenbündel, unsern Zug entlang schlich, nur noch ein einziges grauenhaftes Wimmern und kaum mehr fähig, die Brotreste anzunehmen, die man ihm reichte.
Dann fängt das zweite Stadium des Hungers an, da die dürren Leiber plötzlich aufzuschwellen beginnen, zuerst die Füße und Beine und dann der ganze Körper, bis schließlich das dritte Stadium einsetzt, in dem der Leib hart wie Leder wird und das mit dem Tode endigt.
Die Fälle von Kannibalismus und Leichenfresserei hat man in Europa als etwas Ungeheuerliches empfunden. Das Ungeheuerliche ist hier, daß in den schlimmsten Hungergebieten derartige Fälle bereits das Alltägliche sind.
Eltern schlachten ihre Kinder, Kinder fressen ihre Eltern, der Bruder die Schwester. Ein häufig vorkommender Fall ist, daß sich der Vater auf die Reise nach dem Norden begibt, um Brot herbeizuschaffen. Irgendwo am Wegrand verendet er. Inzwischen stirbt zu Hause die Mutter, und die Kinder machen sich über die Leiche her. In einem Dorfe fand man einen Jungen tot vor der Leiche seines geschlachteten Bruders, das Messer in der Hand, Reste der schauerlichen Mahlzeit noch auf den Lippen. All das wird festgestellt, protokolliert, photographiert, mit einer grauenerregenden Häufigkeit.
In manchen Gegenden, so in den griechischen Kolonien am Schwarzen Meer, haben sich richtige Menschenfresserbanden gebildet, die auf das kostbare Menschenwild Jagd machen, um es zu schlachten und zu fressen, während sich andernorts die Hungernden mit den verwilderten Hunden in die Leichen teilen.
Im allgemeinen aber stirbt das russische Volk mit einem für einen Europäer unbegreiflichen Stoizismus. Hier am Asowschen und Schwarzen Meer sind die schlimmsten Hungergebiete. Schon sind ganze Gemeinden ausgestorben. In den Städten aber kann man für Geld noch alles haben, und vor den reichbesetzten Läden schleichen und liegen die Verhungernden, ohne an Aufstand und Revolte gegen die Satten zu denken.
In manchen Leichenhallen hat man noch Lebende zwischen den Toten gefunden. Sie hatten sich eingeschlichen und neben die Leichen gelegt, um in Ruhe zu sterben und wenigstens Anspruch auf ein ordentliches Grab zu haben.
Jedes andere Volk würde sich erheben, um sich mit Gewalt aus den Ländern der Satten Nahrung zu holen. In Rußland aber sterben apathisch Millionen – in der Ukraine allein schätzt man heute bereits die Zahl der Hungernden auf 5 Millionen.
Europa braucht also nicht zu fürchten, daß die Hungernden raubend in seine Grenzen einfallen. Aber eine andere Gefahr droht: die der Seuchen. Kommt nicht rasche und ausreichende Hilfe, so müssen Typhus und Cholera in grauenhafter Weise um sich greifen, zumal es an Medikamenten so gut wie völlig fehlt. Man mag auch noch so sorgsam die Grenzen schützen, sie sind viel zu lang, um wirklich restlos gesperrt werden zu können. Und vielleicht läßt der Gedanke an das, was dann droht, auch harte Herzen die Hand öffnen.