Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Straße, von der hier erzählt werden soll, muß der Leser nicht notwendig passiert haben; es geht auch so. Es genügt, zu wissen, daß diese Straße über den Dreibuckelberg führt, der zwischen Abelsberg und Siedeldorf steht, daß sie stundenlang ist und daß der einsame Wanderer sich vor Räubern fürchten darf, ohne ausgelacht zu werden. Denn es begegnet ihm auf dem ganzen Weg niemand, der ihn auslachen könnte; nicht einmal ein Räuber. Die Fuhrleute, als die Roheisenführer aus dem Oberland und die Mostführer aus dem Unterland, und die Holzkohlenwagen natürlich nicht zu rechnen. Auf der ganzen Strecke über Heideland, Almen und Legföhrenbestände nicht ein einziges Haus, mit Ausnahme der Wegmachershütte, die unter einigen Fichten in der Nähe eines Brunnentroges steht und für den alten Wegmacher und seine Tochter die Woche über nur als dürftiger Unterstand dient. Aber auch nur für die Nacht und bei besonderem Unwetter. Ansonsten aber sitzen die zwei Leutchen an irgendeinem Felswändlein, wie sie hin und hin am Wege stehen, und zerschlagen mit ihren langstieligen Schlägeln die größeren Steine in kleinere, schichten diese in Schotterhaufen, darauf sie zu Mittag sich wie auf ein Sofa setzen und aus dem Zwielingstopf ihre Mahlzeit verzehren. Den Alten sehe ich in grauem Zwilchgewand, von den Steinen kaum zu unterscheiden. Die Junge aber will unterschieden sein und von den lustigen Fuhrleuten nicht für einen Stein angesehen werden. Deshalb hat sie, die Barfüßerin, gern ein lichtblaues Küttlein an und ein rotes Tuch über dem Busen. Darauf rief ihr jener Mostführer »Guten Tag!« zu und knallte mit der Peitsche. Wenn es war, daß der alte Wegmacher weiter oben oder weiter unten mit der Radeltruhe die Straße schotterte und die Junge allein bei ihrem »Steinerschlagen« saß, ließ der Mostführer wohl auch einmal die Pferde rasten, setzte sich zu ihr, befühlte mit zwei Fingern den Rand des roten Tuches und fragte, was es gekostet habe. Weil aber Steinschlägerinnen das Schlagen schon gewohnt sind, so schlug sie ihn auf die Finger, – aber durchaus nicht mit dem Eisenschlägel, sondern mit der Hand, ganz glimpflich, so daß es der Zutäppische auf weiteres ankommen lassen wollte. Nämlich auf die Frage, ob sie das schöne rote Tuch ihm denn nicht verkaufen wolle. Er habe einen Schatz und möchte, daß der auch so was Schönes über der Brust trage. Da sprach sie, das Tuch allein sei nicht feil.
Desselben Weges kam auch manchmal ein Landwächter, so einer, wie sie vom Abelsberger Kreisgericht im Lande herumgeschickt werden, um über Sicherheit und Ordnung zu wachen, wie auch, um allfällig Räuber, Mörder und andere Missetäter einzufangen, die den Nächsten schädigen oder die gute Sitte verletzen. Der Landwächter hatte einen schwarzen Federhut auf, trug ein Bajonett an der Seite und hinten ein Schußgewehr, deren weiße Riemen sich auf der breiten Brust kreuzten, weshalb er von Leuten, denen solche Gestalten mißliebig sind, die Kreuzspinne genannt wurde. Auch hatte der Mann am Riemen ein paar Handschließen hängen für solche, denen die Einladung, im Namen Seiner Majestät freundlichst mitzukommen, nicht genügte.
So marschierte der Landwächter denn auch manchmal durch diese Gegend, um auf der langen Straße über den Dreibuckelberg nach dem Rechten zu sehen. Saß bisweilen auf dem Schotterhaufen bei den Steinschlagerleuten und erkundigte sich, ob sie keinen Spitzbuben gesehen. Der Alte wußte keinen rechten Bescheid zu geben, denn er konnte die Spitzbuben von den anderen Leuten nicht unterscheiden, »weil's halt leider Gottes noch immer keine Spitzbubenuniform gibt.« Die Junge hingegen meinte, dem Landjäger schalkhaft zublinzelnd, fast alle Mannsbilder seien Spitzbuben, ausgenommen . . . Und machte vor dem Kaiserlichen einen Knicks. Nun, in manchen Stücken wollen auch die Kaiserlichen keine Ausnahme machen; und so meinte er, daß es auf dem Steinhaufen nahezu besser sitzen sei als auf der Holzbank in der Wachtstube.
Und eines Abends, es war schon spät, marschierte der Landwächter wieder einmal die Straße entlang von Siedeldorf gen Abelsberg. Er war heute in nicht geringen Sorgen. Unten auf der Heide war er dem alten Steinschläger begegnet, der die stumpf gewordenen Steinbrecheisen zum Dorfschmied tragen mußte, um sie schärfen zu lassen. Da wolle der Steinschläger über Nacht in seinem Dorfhäuschen bleiben und am nächsten Morgen wieder in den Steinbruch hinaufgehen. Der Landwächter fragte nicht weiter, obschon es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. Um so größer ward aber seine Besorgnis, die Junge möchte über Nacht allein – mutterseelenallein – in der Wegmachershütte verbleiben und Gefahren ausgesetzt sein. Denn wer bürgt, daß nicht ein schlechter Schelm oder ein Zigeunergesindel des Weges kommt und die arme Einschichtige überfällt? Wem obliegt es, wachsam zu sein, das Stromervolk abzupassen und abzufassen?
Und als er zur Hütte hinaufkam und im Fensterchen den Lichtschein sah, ging er hinein. Der unversperrte Vorraum war eng und die Kammer mochte wohl auch nicht viel geräumiger sein. So machte er sich's bequem im Vorgelaß auf dem Brett, zog aus seinem Glanzledertornisterchen Brot, Speck und Schnaps und hielt Abendmahl. –
Und nun die Geschichte von der anderen Seite. Wohl dem, der Freunde hat, die ihn auch in der Gefahr nicht verlassen! Vom Mostführer war es durchaus nicht ein müßiges Tändeln gewesen, wenn er auf dem Schotterhaufen mit der jungen Steinschlägerin scherzte. Jetzt, als er unten beim Wirt in Siedeldorf sein Fuhrwerk eingestellt hatte und als der alte Steinschläger in die Zechstube trat, um einen Krug Most zu trinken, obwohl weder Samstag noch Sonntag war, fiel ihm wie ein Steinschlägel der Gedanke aufs Herz: die Junge oben allein? Er verzehrte aber gelassen seinen Schafbraten, trank ein Glas Sausalerwein dazu und schloß dann mit dem Wirt ein Apfelmostgeschäft ab. »Der Most trinkt sich wie Sausalerwein,« versicherte der Führer, »wirst es schon sehen, Wirt; deine Gäste werden's auch sagen.« Der Wirt verstand und so war der Handel richtig. Bald darauf verzog sich der Mostführer durch das Gehöft hin und hinten hinaus und im Dunkeln die Bergstraße anwärts. Er ging länger als eine Stunde. Es stieg über dem Waldrücken der Mond auf, den bald die Wolken verdeckten. Es strich ein lauer Wind, – Wetterwind. In solchen Nächten achtet man weder Most, Mond noch Wind; sein Herz gehörte der Freundschaft zum verlassenen Dirndl. Endlich kam er zur Steinschlägerhütte. Sie war dunkel, daneben rieselte der Brunnen und in den Fichten rauschte der Wind. Er drückte mit der flachen Hand vorsichtig an die äußere Tür: sie wich lautlos zurück. Er stand im Gelaß und horchte. Es war ganz finster, er wollte aber nicht stolpern, ihr nicht einen Schreck einjagen, wenn keiner nötig ist. Ein Zündhölzchen strich er über den Oberschenkel: da ging ihm ein Licht auf, – aber was für eins! Auf dem Sitzbrett lagen Tornister, Gewehr und Bajonett . . . Na also! So wird sie ja ohnehin bewacht.
Den Augenblick, als der Wind lebhaft rüttelte an der Hütte, nahm er wahr, um die Sachen zusammenzuraffen; damit eilte er zur Tür hinaus, hastig hinan unter die Fichten.
Der Mostführer war Soldat gewesen; in der Reserve stand er noch: so wußte er mit Waffen umzugehen. Den Federhut setzte er aufs Haupt, schob das Sturmband unters Kinn, hing die Bajonettscheide um; das Messer selbst steckte er an das doppelt geladene Gewehr. Die Handschellen öffnete er und hing sie bereit an den Riemen. So! Jetzt sind wir die Kreuzspinne, jetzt werden wir einmal Mücken fangen. Und Landwächter, und was überhaupt ins Netz geflogen ist. Er wieherte vor Vergnügen; der Spaß, den er vorhatte, war zu lustig!
Der Mostführer in solcher Rüstung schlich an die Tür, in das Vorgelaß und klebte ein brennendes Wachszündstäbchen an den Gewehrkolben. So schlich er und pochte mit starker Faust an die innere Tür. Drinnen ein Gepolter.
»Wer ist's?« kreischte eine weibliche Stimme.
»Patroull' ist da!« rief der Mostführer, stieß die Tür auf und drang mit vorgehaltener Waffe ein.
Der in Unordnung geratene Landwächter lachte zuerst überlaut, denn er glaubte, einen Kameraden vor sich zu sehen, der einen Scherz machte. Als er aber bemerkte, daß es seine eigenen Sachen waren, mit denen der Gegner anrückte, daß er es möglicherweise mit einem Wahnsinnigen oder gar Eifersüchtigen zu tun hatte, verging ihm das Lachen. Der Mostführer erklärte den Landwächter für verhaftet.
Der wollte sprechen, der andere aber bedeutete kurz und fest: »Geredet wird nix. Wenn's dem Herrn nit recht ist, so druck' ich los.«
Der Landwächter versuchte Einwände, wollte alles auf die spaßhafte Achsel nehmen; lauerte dabei auf einen Moment, sich der Waffe zu bemächtigen, was aber bei der Gewandtheit des anderen aussichtslos, ja gefährlich schien. Und als der Feind zu fluchen begann und immer wüster fluchte, fing der Landwächter zu bitten an. Dabei faltete er die Hände. Das war dem Mostführer just recht. Eine schnelle Schlingung, ein Einschnalzen der Feder, – und der arme Sünder war gefesselt mit seinen eigenen Handschließen.
»Gut ist's!« sagte der Mostführer, als dieses Stück gelungen war und er ein frisches Kerzchen anzündete; »jetzt wollen wir uns gemütlich unterhalten. Nachher spazieren wir miteinander aufs Kreisgericht.«
Die junge Steinschlägerin war nicht mehr da. Auf einen Augenblick hatte der Führer sie vorher gesehen, aber ohne das rote Tuch, das er kaufen wollte. Die Wollendecke hatte sie an sich gerissen, zum Loch hinaus war sie gewirbelt in die schützende Nacht, zweien guten Freunden auf einmal entkommen.
Mit einem wehmütigen Seufzer hob der Mostführer seine Stimme und sagte zum Landwächter: »Also gehen wir!«
Unterwegs wurde der Landwächter mehrmals aufgeregt und wollte die Offensive ergreifen.
»Aber Bübel, was fällt dir ein!« beruhigte der Mostführer. »Den Most laßt man erst laufen, bis er gegoren hat. Ein bissel Buße tun! Und dir's auf längere Zeit merken, daß man anderen ihre Weibsbilder in Ruh' laßt!« Das könnte ich mir eigentlich auch selbst merken, redete jetzt vorlaut sein Gewissen drein, denn mich ginge sie, die da oben, weiter auch nichts an.
»Da in meiner Westentasche steckt eine silberne Sackuhr,« sagte dann, milden Sinnes, der Gefangene; »sie gehört dein, wenn du mir meine anderen Sachen jetzt gibst!«
»Du, das ist mir zu gefährlich!« lachte der Mostführer, »du könntest den Spieß umkehren.«
»Ich versprech' dir . . .«
»Das hilft nichts, weil ich's nicht glaub'. Am gescheitesten ist's, du machst flink voran, daß uns der Tag nicht ertappt, eh wir ins Stadtl kommen. Weißt, die Stadtfrauen sind neugierige Dinger. Die möchten's gleich wissen wollen, wer es ist, der in Strümpfen.«
Also keine Rettung. Der Landwächter gab sich drein. Noch gibt's eine höhere Macht!
Es war frühmorgens, als dem Kreisrichter, der beim Kaffee saß und Knaster stopfte, gemeldet wurde, der Landwächter habe wieder einmal einen aufgelegten Spitzbuben gebracht und sie täten warten draußen im Saal. Da ging der Richter sogleich hinaus, denn die aufgelegten Spitzbuben waren ihm noch die lieberen der Gattung. Der gefesselte Landwächter lauerte hingeduckt an der Wand, er erkannte ihn augenblicklich; der Mostführer in Waffen stand soldatisch da, legte seine Hand an die Schläfe und rapportierte: »Herr Kreisrichter! Ich habe in der vergangenen Nacht diesen Menschen bei jemandem gefunden, bei dem er nichts zu tun hat. Er hat was anderes zu tun als wie so was; und er hat einen Staatsmißbrauch begangen, Herr Richter! Und deshalb habe ich ihn abgefangen und eingeführt, daß er seine Straf' kriegt. Da ist er.«
Der Richter war ein kleiner buckliger Mann mit grauem Schnurrbartbusch; er lachte immer fröhlich und war dabei ein gar gestrenger Herr. Alsbald durchschaute er die Angelegenheit. Den armen Sünder ließ er stehen, wie er stand, und verhörte ihn nicht, hingegen befahl er freundlich dem Mostführer, die Waffen abzulegen und sie dem Gerichtsdiener zu übergeben. Als dieses geschehen war, lachte der Richter und sprach: »Mir scheint, das ist ein schwieriger Fall. Du, der du den da gebracht hast, bist wohl der Landwächter! Dann ist der da, den du eingeführt hast, nicht der Landwächter, hat also keinen Amtsmißbrauch begangen. Du hast den Mann also unrechtmäßigerweise festgenommen und sollst deshalb gebührend gebüßt werden.«
»Herr Richter!« antwortete der andere: »Ich bin nicht der Landwächter, sondern heiße Sebastian Grünauer und bin Fuhrmann zu Siedeldorf. Ich hab' den Landwächter abgefangen, weil er oben in der Wegmachershütte einen Amtsmißbrauch begangen hat, den ich nicht weiter zu sagen brauch', weil sich's der Herr Richter selber denken kann.«
»Ich kann mir's denken« – der Richter lachte munter auf –, »aber ich denke halt auch etwas anderes, mein Lieber! Die Gesetzparagraphen sind mir augenblicklich nicht im Kopf, Sie werden schon entschuldigen: die Sache wird nachher ohnehin schriftlich gemacht. Wir stellen jetzt den Fall fest. Sie können sich niedersetzen, wenn Sie wollen. Tun's lieber stehen? Na, ist auch gesünder. Das Ding ist so: Wenn Sie nicht der Landwächter sind, sondern ein Fuhrmann, so geht Sie der Amtsmißbrauch des Landwächters nichts an. Sie haben den Mann gefesselt, also ihn an seiner freien Bewegung gehindert: Eingriff in die persönliche Freiheit; haben ihm auch gedroht: Vergehen gegen die persönliche Sicherheit. Strafbar. Sie haben einer Amtsperson den gebührenden Respekt verweigert, haben sich sogar an ihr tätlich vergriffen: Verbrechen der Auflehnung gegen die Obrigkeit, Verbrechen der Gewalttätigkeit im allgemeinen, der Gewalttätigkeit gegen ein behördliches Organ im besonderen. Strafbar. Sie haben dem Landwächter Kleidung, Waffen und so weiter weggenommen: Verbrechen der Entwendung persönlichen Eigentums, Verbrechen des Raubes landesherrlicher Gegenstände. Sehr strafbar. Sie werden also entschuldigen, Sebastian Grünauer, daß ich Sie ohne weiteres, unter Anwendung besonderer Milderungsgründe, zu acht Monaten Arrest verurteile. – Zu Hause alles wohl? Na, schön! . . . Zetlischek, geben Sie dem Sternbacher seine Sachen, daß er sich zurechtbringt und den Mann gleich auf Nummer Sieben führen kann.«
Als der Mostführer sich sehr bald darauf in dem wohlverwahrten schattigen Stübchen fand, war er just einmal verblüfft. Ich habe ja bloß einen Scherz getrieben, dachte er, und das vom Kreisrichter wird doch wohl um Gotteswillen auch Scherz sein! Als er aber nachher das schriftliche Urteil zu Gesicht bekam: »Im Namen Seiner Majestät« und mit dem großen Gerichtssiegel, da wurde ihm übel.
Dann stellte er auf seiner Nummer Sieben – Zeit hatte er dazu – mancherlei Betrachtungen an und faßte Vorsätze, was er in seinem Leben nie wieder tun werde. Er werde sich nie mehr in etwas mischen, das nicht seine Pferde und Mostfässer betrifft. Er werde nie mehr einen weiten Weg gehen, um bei der Nacht eine Steinschlägerstochter zu beschützen. Am allerwenigsten aber werde er je noch einmal einen Landwächter vor den Richter schleppen.