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Als Arnold Hemskerk vor der Abreise von Pinang an die Eltern seines Freundes schrieb, hatte er sich verpflichtet gefühlt, offen zu berichten, wie ihm angesichts der überstürzten Abfahrt seines erhofften Reisebegleiters ums Herz war. Wohl empfand er dabei, daß er damit bei Jans Angehörigen, besonders seiner Mutter, neue Beunruhigung verursachen werde; doch er ahnte nicht im entferntesten die Wirkung, die seine Worte tatsächlich hervorriefen. Auf der Pflanzung war nämlich inzwischen ein Brief Jans eingetroffen, der die neuen Nachrichten als doppelt unerklärlich erscheinen lassen mußte. Jan sollte Hals über Kopf, ohne Ausrüstung und eine Zeile zu hinterlassen, abgereist sein, nachdem er gerade vorher geschrieben hatte, wie sehr er sich auf das Wiedersehen mit dem Kameraden freute, dessen Begleitung ihm das Unternehmen erst wirklich verlockend erscheinen ließ?
Schon während Herr Hollebeek vorlas, barg, seine Frau ihr Gesicht in den Händen. Kurze, zuckende Bewegungen verrieten, daß sie ihre Tränen, die sonst nur heimlich zu fließen pflegten, diesmal auch in Gegenwart der Männer nicht zurückhalten konnte.
Als der Brief mit herzlichen Abschiedsgrüßen ausgeklungen war, erhob sie sich wortlos, um das Wohnzimmer zu verlassen. Nach ihrer Erfahrung mußte sie ja annehmen, daß ihre wieder aufsteigenden Beängstigungen doch kein Verständnis finden, geschweige denn geteilt würden. Und Trostworte mochte sie nicht mehr hören; selbst die bestgemeinten blieben ohne Wirkung.
Doch heute kam es anders.
»Bleib, Mutter,« sagte ihr Ältester, nachdem er mit seinem Vater einen ernsten Blick des Einverständnisses getauscht hatte. »Das ist eine etwas rätselhafte Geschichte, die auch uns zu denken gibt.«
»Ja, das ist wirklich höchst sonderbar,« stimmte der Pflanzer zu und wiegte stirnrunzelnd den Kopf hin und her.
Frau Hollebeek nahm wieder Platz.
»Was gedenkt ihr zu tun?« fragte ihr bekümmerter Blick, der abwechselnd bei den Männern Rat und Hilfe suchte.
Nach minutenlangem beklommenem Schweigen nahm der Pflanzer wieder das Wort, indem er sich an seinen Sohn wandte.
»Cornelis, ich habe es mir überlegt: irgend etwas muß geschehen! Wochenlang hier stillzusitzen und auf eine Erklärung zu warten, halte ich selber nicht aus. Es trifft sich gut, daß morgen der Dampfer nach Pinang hinüberfährt. Packe den Koffer und sieh zu, was du in Erfahrung bringen kannst! Wenn du es für richtig hältst, miete meinetwegen ein kleines Motorboot und fahre der Prau nach. Auf das Geld soll es nicht ankommen. Du kannst ja auch bei dieser Gelegenheit die Geschäfte erledigen, die ohnedies einen von uns früher oder später zu der Fahrt veranlaßt hätten. Mutter soll die Angst los werden, und auch ich selbst will nicht ständig die Unruhe mit mir herumtragen. Wird, wie ich immer noch glaube, das Geld unnötig vertan, wollen wir uns keine grauen Haare darüber wachsen lassen; ist erst die Mine in Betrieb, kommt es bei uns auf ein paar tausend Dollar nicht mehr an.«
So versuchte er mit einem Scherz die trüben Gesichter aufzuhellen; doch der Ton seiner Worte verriet, wie schwer es ihm fiel, die eigene Sorge zu bekämpfen.
»Komm, Mutter,« sagte er und legte den gesunden Arm seiner Frau um die Schulter, »gehen wir an die Arbeit! Cornelis hat mit dem Packen zu tun. Du wirst sehen, es kommt noch alles zu einem guten Ende.«
»Das gebe der Himmel,« sagte sie leise.
Durch wiederholte Geschäftsreisen war Cornelis in Pinang bekannt. Nach seiner Ankunft suchte er sogleich die Handelshäuser auf, die er seinem Bruder für die Ausrüstung der Expedition empfohlen hatte. Überall erhielt er denselben Bescheid: alles war an die bekannte Adresse geliefert und sofort bezahlt worden, ohne daß zwischen Käufer und Verkäufer ein näherer persönlicher Verkehr erfolgt wäre.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen, auf diese Weise seinen Zwecken dienliche Aufschlüsse zu erlangen, ließ Cornelis sich schließlich zu dem Hause fahren, wo sein Bruder während seines Aufenthaltes an diesem Ort gewohnt hatte.
»Merkwürdig,« dachte er, nachdem er wenige Sätze mit dem mißtrauisch blickenden und äußerst zurückhaltenden Hausherrn gesprochen hatte, »den stets hilfreichen, freundlichen Ah Ling hätte ich mir anders vorgestellt!«
Seine Verwunderung wuchs, als der Chinese auf die eindringlichen Fragen, die auf sein glänzendes schwarzes Haupt niederprasselten, meist nur ein Achselzucken oder ein mürrisches »Ich weiß nicht« zur Antwort gab.
»Zu welchem Zweck wollen Sie dies eigentlich alles wissen?« fragte Ah Ling schließlich mit nicht bemäntelter Ungeduld.
»Weil der Verdacht begründet erscheint, daß bei der Abreise meines Bruders nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei,« gab Cornelis ernst zurück.
»Ich bin nicht dabeigewesen, kann Ihnen also keine Auskunft geben.«
»Auch nicht, wie und wo er den letzten Abend vor seiner Abreise verbracht hat?«
Ein plötzlich aufsteigender Gedanke veranlaßte Ah Ling, das schon auf der Zunge liegende »Nein« zurückzuhalten. Sollte dies eine Falle sein? Was wußte der Holländer – was vermutete er?
Diese Fragen verbarg er hinter einer Miene, die auf angestrengtes Nachdenken schließen ließ.
»Den letzten Abend vor seiner Abreise?« wiederholte er langsam, und als ob ihm plötzlich etwas einfiele, fuhr er schnell sprechend fort: »Oh, ich weiß jetzt! Er wollte ein chinesisches Theater oder ein Teehaus kennen lernen. Ich habe ihn in die Stadt begleitet, wo ich zu tun hatte. Was er unternommen hat, und wann er zurückgekommen ist, kann ich nicht sagen, denn als ich ihn am folgenden Morgen wiedersah, war er in größter Eile, weil er sich plötzlich entschlossen hatte, die Ankunft seines Freundes nicht abzuwarten, sondern mit einer Prau, die noch am Vormittag in See gehen sollte, vorauszufahren. Warum er das tat, hat er mir natürlich nicht verraten.«
Als Cornelis das Haus verließ, war er nicht klüger als zuvor. Ah Lings Benehmen, das ganz und gar nicht der von Jan geschilderten Art entsprach, machte ihn mißtrauisch. Der Chinese mußte doch sehen, daß man um das Leben seines ehemaligen Hausgenossen besorgt war. Konnte selbst ein ihm sehr wichtiges Geschäft alle seine Gedanken so sehr in Anspruch nehmen, daß er nicht einmal fragte, auf Grund welcher Nachrichten die Familie diese Erkundigungen einziehen ließ?
Da gegen niemand ein bestimmter Verdacht vorlag, überhaupt ganz ungewiß schien, ob die Sorge um Jans Wohlergehen überhaupt begründet war, hielt er es für zwecklos, die Polizei zu bemühen. Was er wünschte, war vor allem die Gewißheit, daß Jan tatsächlich mit einer fremden Prau vorausgefahren war.
Um nichts zu versäumen, versuchte er schließlich, durch die Zeitung Zeugen hierfür aufzutreiben.
Wirklich ließen sich auch gleich nach dem Erscheinen des Aufrufs zwei Kuli bei ihm im Hotel melden, von denen der eine behauptete, dem holländischen Herrn das Gepäck an Bord getragen zu haben, während der andere nur mitgekommen war, um diese Angabe seines Kameraden zu bestätigen.
Cornelis Freude dauerte nicht lange. Wenige Fragen ließen ihn deutlich erkennen, daß diese Burschen geglaubt hatten, ihm durch falsche Vorspiegelungen die ausgesetzte Belohnung entlocken zu können. Dies war wenigstens seine Überzeugung, als er sie scheltend entließ. Daß seit seiner Unterredung mit Ah Ling er selbst ständig beobachtet wurde und das Haupt der Bande auf den Gedanken gekommen war, durch falsche Zeugen seine Bedenken einzuschläfern und damit Zeit zu gewinnen, konnte er natürlich nicht ahnen.
In diesen Tagen war er oft bei Freunden seiner Familie zu Gast – Großkaufleuten, die jährlich nach Medan hinüberfuhren, um die Erträgnisse der Pflanzungen aufzukaufen. Sie alle gaben sich Mühe, seine Bedenken zu zerstreuen.
Als er indessen trotzdem bei seinem Entschluß blieb, sich durch eine Fahrt nach dem Mudafluß mit eigenen Augen von dem Wohlergehen seines Bruders zu überzeugen, da nur so die mütterlichen Beängstigungen beseitigt werden konnten, sagte eines Abends Freund Kampen, ein unternehmungslustiger junger Ansiedler, der durch glückliche Zinngeschäfte in wenigen Jahren reich geworden war: »Hören Sie, Hollebeek, eine solche Spazierfahrt könnte mich auch reizen. Ich wollte sowieso mal wieder mit meinem Motorboot etwas umhergondeln. In den Urwäldern am Muda läuft und fliegt sicher allerlei Viehzeug umher, das eine Kugel wert ist. Wann fahren wir los?«
Cornelis war, wie man sich denken kann, sehr glücklich über diesen Vorschlag. Nun stand ihm ein flinkes Fahrzeug zur Verfügung, das in wenigen Tagen eine Strecke zurücklegen konnte, zu dem eine Prau Wochen gebraucht hätte.
»Je eher desto lieber,« lautete seine Antwort, und mit herzlichen Dankesworten drückte er dem Mann die Hand, der auf so großherzige Weise seinen Wünschen entgegenkam.
Der wehrte indessen jedes Lob mit dem Hinweis ab, daß er ja mit der Reise eigene Wünsche befriedige, und brachte dann das Gespräch auf die schnell zu treffenden Vorbereitungen. Zwei anwesende Engländer nahmen seine Einladung mit Dank an; zwei Freunde wollte er noch am nächsten Morgen auffordern, so daß mit der Dienerschaft eine stattliche Jagdgesellschaft in Aussicht stand.
So eifrig betrieb Kampen die Ausführung des neuen Unternehmens, daß er im Einverständnis mit den anwesenden Teilnehmern und Cornelis Hollebeek, dem jede Beschleunigung selbstverständlich höchst willkommen war, die Abfahrt für den folgenden Nachmittag festsetzte.
Unter so anregenden Gesprächen wurde es spät, ehe man an den Aufbruch dachte. Fast menschenleere Straßen durchhallte der Trab des flinken Ponygespannes, mit dem Kampen den Freund und künftigen Reisebegleiter in das Hotel zurückbringen ließ.
So guten Mutes wie jetzt war Cornelis noch nie gewesen, seitdem er Pinang betreten hatte. Der gleich nach der Ankunft geschriebenen Karte wollte er in der Frühe einen Brief an die Eltern folgen lassen, um auch auf sie seine hoffnungsfrohe Stimmung zu übertragen.
Als er die Vorhalle des Hotels betrat, fiel ihm auf, wie ein gutgekleideter Herr, der in einem Rohrsessel mehr lag als saß, ihn scharf musterte und sich dann mit einem fragenden Blick an einen in der Nähe stehenden Diener wandte.
»Ja, Herr, er ist es,« hörte er diesen sagen.
Da stand der Fremde schnell auf und trat ihm entgegen.
»Ich bin Beamter der hiesigen Polizei,« begann er mit einem grüßenden Kopfnicken. »Seit einer guten Stunde erwarte ich Herrn Hollebeek aus Medan. Sie sind dieser Herr, wie ich höre?«
Cornelis, der bei den ersten Worten eine Verwechslung vermutet hatte, bejahte.
»Sie haben vor einigen Tagen durch die Zeitung Auskunft über Ihren Bruder zu erlangen gesucht, der offenbar verschwunden war. Die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen, hielten Sie wohl für überflüssig? Zufällig hat man sich des Namens erinnert, als er heute abend bei uns genannt wurde. Ich bin beauftragt, Ihnen Nachrichten über Ihren Bruder zu bringen: leider keine guten.«
Cornelis, der schon zu hoffen begonnen hatte, erblaßte in jähem Erschrecken.
»Bitte, sprechen Sie ohne Umschweife – ist er tot?« fragte er rasch, und seine Lippen bebten.
Der Engländer zuckte die Achseln und deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die Gruppe von Korbmöbeln, die er verlassen hatte.
Platz nehmend begann er: »Ich will Ihnen erzählen, was wir wissen,« und erst, nachdem er sich durch einen Rundblick überzeugt hatte, daß niemand das Gespräch belauschte, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: »Heute nachmittag ist eine Fischerprau eingelaufen, die einen im Meer treibenden Chinesen aufgefischt hat. Der Mann war vor Erschöpfung mehr tot als lebendig und überdies verwundet. Noch jetzt ist er unfähig, zusammenhängend zu sprechen. Der Prauführer hatte ihn nach aufgefangenen Worten, die er bei halbem Bewußtsein vor sich hingesprochen haben soll, stark im Verdacht, an einem Verbrechen beteiligt zu sein. Um eine Belohnung zu verdienen, ist er gleich zu uns gekommen, den Fall zu melden. Wir haben uns daraufhin des Mannes angenommen und ihn einem Arzt in Pflege gegeben. Der sollte mich benachrichtigen, sobald der Kranke vernehmungsfähig geworden sei. Er meinte, das könne noch lange dauern; doch schon wenige Stunden später erhielt ich den erbetenen Bescheid. Sofort eilte ich zu ihm.
»Ich fand den Chinesen noch sterbensmatt mit geschlossenen Augen im Bett liegen. Aber der Arzt sagte, er sei bei Besinnung und habe schon mit seinen ersten Worten selbst nach der Polizei verlangt. Anscheinend habe er wichtige Mitteilungen zu machen.«
»Sie werden ungeduldig – ich verstehe! Könnte ich Ihnen gute Nachrichten geben, hätte ich sie vorweg genommen. Leider läßt das wenige, das ich über den Vermißten erfahren habe, das schlimmste befürchten. Er ist einer geheimen Gesellschaft in die Hände gefallen, deren Vorhandensein wir längst vermuteten, obwohl wir es nie nachweisen konnten. Wie er mit der gefährlichen Bande in Verbindung gekommen ist, und worauf sich das Todesurteil gründet, das über ihn verhängt wurde, habe ich noch nicht herausbekommen, da der Chinese noch unfähig ist, seine verworrenen Vorstellungen in zusammenhängender Weise wiederzugeben.«
»Ein Todesurteil?« wiederholte Cornelis entsetzt. »Wie ist das möglich? Sicher hat er niemand etwas zuleide getan.«
»Zweifellos, zweifellos,« erwiderte der Beamte, »auch ich habe vergeblich nach dem Grund gesucht. Wer weiß – vielleicht ist er, ohne es zu wollen, hinter Geheimnisse gekommen, von deren Bewahrung die Sicherheit der Bande abhing. Unser Chinese scheint jedenfalls aus solcher Ursache sein Leidensgenosse geworden zu sein. Beide wurden nach tagelanger Gefangenschaft zur Nachtzeit auf eine Prau geschafft. Wenn ich recht verstanden habe und der Chinese nicht Vermutungen für Wahrheit nimmt, sollten sie auf hoher See gefesselt über Bord geworfen werden. Aber es gelang ihnen, sich zu befreien und die ganze Besatzung zu überwältigen. Sie wären gerettet gewesen, wenn nicht ein Sturm das Schiff zum Kentern gebracht hätte. Ihr Bruder soll unmittelbar vorher von einer See über Bord gespült worden sein. Unser Gewährsmann hat ihn hiernach nicht mehr gesehen. Er selbst hat sich an ein Wrackstück geklammert und ist, wie sein Dasein und das Zeugnis seiner Retter beweist, aufgefischt worden. Selbst kann er sich der Tatsache nicht mehr erinnern.«
In gebrochener Haltung blickte Cornelis starr vor sich zu Boden. Die letzten Sätze waren unverstanden an seinem Ohr vorübergehallt. »Jan ist tot – Jan ist tot,« klang es in seinem Innern. Kein anderer Gedanke hatte daneben Raum. Was er über das Ende seines Bruders gehört hatte, war so gut wie Gewißheit. Was der Engländer sonst noch erzählte, kümmerte ihn kaum.
»Es tut mir aufrichtig leid, daß Sie eine so traurige Auskunft nach Hause bringen müssen,« nahm der Polizeibeamte nach einem bedrückenden Schweigen wieder das Wort. »Ich hätte damit bis morgen warten können; aber mein Heimweg führte mich hier vorbei, und es wäre ja auch möglich gewesen, daß Sie morgen früh den Dampfer zur Heimreise benutzen wollten. Man erwartete Sie bald im Hotel zurück; deshalb blieb ich hier, da ich gerade Zeit hatte.«
»Ich danke Ihnen,« sagte Cornelis, und Tränen füllten seine Augen.
Die Erinnerung an die Heimkehr mit solchen Nachrichten hatte ihn im Geist deutlich das Bild der Verzweiflung sehen lassen, das ihn erwartete. Aber auch sein eigener Anblick flößte Mitleid ein.
»Geben Sie noch nicht alle Hoffnung auf,« suchte der Beamte zu trösten. »Ebensogut wie der Chinese kann auch Ihr Bruder gerettet worden sein, konnte – hm – kann er schwimmen?«
»Ja.«
»Vortrefflich! Dann war er doch noch eher als der verwundete Chinese befähigt, sich über Wasser zu halten.«
Cornelis war trotz seines Schmerzes feinhörig genug, zu fühlen, daß der andere ihm etwas einreden wollte, an das er selbst nicht glaubte.
»Dann müßten die Leute der Prau sagen können, ob ein anderes Schiff in der Nähe war,« erwiderte er. »Wäre es der Fall gewesen, hätten sie gewiß nicht unterlassen, es zu erwähnen.«
Der Beamte ging nicht weiter darauf ein.
»Eines kann ich Sie versichern: sollte Ihre Befürchtung sich bestätigen, bleibt Ihr Bruder jedenfalls nicht ungerächt. Uns von der Polizei steht ein großer Fang bevor. Keine Kleinigkeit, ein solches Nest gründlich auszuräuchern! Der Führer der Bande soll ein schwerreicher Chinese sein. Sein Haus wird schon unauffällig bewacht, ebenso ein Teehaus, das anscheinend als Treffpunkt diente. Nun bin ich äußerst gespannt, ob etwa auch ein Landsmann von mir, der für Li Fu, den erwähnten reichen Chinesen, arbeitete, in dieser anrüchigen Sache eine Rolle gespielt hat. Es ist ein ehemaliger Agent namens Haydock … Sollten Sie ihn kennen?«
Mit der Aussicht auf eine Berufsarbeit, die ihn offenbar sehr reizte, hatte der Beamte erzählt, ohne zu bedenken, daß dem bekümmerten Holländer, der mit gesenktem Haupt ihm gegenübersaß, in diesem Augenblick nur wenig daran gelegen sein konnte, in welcher Weise die Polizei die Verbrecher zu fangen hoffte. Sobald aber dieser Name genannt wurde, fuhr Cornelis in die Höhe, blickte den Engländer wie aus einem Traum erwachend entgeistert an und wiederholte dann mit allen Zeichen höchster Erregung: »Haydock – wäre es möglich? Ja, ich kenne ihn! Das heißt, ich habe ihn nur flüchtig gesehen, umso mehr aber durch meinen Bruder von ihm gehört.« Und nun erzählte er, was er von den Verhandlungen des Agenten mit seinem Bruder wußte.
Der Beamte hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, und sein forschender Blick verriet, wie großen Wert er auf diese Tatsachen legte.
»Vortrefflich,« sagte er, als der Holländer schwieg, und rieb sich die Hände. »Das läßt die Dinge in einem neuen Licht erscheinen. Hiernach hätte sich der Agent möglicherweise der Bande bedient, um einen lästigen Mitbewerber zu beseitigen. Entsetzlich, zu denken, daß ein ehemaliges Glied der hiesigen englischen Kolonie so tief sinken konnte! Aber verurteilen wir ihn nicht zu früh! Unser Chinese hat seinen Namen noch nicht genannt; mir kam nur der Gedanke an ihn, als ich erfuhr, welche merkwürdige Doppelrolle sein Brotgeber, der reiche Li Fu, jahrelang unter unseren Augen gespielt hat. Wenn der morgen verhört wird, dürfte sich manches Rätsel lösen. Ein äußerst interessanter Fall!«
Mit der Bitte, über alles strengstes Stillschweigen zu bewahren, reichte er Cornelis abschiednehmend die Hand und trat in die Nacht hinaus, wo sein Rikschakuli inzwischen durch ein Schläfchen Kraft für den Heimtrab gesammelt hatte.
Mit Gedanken, die den Schlaf fernhielten, ging Cornelis in sein Zimmer. Erst als er im Bett liegend alle Einzelheiten des Gesprächs noch einmal durchlief, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er in der Sorge um das Schicksal seines Bruders nicht daran gedacht hatte, in welcher kaum geringeren Gefahr wahrscheinlich dessen Freund in dieser Stunde schwebte, falls Haydock wirklich in das Verbrechen verwickelt war. Durch unwahre Angaben hatte man ihn zur Abreise in das unbekannte Gebiet veranlaßt. Die Bootsleute, zum mindesten der erwähnte Vorarbeiter, waren also eingeweiht; in welche Pläne, das versuchte Cornelis gar nicht erst durch Nachdenken zu ergründen. Auch wandte sich sein Geist wieder dem Elternhause zu. War es schonender, Vater und Mutter, die mit jedem Dampfer Nachricht erwarteten, durch ein Telegramm auf das Schlimmste vorzubereiten, oder traf sie der Schlag weniger grausam, wenn er mündlich die Unglücksbotschaft überbrachte, wobei er den Eltern tröstend zur Seite stehen konnte?
Plötzlich fiel ihm ein, daß Freund Kampen ja am folgenden Tage nach dem unglückseligen Mudafluß aufbrechen wollte. Daraus würde nun nichts werden; wenigstens widerstrebte jetzt natürlich Cornelis die bloße Vorstellung, sich an einem Jagdunternehmen in einer fröhlich gestimmten Gesellschaft zu beteiligen.
Doch schnell wurde er anderen Sinnes. Inständig bitten wollte er Kampen, die Fahrt nicht aufzugeben, falls er infolge der nun bekannt gewordenen traurigen Ereignisse etwa die Lust verloren haben sollte! Lockte nicht mehr die Aussicht auf reiche Jagdbeute, so gab es dafür eine andere Aufgabe zu erfüllen: Arnold Hemskerk aus den Händen der Bande zu retten, wenn es noch nicht zu spät war! Und mit Macht wuchs jetzt in Cornelis das bestimmte Gefühl: Jans Freund durfte keinesfalls im Stich gelassen werden! Es war ihm, als ob er Jans Stimme höre, der selbst diese Aufgabe als Vermächtnis hinterließ.
Nach vielen schlaflosen Stunden fand er erst gegen Morgen endlich Ruhe vor den traurigen Gedanken in dem festen Entschluß, so zu handeln, wie Jan es von ihm gefordert hätte: Arnold Hemskerk, der ohne seinen Freund nie in diese Gefahr geraten wäre, nachzuforschen und ihn wenn möglich in Sicherheit zu bringen!