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Ein zudringlicher Reisegefährte

Ach, Arnold, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich auf das Wiedersehen mit meinen Eltern und meinem Bruder freue,« sagte ein hochgewachsener, blonder junger Mann zu seinem Freund, der ihn von Europa begleitet hatte.

Arm in Arm auf dem oberen Deck der »Malaya« an der Reling stehend, beobachteten sie, wie Pinang langsam im Hintergrunde verschwand.

»Warum sollte ich es mir nicht vorstellen können, Jan?« antwortete der Angeredete lächelnd. »Wie lange warst du nicht mehr daheim?«

»Gut sechs Jahre, und vorher auch immer nur ein paar Monate! Als ich klein war, meinte unser Hausarzt, mein Körper sei zu schwach für das indische Klima; das hat meinen Eltern einen solchen Schrecken eingejagt, daß sie beschlossen, mich ganz in Holland aufwachsen zu lassen. Jedenfalls ist es mir nicht schlecht bekommen.«

Lachend bog er die kräftigen Arme, daß die Muskeln die Ärmel des weißleinenen Tropenanzugs spannten.

»Der Vorsicht deiner Eltern verdanke ich also meinen treuen Schul- und Studienkameraden und letzten Endes auch diese herrliche Reise, denn ohne die Bekanntschaft mit dir wäre ich wohl kaum auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet im fernen Indien meine jungen Kenntnisse zu verwerten. Aber wenn wir auch keine Gelegenheit finden sollten, uns im Bergbau zu betätigen, würde ich doch nicht bereuen, dir gefolgt zu sein. Wieviel Schönes haben wir schon gesehen! Die Reise allein mit ihren unzähligen neuen Eindrücken ist ein unvergeßliches Erlebnis, und wenn Indien nur annähernd deinen Schilderungen entspricht, bringe ich einen Schatz von Erinnerungen heim, um den mich alle Altersgenossen beneiden werden.«

»Immer der alte Schwärmer,« erwiderte Jan Hollebeek mit gutmütigem Spott. »Meine Schilderungen? Frage in Europa einen Wüstenbewohner nach seiner Heimat, dann werden seine Augen leuchten und seine Schilderungen dir ein anziehendes Bild vorzaubern. Möglicherweise findest du das Leben auf einer Tabakpflanzung schon nach vier Wochen zum Sterben langweilig, und ob wir als Bergingenieure Erfolg haben werden, ist auch noch mehr als ungewiß. Also …«

»Sei ohne Sorge,« unterbrach der andere zuversichtlich. »Enttäuscht werde ich ganz gewiß nicht sein, wenn ich wieder heimkehre. Nach den trockenen Studienjahren sehne ich mich nach Erlebnissen, und ich bin jetzt schon sicher, daß es daran nicht fehlen wird.«

»Zumal wenn man so bescheiden ist, einen farbenprächtigen Sonnenuntergang, wie ihn die Tropen fast täglich bieten, als großes Erlebnis gelten zu lassen …«

Weiter kam Jan nicht, denn sein Freund hielt ihm den Mund zu und schalt ihn dabei wegen seiner unverbesserlichen Spottlust. Aber dann einigten sie sich wieder in der prickelnden Vorstellung, im malaiischen Urwald eine Zeitlang ein halbwildes Dasein zu führen, gleich als ob sie noch große Schuljungen wären und nicht dreiundzwanzigjährige junge Männer, die in gut bestandenen Hochschulprüfungen bewiesen hatten, daß sie ihr Fach verstanden und zu tüchtigen Leistungen befähigt waren.

In flotter Fahrt schraubte sich der kleine Dampfer durch die spiegelglatte Flut. Seine meisten Fahrgäste der ersten Klasse verdankte er einem tags zuvor in Pinang angekommenen großen Bruder, der von Europa nach Japan bestimmt war und wie alle seiner Art Sumatra nicht anlief.

Die beiden Freunde waren zunächst so sehr mit sich selber beschäftigt gewesen, daß sie erst bei der abendlichen Hauptmahlzeit, die eine Stunde nach der Abfahrt stattfand, ihre Mitreisenden näher in Augenschein nahmen. Die Tischgesellschaft bestand nur aus zwölf Personen, war aber dafür bunt genug gemischt: in der Mehrzahl Holländer, dann einige Engländer, ein Franzose und ein dicker Chinese, der für sich allein einen kleinen Tisch inne hatte. Als Aufwärter dienten weißgekleidete langzöpfige Söhne des Himmlischen Reiches, die mit den Holländern Malaiisch sprachen, im übrigen Englisch radebrechten. Auf gestickten Schuhen mit dicken Filzsohlen huschten sie lautlos hin und her.

An einem anderen kleinen Tisch saßen die jungen holländischen Bergingenieure zusammen mit einem tadellos gekleideten Herrn, der schon nach seinem Äußeren als Engländer zu erkennen war. Einige Worte, die er mit einem Steward wechselte, bestätigten es.

Man hatte sich durch eine leichte Verneigung begrüßt, doch kein Gespräch anzuknüpfen versucht. Die Holländer verspürten keine Lust, mit einem Fremden, der trotz seiner tadellosen Kleidung nicht zur besten Gesellschaft zu gehören schien, gleichgültige Redensarten zu wechseln, und der Tischgefährte schien auch gar nicht darauf zu rechnen. Offenbar verstand er nicht Holländisch. So unterhielten sich die Freunde zwanglos in ihrer Muttersprache, als ob sie allein bei Tisch säßen.

Jan Hollebeeks Gedanken waren ganz bei seinen Angehörigen, die er am folgenden Tage wiederzusehen hoffte. Ob wohl der Vater und Bruder Cornelis, der schon seit Jahren eifrig in den Pflanzungen tätig war, ihnen nach Belavan, dem Anlegehafen, entgegenfuhren? Seinem Freunde Arnold Hemskerk waren alle Familienangehörigen nach der Beschreibung längst wohlbekannt. So war auch er gespannt, ob die Menschen und die Verhältnisse, in denen sie lebten, dem Bilde entsprachen, das er sich von ihnen gebildet hatte.

»Ob wir wohl den Sultan von Deli zu sehen bekommen werden?« fragte er nach einer kleinen Pause.

»Wohl möglich,« lautete die Antwort, »Er besitzt selber große Pflanzungen und ist früher öfters zu meinen Eltern herübergekommen.«

»Regiert er wirklich noch das Land?«

»Dem Namen nach! Die Hauptsache besorgt unser Resident.«

»So läßt er sich also eure Oberherrschaft widerspruchslos gefallen?«

»All die kleinen, ehemals selbständigen Landesherren auf Sumatra tun es, und er macht keine Ausnahme. Wir haben ihnen Paläste gebaut und zahlen gute Jahresgehälter. So stehen sich die Eingeborenenfürsten besser als ihre Vorfahren, die beständig Kriege führten, worunter das Land litt. Ein Dato – das ist ein Großer des Reiches – ist Minister, Haushofmeister und Geschäftsführer in einer Person, denn Seine Majestät, der Prächtige, Sultan Mohammed er-Raschid, der Kühne, Herrscher des Weltalls – das sind einige seiner Titel – soll in Zinn spekulieren und selbst noch Mutungsrechte zu vergeben haben. Wir …«

Erstaunt hielt er inne. Schon vorhin glaubte er bemerkt zu haben, daß der fremde Tischgefährte die Ohren spitzte; doch hatte ihn dann dessen schnell wieder eingenommene, scheinbar teilnahmlose Haltung überzeugt, daß er sich geirrt haben müsse. Nun hob der Engländer plötzlich den Kopf und begann zur Überraschung seiner Zuhörer fließend Holländisch zu sprechen.

Sich eine Einleitung schenkend, unterbrach er das Gespräch mit den lässig hingeworfenen Worten: »Kenne den Sultan – Geschäftsfreund – bin auf dem Wege, ihn in Medan zu besuchen! Sie sind Tabakpflanzer, wenn ich recht verstanden habe? Liegt Ihr Besitz in der Nähe der Stadt?«

Er hatte sich an Jan Hollebeek gewendet, bekam aber nicht gleich eine Antwort. Ja, er sah deutlich, daß der Holländer bei sich überlegte, ob er überhaupt eine geben solle.

Die Entscheidung fiel zunächst zu seinen Gunsten.

»Die Pflanzung meines Vaters liegt zwölf Kilometer von Medan entfernt.«

Der Ton, in dem diese Worte fast widerwillig hervorgestoßen wurden, hätte jedem anderen mehr als deutlich gezeigt, daß ein weiterer Gedankenaustausch unerwünscht sei. Jack Haydock indessen setzte sich darüber hinweg; er hatte längst gelernt, persönliche Empfindlichkeit zu unterdrücken, wenn der eigene Vorteil im Spiel war, und hier gab es möglicherweise etwas zu erfahren, das seine Pläne fördern konnte.

»Mit dem Sultan will ich wichtige geschäftliche Unterhandlungen zum Abschluß bringen. Es war mir wertvoll zu hören, daß einer seiner Großwürdenträger – ein Dato, wenn ich recht verstanden habe – eine wichtige Rolle spielt. Kann man da vielleicht mit einem klingenden Händedruck nachhelfen?«

»Jetzt soll ich Ihnen wohl noch gar für zweifelhafte Geschäfte gute Ratschläge geben?« erwiderte der Angeredete, ohne im geringsten die Stimme zu erheben, so unwirsch in Ton und Miene, daß der Engländer, seine angeborene Kaltblütigkeit verlierend, aufs höchste verblüfft zurückfuhr und auch Arnold Hemskerk seinen Freund verwundert anstarrte.

Die Mahlzeit war zu Ende. Wenige Minuten nach diesem Zusammenprall stiegen die beiden Holländer an Deck.

»So grob hättest du ihn doch nicht abfertigen sollen,« sagte Hemskerk nach kurzem Schweigen.

Hollebeek, der mit langen Schritten das Deck durchmaß, zuckte die Schultern.

»Ansichtsache! Mit einem so heimtückischen Burschen mag ich nichts zu tun haben.«

»Heimtückisch?«

»Hast du denn nicht bemerkt, wie er sich anfangs den Anschein gab, kein Wort Holländisch zu verstehen? Warum? Um uns in aller Bequemlichkeit aushorchen zu können! – Obersteward, bitte, einen Augenblick!«

Der Angerufene, der gerade wieder nach oben gehen wollte, trat schnell herzu.

»Sie befehlen, Mijnheer?«

»Wie kommt es, daß Sie uns einen Engländer als Tischgenossen gegeben haben? Es sind doch genug Holländer an Bord. Zufall?«

Diese Frage brachte den Mann sichtlich in Verlegenheit; erst nach einer kleinen Pause antwortete er zögernd: »Nein, der Herr hatte mich darum gebeten, bei den Mahlzeiten in Ihrer Nähe zu sitzen. Das ließ sich natürlich nur an einem kleinen Tisch machen.«

»Rätselhaft! Wie mag er darauf gekommen sein?«

Das war nur laut gedacht, doch der dienstbare Geist konnte auch hierüber Auskunft geben.

»Der Herr hat bei mir lange die Namensliste durchgesehen. Ich entsinne mich noch gut: Ihr Beruf schien ihn zu interessieren. Es täte mir leid, wenn …«

»Danke bestens; nun ist ja alles in Ordnung!«

Sich vergnügt die Hände reibend, entließ Jan Hollebeek den Obersteward mit einem Kopfnicken und nahm dabei den unterbrochenen Spaziergang wieder auf.

»Siehst du nun, Arnold, daß ich ihm nicht unrecht getan habe? Spionieren wollte er, nichts anderes!«

Arnold Hemskerk nickte lebhaft.

»Nun glaube ich es auch. Aber wie kann unsere bloße Berufsbezeichnung in der Liste ihn reizen, wenn er sonst nichts von uns weiß?«

»Für einen, der die Verhältnisse kennt, ist das Rätsel nicht mehr so dunkel, wie es anfangs schien. Wenn unser Beruf ihn anlockte, hat er jedenfalls auch in irgend einer Weise mit dem Bergbau zu tun. Seinem verwitterten Gesicht sieht man das Tropenleben an; also ist er in dieser Gegend ansässig, wo jeder, der es sich leisten kann, in Zinn spekuliert. Als ich erwähnte, daß auch der Sultan von Deli solche Geschäfte nicht verachte und sogar Mutungsrechte zu vergeben habe, schnappte er zu.«

»Nun hält er uns vielleicht für Mitbewerber, denn er sagte ja, daß er mit dem Sultan in geschäftlicher Verbindung stehe. Jan, das wäre ein feiner Witz!«

Während die beiden Freunde unter fröhlichem Lachen diesen Faden weiter spannen und dabei den lauen, nach der Gluthitze des Tages dennoch erfrischenden Lufthauch genossen, der von Zeit zu Zeit über das Verdeck strich, saß der Mann, der ihnen den Gesprächstoff geliefert hatte, noch unten im Speisesaal gedankenvoll hinter seinem Glase. Sein verkniffenes Gesicht konnte niemand verlocken, seine Bekanntschaft zu suchen. Als ob er statt der vielen guten Dinge, die aufgetischt worden waren, bittere Galle genossen und der ganzen Menschheit Feindschaft geschworen hätte, so giftig blickte er vor sich hin, unbekümmert um die chinesischen Aufwärter, die noch mit dem Aufräumen beschäftigt waren.

Ja, er glaubte wieder einmal alle Ursache zu haben, einem widrigen Schicksal zu zürnen, von dem er sich überall verfolgt fühlte. Wie hatte er sich gefreut, als er niemand, der ihn und seine Vergangenheit kannte, an Bord entdeckte! Und nun war er doch nicht einer Behandlung entgangen, die ihn jetzt noch in Empörung versetzte, wenn er nur daran dachte! Und das Schlimmste: kein Wort hatte er erwidern können! Denn der andere hatte ja recht, und er sah trotz seiner Jugend nicht so aus, als ob er sich durch eine scharfe Entgegnung einschüchtern ließe. Fehlte nur, daß diese Ingenieure auch noch das Geschäft verdarben!

Dies war eigentlich Haydocks größte Sorge. Wie, wenn auch sie sich bei dem Sultan gewisse Vorrechte sichern wollten? Solche Mitbewerber konnten die Preise verderben, denn noch wußte der braune Herrscher nicht mit Sicherheit, ob in seinem am Mudafluß gelegenen Gebiet Zinn vorhanden sei oder nicht, und billig waren die Mutungsrechte nur dann zu erwerben, wenn er darüber im unklaren blieb. Traten frühzeitig andere Bewerber auf, dann wußte er ja mißtrauisch werden, und wenn er die Verhandlungen scheitern ließ, verschwand mit einem Schlage eine Hoffnung, an die Haydock sich jetzt krampfhaft klammerte. Noch wußte nur er allein, in welchem Teil des wilden Urwaldgebietes er Zinn gefunden hatte, und er war entschlossen, sich diese Kenntnis gründlich zunutze zu machen. Diesmal sollte Li Fu tüchtig bluten, und hatte er selbst erst wieder Geld zur Verfügung, dann konnte er den Schauplatz seiner Tätigkeit wechseln und an einen Ort, wo man Jack Haydocks Vergangenheit nicht kannte, Dumme suchen, die es ja glücklicherweise noch überall in Menge gab.

In solche verheißungsvolle Zukunftsaussichten mischte sich wieder der Gedanke an die verdächtigen Mitreisenden. Unwillkürlich ballte er seine knochigen Hände, und den dünnen Lippen entfuhr eine Verwünschung, die jeden Widersacher mit dem Tode bedrohte. Sie war ernst gemeint. Um aus der verhaßten Abhängigkeit herauszukommen, war ihm jetzt jedes, ja jedes Mittel recht! Die Gesellschaft hatte ihn ausgestoßen, und die Stimme seines Gewissens war verstummt.

Die jungen Männer saßen unterdessen inmitten einer fröhlichen Gesellschaft. Die gemeinsame Reise von Europa hatte die Fahrgäste des großen Dampfers eng zusammengeschlossen. Zwar war schon am Abend vor der Ankunft in Pinang der Abschied von den an Bord bleibenden Bekannten gründlich gefeiert worden; doch hinderte das den auf die »Malaya« übergegangenen kleinen Teil nicht, vor dem endgültigen Auseinandergehen am folgenden Morgen noch einmal die gemeinschaftlichen Erlebnisse in heiterem Geplauder an sich vorüberziehen zu lassen.

Als die Reisenden nach einer kurzen Nacht ihre Kabinen wieder verließen, näherte sich der Dampfer bereits der Küste von Sumatra. Der flache Strand war mit Mangroven gesäumt, die jetzt bei Hochwasser mit ihren Luftwurzeln weit im Meer standen. Bald ließ die Färbung des Wassers erkennen, daß man in die mehrere Kilometer breite Mündung des Deliflusses einfuhr. In vorsichtiger Fahrt folgte das Schiffchen seinen Windungen, bis endlich das lange hölzerne Bollwerk und die Schuppen des Hafens Balavan auftauchten.

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Gruppen weißgekleideter Gestalten erwarteten die Ankunft des Dampfers. Eine halbe Stunde später lag Jan Hollebeek in den Armen seines Vaters.


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