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38. Eine Geschichte in Blut.

Eriwan.

 

Die Natur hat Armenien alle Vorzüge der Lage und des Klimas gegeben: eine Hochfläche, von Schneebergen durchsetzt, dazwischen weite Strecken fruchtbarsten Landes. Überall herrlich klare frischsprudelnde Quellen und Bäche. Eine Sonne, heiß genug, um Trauben und Früchte von wunderbarer Süße reifen zu lassen, und doch nicht zu heiß, als daß sie unerträglich würde, zumal von den Schneebergen allabendlich kühler Wind weht. Kurz, es wären alle Vorbedingungen gegeben, hier ein gesundes, glückliches Volk leben zu lassen. Vielleicht ist es nur die Tragik der Armenier, daß sie zu früh und als einzige unter allen ihren Nachbarn das Christentum annahmen. Dadurch waren sie ständig von einer fremden feindlichen Welt umgeben, und einer kurzen Blüte nationaler Selbständigkeit folgte eine Unterdrückung, eine Fremdherrschaft nach der andern.

Es ist erstaunlich, daß sich trotz dieser jahrhundertelangen Unterdrückung die nationale und kulturelle Eigenart des armenischen Volkes bis heute erhielt. – Ich wandere durch die Bibliothek des Klosters Etschmiadsin und staune über die Fülle der wertvollen dort aufgestapelten Bücher und Handschriften.

Etschmiadsin ist das älteste armenische Kloster, vielleicht das älteste Kloster überhaupt. Es ist der Sitz des Katholikos, des Oberhauptes der armenischen Kirche, unter dem die beiden Patriarchen von Konstantinopel und Jerusalem stehen. Die Kathedrale aus dem sechsten Jahrhundert muß einmal wunderbare Wandmalereien besessen haben. Jetzt sind nur noch Bruchstücke davon erhalten. Dafür hat man ein paar sehr wenig schöne moderne Bilder hineingehängt. Dann ist da noch ein Museum, das alles enthält: von alten Keilinschriften bis zu modernen deutschen Lithographien aus der biblischen Geschichte, einem Geschenk des Leipziger Orient-Reise-Klubs, der vor dem Kriege einmal Gast in Etschmiadsin war, und von wertvollen alten Miniaturen und Goldarbeiten bis zu einer höchst wertlosen Sammlung armenischen Sowjetgeldes.

Keinerlei Erinnerung findet man jedoch in Etschmiadsin an die zahlreichen Massaker, wie überhaupt die Selbstverständlichkeit erschreckend ist, mit der die Armenier diese ganze blutige Frage behandeln. Massaker hat es immer gegeben; das ist kaum etwas, sich groß darüber aufzuregen. Dabei hat man hier die vielen Tausende von Waisen vor sich, die von den amerikanischen Unterstützungskomitees aufgezogen werden und die einem die ganze grausige Wirklichkeit der letzten Jahre ständig ins Gedächtnis zurückrufen.

Natürlich liegen die Dinge nicht so, daß die Armenier immer nur die reinen Unschuldslämmer waren. Armenier haben es mir gegenüber selbst zugegeben, daß es ein schwerer Fehler war, sich bei Ausbruch des Weltkrieges von den Alliierten dazu verleiten zu lassen, die Waffen gegen die Türkei zu ergreifen. Wenn dies auch keine Entschuldigung bildet für die darauffolgenden furchtbaren Unterdrückungsmaßnahmen der Türken, so fällt doch letzten Endes die Verantwortung auf die Alliierten, genau so wie für die tragischen Schicksale des tapferen kleinen assyrischen Volkes vom Urmiasee, das sich auch von der Entente in einen aussichtslosen Krieg gegen Türken und Kurden hineinhetzen ließ und dann im Stich gelassen wurde. Man kann heute unter Assyrern und Armeniern sehr bittere Stimmen über das einst bewunderte und verehrte Frankreich hören.

So unerhört nun die Opfer der Armenier im Weltkrieg auch waren, – man schätzt sie auf eine Million, das ist ein Viertel aller in der ganzen Welt lebenden Armenier –, so brachte der Krieg ihnen endlich doch die seit Jahrhunderten ersehnte Selbständigkeit. Allerdings eine Selbständigkeit diminutiver Art; denn der nach der Kerenski-Revolution gegründete armenische Staat umfaßt noch nicht einmal das ganze russische Armenien. Außerdem war es eine von tausend Gefahren und Feinden umgebene Selbständigkeit. Die aus Kadetten und Anhängern der Daschnaktsakan, der alten revolutionären Freiheitspartei, gebildete Regierung sah sich auf der einen Seite den Türken, auf der andern den Bolschewiki gegenüber.

Im November 1920 griffen die Türken unvermutet Kars an. Die Armenier wurden völlig überrumpelt. Die Festung fiel ohne einen Schuß. Man schreibt die schmähliche Übergabe der Propaganda der Bolschewiki zu, die von Osten her gegen die armenische Grenze vorrückten.

Nach dem Fall von Kars legten die Daschnaktsakan die Regierung in die Hände der Bolschewiki. Trotz dieser freiwilligen Machtübergabe und trotzdem das ganze Volk die bolschewistische Herrschaft wünschte als Schutz gegen die Türken, fingen die Russen sofort mit einer grausamen Unterdrückungspolitik an. Eine Fülle von Arrestationen, Deportierungen und Füsilierungen folgten aufeinander. Schließlich erreichte die Erbitterung ein solches Maß, daß am 18. Februar 1921 ganz Armenien sich wie ein Mann erhob und nach blutigen Kämpfen die Russen verjagte. Das sogenannte Errettungskomitee aus Daschnaktsakan und Sozialrevolutionären übernahm die Regierung. Jedoch bereits im April kamen die Russen mit starken Kräften zurück, und Armenien wurde abermals bolschewistisch. Allerdings war die Politik der Russen bei dieser zweiten Besetzung eine ganz andere, und sie nahmen nunmehr auch in Armenien die gleiche versöhnliche und liberale Haltung ein wie in Georgien.

Heute ist in ganz Armenien von einem irgendwie nennenswerten Widerstand gegen die Herrschaft der Sowjets wohl kaum die Rede. Natürlich gibt es noch nationalistische Aspirationen, allein die große Mehrzahl des Volkes ist viel zu froh, daß die gegenwärtige politische Ordnung ihnen erlaubt, in relativer Sicherheit zu existieren, als daß irgendwie antibolschewistische Propaganda Fuß fassen könnte.

Jahrhundertelange Leiden haben allerdings die Armenier mißtrauisch gemacht. So fürchten sie, daß die Sowjets sie einmal aus politischen Gründen der Türkei opfern könnten, wie sie den Türken schon die Wilajete Bitlis, Wan, Erserum und sogar Kars preisgaben. Oder man fürchtet, daß die Engländer das Bedürfnis nach einem armenischen Pufferstaate gegen Russen oder Türken haben könnten, dessen Schaffung für Armenien selbst nur neue Leiden und Opfer bedeuten würde. Und so mag es denn sein, daß die Geschichte dieses unglücklichen Volkes noch nicht das letzte mit Blut geschriebene Blatt aufweist.


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