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Die Sonne stand schon zwei Stunden am Himmel, als Cornelis durch heftiges Klopfen an seiner Tür von wirren Träumen befreit wurde. Noch ganz benommen von der lebendigen Vorstellung eines entsetzlichen Erlebnisses hatte er kaum »Herein« gerufen, als Freund Kampen mit strahlendem Gesicht eintrat.
Schon beim Überschreiten der Schwelle rief er lachend: »Das nenne ich einen gesunden Schlaf! Guten Morgen, Mynheer! Während Sie hier Kraft zu künftigen Taten sammeln, habe ich bereits eifrig gewirkt. Alle sind begeistert von meinem Plan. Darling besitzt Zelte; die werden mitgenommen, damit wir nicht vom Boot abhängig bleiben. Hopkinson hat auch eine nette Ausrüstung, die uns zustatten kommt. Ich sage Ihnen, es wird fein!«
Die Fensterläden öffnend, hatte er beim Sprechen das helle Tageslicht eindringen lassen. Nun trat er wieder an das Bett zurück, dessen Moskitonetz inzwischen von innen zurückgeschlagen worden war.
»Aber Mann, was machen Sie für ein bekümmertes Gesicht?« fuhr er erstaunt fort, als er den gramvollen Ausdruck des ihm Entgegenblickenden erkannte. »Ach so, in meinem Eifer vergesse ich, daß Sie sich um Ihren Bruder sorgen – unnötigerweise, davon bin ich fest überzeugt! Sie werden sehen, übermorgen haben wir ihn eingeholt, und dann wird er mit Vergnügen das Zinn, das jahrtausendelang ungestört im Boden ruhte, noch ein paar Tage länger ruhen lassen und sich uns anschließen. Auch sein Freund soll willkommen sein.«
Ganz von den eigenen Plänen erfüllt, redete er, am Bett sitzend, in dieser Weise frisch drauflos, bis ihm eine müde, abwehrende Handbewegung des im Bett Liegenden auf einen anderen Gedanken brachte.
»Sie sind doch nicht krank?« fragte er in ehrlich besorgtem Ton.
Cornelis schüttelte den Kopf.
»Nein, lieber Kampen, das ist nicht die Ursache, warum Sie mich noch im Bett finden. Ich hatte eine sehr unruhige Nacht. Als ich gestern von Ihnen hierher zurückkehrte, empfing ich die Gewißheit, daß mein armer Bruder auf schreckliche Weise ums Leben gekommen ist.«
Die Stimme versagte ihm, und er wandte sich ab, um seine Bewegung zu verbergen. Sein Freund zuckte wie vom Schlage gerührt zusammen, und eine Zeitlang herrschte zwischen ihnen beklommenes Schweigen.
Endlich sagte Kampen leise: »Armer Jan! Bitte, lassen Sie mich wissen, wie dies geschehen konnte, und wer Ihnen die Nachricht brachte« – in aufrichtiger Teilnahme drückte er die auf der Bettdecke liegende Hand – »ich möchte auch in diesem Fall gern bis zum Äußersten hoffen, wenn nur im geringsten die Möglichkeit dazu vorhanden ist.«
Cornelis blickte ihn traurig an, und mit einem Versuch zu lächeln erwiderte er: »Ich weiß, Sie sind ein unverbesserlicher Optimist, aber diesmal … Urteilen Sie selbst! Ich will mich schnell ankleiden und Ihnen unterdessen alles erzählen, so gut ich es vermag.«
Vor der überzeugenden Wucht der Berichte und Tatsachen hielt auch Kampens gute Zuversicht nicht stand, und als Cornelis ihn am Schlusse fragte, ob er hiernach wirklich hoffen dürfe, Jan in dieser Welt noch einmal wiederzusehen, blieb er stumm.
»Ich gehe gleich, unsere Freunde zu benachrichtigen, daß unser Jagdausflug nun selbstverständlich unterbleibt,« sagte Kampen dann, indem er sich erhob und Cornelis zum Abschied die Hand entgegenstreckte.
Doch dieser hielt ihn zurück.
»Die traurige Begebenheit hat ein Nachspiel, das höchstwahrscheinlich nicht minder traurig verlaufen wird, wenn nicht schnelles, tatkräftiges Eingreifen erfolgt. Wie ich Ihnen sagte, ist Jans Freund Arnold Hemskerk in der Erwartung, ihn auf dem Flusse zu treffen, abgefahren, begleitet von Menschen, die nach allem, was geschehen ist, unbedingt Böses im Schilde führen. Es war mir heute nacht, als ob Jan mich bäte, ihn zu warnen, und ich bin entschlossen, so schnell wie möglich ihm nachzufahren. Weiß der Himmel, was dort in der menschenleeren Wildnis vor sich gehen sollte! Vielleicht kann ich ein zweites Verbrechen verhüten; jedenfalls will ich versuchen, mich auf diese Weise nützlich zu machen.«
Nun blitzten Kampens Augen in neuerwachendem Tatendrang.
»Selbstverständlich steht Ihnen auch zu diesem Unternehmen mein Boot zur Verfügung,« sagte er schnell.
»Aber das wird kein fröhlicher Jagdausflug,« warf Cornelis ein.
»Eine Jagd wird es doch! Zwar nicht auf wilde Tiere, wie wir geplant hatten, dafür aber auf Gesindel, das sich vielleicht nicht weniger wild zeigt, sobald es unsere Absichten erkennt. Es wird uns allen eine große Befriedigung sein, wenn es uns gelingt, zu einem guten Ausgang dieser Sache beizutragen – uns allen! Denn ich bin sicher, daß keiner meiner Freunde infolge der Änderung des Planes seine Zusage zurückzieht. Und wir brauchen entschlossene Männer, die es erforderlichenfalls mit der Bande aufnehmen können, in deren Gewalt sich Jans Freund befindet! Ich eile, sie zu benachrichtigen und, wenn möglich, in aller Eile noch mehr solcher Teilnehmer anzuwerben. Je zahlreicher wir auftreten, desto größer ist die Aussicht, daß wir ohne Blutvergießen zum Ziel kommen.«
»Wenn es nicht überhaupt schon zu spät ist,« fügte Cornelis gedankenvoll hinzu.
Als Kampen die Tür öffnete, um sich auf den Weg zu machen, hatte gerade ein anderer die Hand erhoben, um anzuklopfen.
»Guten Morgen, Mister Ellis,« sagte Kampen und schüttelte dem Polizeibeamten freundschaftlich die Hand. »Sind Sie etwa der Herr, der gestern abend meinem Freund Hollebeek so traurige Nachrichten gebracht hat?«
»Das war leider meine Aufgabe,« sagte der Eintretende, und nachdem er auch Cornelis begrüßt hatte, fuhr er, zu diesem gewandt, fort: »Entschuldigen Sie, daß ich bis hierher vordringe, obwohl man mir unten sagte, daß Sie noch nicht zum Frühstück erschienen seien. Aber ich habe keine Zeit zu verlieren und durfte ja auch sicher sein, daß Sie mich nicht abweisen würden. Herr Kampen ist wohl in alles eingeweiht?«
»Ja, in alles, was unsere Angelegenheit betrifft! Sprechen Sie also, bitte, ohne Umschweife! Ich bin sehr gespannt, mehr zu hören.«
Kampen bat, unter diesen Umständen bleiben zu dürfen, worauf alle Platz nahmen.
»Es war spät, als ich Sie verließ,« begann Ellis seinen Bericht. »Deshalb bin ich nicht erst zu Bett gegangen, sondern habe gleich meinen Schlachtplan ausgearbeitet. Bei Sonnenaufgang war der Hauptschuldige, der Oberste des Geheimbundes, in unserer Gewalt.«
»Ich habe in Zinngeschäften mit Li Fu zu tun gehabt,« unterbrach Kampen gespannt. »Hat er gestanden?«
Ellis schilderte die Vorgänge bei der Verhaftung und fuhr dann fort: »Vor den Zeugen, die wir ihm gegenüberstellten, hätte sich auch der verstockteste Sünder verloren geben müssen. Li San hat ihm hart zugesetzt. Als dann aber Ah Ling vorgeführt wurde, der unter dem Druck anderer Zeugenaussagen inzwischen bereits gestanden und dabei, um sich selbst möglichst zu entlasten, alle Schuld seinem Herrn und Meister zugeschoben hatte, da gab es kein Leugnen mehr, dafür aber ein verzweifeltes Ringen zwischen diesen Erzschelmen, die wahrscheinlich beide den Galgen als drohendes Gespenst vor sich sahen. Schließlich änderten sie ihr Verfahren. Daß sie beide an der Ausführung des Verbrechens teilgenommen hatten, formten sie nicht bestreiten. Aber nun betonten sie voll Eifer, daß Haydock es gewesen sei, der den abscheulichen Plan ausgeheckt habe, die beiden holländischen Ingenieure so verschwinden zu lassen, daß man annehmen müsse, sie seien den Gefahren der Wildnis zum Opfer gefallen. Haydock habe Ihren Bruder hier durch Ah Ling dem Geheimbund in die Hände gespielt und ferner so zu handeln versprochen, daß dessen Freund nie fähig sein würde, die Behörden in Bewegung zu setzen. Als ich zu zweifeln vorgab, sagte Ah Ling frech: ›Warten Sie doch, ob der Holländer lebend zurückkehrt!‹ Ich fürchte hiernach sehr, daß das Leben dieses Herrn Hemskerk ebenfalls in allergrößter Gefahr schwebt, und wenn auch er ermordet werden sollte, dürfte es seinen Angehörigen und Freunden nur ein schwacher Trost sein, daß alle an dem Verbrechen Beteiligten der verdienten Strafe nicht entgangen sind.«
»Sehr richtig, mein lieber Mister Ellis! Deshalb wollen auch seine Freunde nicht warten, bis es zu spät ist, sondern jedenfalls den Versuch machen, das zweite Verbrechen zu verhüten,« sagte Kampen, und auf Cornelis deutend, fuhr er fort: »Herr Hollebeek wollte seinem Bruder nachforschen. Da er ihm leider nicht mehr helfen kann, hat er sich zu dem Versuch entschlossen, dessen Freund aus den Händen der Bande zu retten.«
»Was mir nicht möglich wäre, wenn Sie, lieber Kampen, mich nicht so bereitwillig unterstützen wollten,« ergänzte Cornelis schnell. »Herr Kampen hat mir zu diesem Zweck sein großes Motorboot zur Verfügung gestellt,« erklärte er dem Beamten. »Noch heute nachmittag werden wir in Gesellschaft einiger freiwilliger Helfer aufbrechen.«
»Das heißt wirklich der Polizei zuvorkommen,« sagte Ellis in anerkennendem Ton. »Was Sie da vorhaben, ist natürlich auch für uns von größter Wichtigkeit. Eine Expedition in die Wildnis auszurüsten, um Verbrecher zu fangen, die uns doch nicht entgehen können, kommt für uns nicht in Betracht. Da Sie aber aus einem Grunde, den ich hoch anerkenne, die Unternehmung auf eigene Faust ausführen wollen, möchte ich mir die Frage gestatten, ob ich wohl mitfahren dürfte.«
»Selbstverständlich,« rief Kampen erfreut, und auch Cornelis drückte lebhaft seine Zustimmung aus, empfanden doch beide, daß sie sich einen für ihre Zwecke nützlicheren Begleiter gar nicht wünschen konnten als diesen entschlossenen Mann, der in seinem Beruf Erfahrungen gesammelt hatte, wie den gefährlichen Burschen, mit denen man es zu tun haben würde, am besten beizukommen war.
Man merkte Ellis an, wie er das Unternehmen nun völlig als ernste Berufsangelegenheit bewertete.
Nach kurzem Überlegen fragte er: »Wäre noch für einige weitere Teilnehmer Platz?«
»Es muß sich natürlich einrichten lassen, wenn Sie es für richtig halten, unsere Zahl zu erhöhen. Sie denken offenbar daran, einige Ihrer Beamten mitzunehmen?«
»Ja.«
»Dann müßten wir uns eben mit weniger Dienerschaft behelfen oder im Vertrauen auf gutes Wetter bei der kurzen Seefahrt die Eingeborenen auf einem angehängten Boot nachschleppen. Das würde allerdings die Fahrgeschwindigkeit erheblich beeinflussen.«
»Dann möchte ich davon abraten. Wenige Stunden können über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden, und es wäre doch trostlos, wenn wir zu spät kämen, weil wir nicht auf die übliche Bedienung verzichten wollten.«
Die beiden anderen stimmten ihm lebhaft zu, und Kämpen rechnete nun vor: »Für das Boot brauchen wir zwei Mann; ein dritter muß als Koch und Diener für die ganze Gesellschaft genügen. Ich werde schon einen unter meinen Leuten finden, der für doppelten Lohn doppelte Arbeit leisten will. Kommen Sie, Mister Ellis, wir besprechen das weitere unterwegs. Wenn nötig, wollen wir uns wie eingepökelte Heringe zusammendrängen, um Platz zu schaffen.«
»Man muß alle Möglichkeiten im Auge behalten,« sagte der Beamte, indem er gleichfalls aufstand. »Ich denke an den Fall, daß wir es gleichzeitig mit Haydocks Gesellschaft und der Bande zu tun bekommen, die Ihr armer Bruder, Herr Hollebeek, von dem berüchtigten Wong Tsau hat anwerben lassen. Seit heute früh weiß ich, welch gefährlicher Bursche das ist. Chinesen sind im allgemeinen feige Gesellen; aber wenn solche Burschen sehen, daß es ihnen an den Kragen geht, können sie recht unangenehm werden. Gewehre, Revolver und Munition stehen in beliebiger Menge zur Verfügung; aber das können wir ja unterwegs regeln.«
Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, hörte Cornelis sie im Weggehen eifrig weiter beraten. Auch ihn befriedigte der Gedanke, zur Rettung des Landsmannes beizutragen. Und doch – wie viel freudiger hätte er sich der freiwillig übernommenen Aufgabe gewidmet, wenn er hätte hoffen dürfen, daß seine Mitwirkung den: eigenen Bruder zugute kommen könnte!
Aber jetzt war nicht die Zeit, trüben Gedanken nachzuhängen. Auch er hatte noch mancherlei Vorbereitungen zu treffen, und vor allen: stand ihm als Schwerstes bevor, ausführlich an die Eltern zu schreiben. Nach reiflicher Überlegung hatte er sich nun doch dazu entschlossen. Hinter dem, was er jetzt unternahm, lauerten unbekannte Gefahren, im Gegensatz zu der zuerst geplanten Nachforschung, bei der man sich voraussichtlich nicht mit feindlich gesinnten Menschen herumschlagen mußte. Da hielt er es für richtig, über alles, was er erfahren hatte und nun zu tun gedachte, den Eltern Rechenschaft abzulegen.
Bis gegen Mittag füllte er Seite auf Seite. Wohl hörte er dabei im Geist die mütterlichen Beschwörungen, nicht auch sein Leben aufs Spiel zu setzen. Doch die Stimme Jans und das eigene Pflichtgefühl waren stärker. Als er den Brief in den Lasten geworfen hatte, stand er mit Leib und Seele im Dienst der neuen Aufgabe.