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– September 1915.
Ob Piratyn, südwestlich von Dubno, schwebte groß, gelb und grell der Drachenballon. Wenn Sonne und Luft ihn blähten, war er wie ein Phallus anzuschauen. Den Truppen der Gegend diente er als Wetterfahne: er bäumte sich ja dank seinen Steuerschirmchen stets gegen den Wind. Und er war Wegweiser der Versprengten; sie kamen weit her aus Sumpf und Hügelland zum Ballon, müde Infanteristen, ratlose Troßkutscher, mit der Frage:
»Wo steht mein Regiment? Oder meine Division?«
Einmal blieb Oberleutnant Graf Draskovich mit seinem Auto im Wald stecken, viele Stunden weit vom Ziel. Der Oberleutnant sorgte nur, daß er mit dem zerbrochenen Fuhrwerk auf eine Lichtung käme, wo der Ballon ihn sah; alsbald meldeten die Ballonleute dem Stab:
»Dort und dort steht euer Auto und kann nicht weiter. Schickt ihm Hilfe!«
Bei den Russen wieder durfte sich nur eine Patrouille, ein Wagen rühren – und schon tutete das Telefon in unsern Batterien:
187 »Hier Fesselballon. Halloh, Barbara! Schießt nach Geländequadrat 23–i auf vorgehenden Verpflegsstaffel des Feindes, ein Kilometer nördlich des »n« von Schrift Djetinitschi!«
Einen Augenblick später antwortete die Batterie:
»Feuerbereit.«
»Abgeben!« sagte der Ballon.
Die erste Granate sauste.
»50 rechts, 50 weit,« beobachtete der Ballon. Der zweite Schuß war schon ein Treffer.
Die Russen funkten nicht zurück: solange der Ballon hoch war, fürchteten sie, durch ein Mündungsfeuer die Stellung ihrer Geschütze zu verraten.
Der Ballon aber blieb immer hoch – früh und spät – wenn das Wetter es nur halbwegs erlaubte. Er schwebte wie ein Adler über Wolynien und äugte weit ins Land. Er blickte nach Dubno, der vieltürmigen Stadt, und überwachte die Kosakenkasernen des Vorortes Surmitschy. Er sah die Ziegelruinen der gesprengten Sperre, das elliptische Erdwerk rechts davon und jenseits der Ikwa den ausgedörrten, gelblichen, zackigen Schützengraben des Feindes. Er sah ostwärts in der Niederung hinter Kamjenitza die japanischen Batterien der Russen, ihre Masken, ihre Scheinbauten, ihre Unterstände – und sah, wie die russische Bedienung auf die erste weißrote Schrapnellwolke hin eilends in die Unterstände lief.
188 Alles sah der Ballon und wurde überall gesehen.
Von Mala Miltscha aus, wo unser Divisionskommando auf einer steilen Kuppe in Bauernhäusern und Baracken wohnte. Aus Bolschi Sagortschi – da war die Brigade; in einem netten Schulgebäude; das Gebäude hatte nur einen Fehler: es drohte zusammenzustürzen, seit es bei der Sprengung der Dubnoer Sperre den großen Sprung bekommen hatte.
Die Wiener Infanteristen aus den Schützengräben schauten mit Liebe und Vertrauen zum Ballon auf. Die Gräben der Wiener fingen beim Kastell von Dubno an, verloren sich im Sumpf der vielumstrittenen Ikwainseln, stiegen wieder auf den Hang des Westufers und liefen ins Röhricht der obern Ikwa aus. Wo sie in den Hang einschnitten, da unterschieden sie sich in nichts von den Gräben, wie man sie tausendmal auf Bildern oder in der Wirklichkeit gesehen hat. Vor der Verteidigungslinie lagen vielfache Reihen von Drähten und spanischen Reitern, hinter ihr ein vielfaches System von Laufgräben und Stützpunkten. Wo die Deckungen aber auf Sumpfboden mußten, bohrten sie sich nicht ein, da blieben sie über der Erde. Da hatte man Laubengewölbe aus Holz und Wellblech erbaut und sie mit Rasenziegeln eingedeckt; ein fester Damm bildete die Brustwehr.
Herr des Himmels, wie ärgerten sich die 189 Russen über den Ballon, »das gelbe Schwein«! Sie beschossen ihn, so oft sie irgend konnten. Doch der Ballon zog sich immer geschickt aus der Gabel, indem er vor- oder rückwärts ging. Er ist denn auch kein einzigesmal getroffen worden. Auch einen Konkurrenzballon ließen die Russen steigen. Er freute sich aber seines Fluges nicht: das Gelände der russischen Stellungen hatte etwa 200 Meter Seehöhe, unsres 49 oder 50 Meter mehr, und das war schon ein Vorteil für unsern Ballon. Dann scheint es mit der Gasbereitung bei den Russen gehapert zu haben. Kurz, der russische Ballon kam nicht recht empor. Und sah darum auch nichts. Denn wir standen im schattenreichen, durchschnittenen »Garten von Dubno«.
So war unser Drache Alleinherrscher auf dem Frontstück – allerdings nur, wenn das Wetter ihm hold war. Er ist sehr empfindlich gegen das Wetter, solch ein Parsevalscher Drache.
Bei trüber Luft ist er mit Blindheit geschlagen. Ist es kühl, dann reicht der Auftrieb von 750 bis 900 Kubikmeter Wasserstoff nicht aus, die Last der Hülle, des Korbes, Beobachters und Seiles in den Aether zu heben. Vor Donner und Blitz verkriecht sich der Drache weise in sein Nest, denn das Drahtseil ist ein gar zu guter Blitzableiter – der Drache bekäme bestimmt den ersten Schlag ab. Bei Wind von sieben Sekundenmeter Geschwindigkeit kann nur mehr ein sehr geübter, scharfäugiger Beobachter Dienst im 190 Ballonkorb machen; bei ruhigerer Luft blickt der Beobachter in der Windrichtung mit dem stark vergrößernden, seitwärts mit dem kleinern Fernrohr aus und sieht genug, solange Sonnenschein auf den Zielen liegt.
Zur Schußbeobachtung steigt immer nur ein Balloneur in den Korb und erreicht an einem 2000 Meter langen Seil bei Windstille, Sonnenhitze und frischer Gasfüllung wohl 1900 Meter relativer Höhe. Mit zwei Insassen kommt der Ballon schwer über 1000 Meter. Je höher, desto besser; es schrumpfen zwar die Details des Geländes sehr zusammen, dafür spioniert der Ballon aber auch in jede Kluft und Ritze der feindlichen Stellung. Die vorzügliche Ballonkamera hält das Gesehene im Nu fest, und die Lupe wird später das winzigste Pünktchen im fotografierten Rundbild auflösen und enträtseln.
Der Ballon und die schwere Artillerie, sie arbeiten innig zusammen. Sie machen auch gemeinsam ihre Gastspielreisen längs der Front.
Wenn ein Stuckhauptmann sich beim höhern Kommando meldet, fragt Seine Exzellenz:
»Was haben Sie für Geschütz? Gebirgskanonen? Feldhaubitzen? Davon habe ich übergenug.«
»Nein – ich melde gehorsamst: neue 15er Skoda. Und ein Drachenballon ist mit zur Beobachtung.«
»Bravo, bravo!« ruft Seine Exzellenz und 191 möchte den Kanonier am liebsten umarmen. »Du bleibst zum Essen da, und sofort nach dem Essen besprechen wir die Ziele.«
Kurz vor Abend feiert der Ballon seine Triumphe. Da heben sich die Geschütze des Gegners am besten ab – und das zu jener Stunde, wo das Gelände grade noch erkennbar ist und die Mündungsblitze schon darin aufleuchten. Das ist die günstigste Zeit für das Artillerieduell: der Ballon kann jetzt die Aufschläge unsrer Granaten in der feindlichen Feuerlinie verläßlich verfolgen, und man hat die Gewißheit, daß die russische Bedienung an den Rohren ist.
Ballone neuer Erzeugung haben einen Windewagen, der sie mit Rotorkraft hochläßt und wieder einholt. Der Ballon, von dem ich spreche, war noch von der alten Art; war an zwei Bäumen verankert; nicht mit dem Drahtseil selbst – es hätte sich in die Rinde eingeschnitten – sondern mit dicken Hanftauen. Daran hingen ledergefütterte, verschraubte Klemmen, und in ihnen erst glitt das Drahtseil.
Den Drachen steigen lassen, ist ein recht schwieriges Manöver:
Einige Männer legen das 2000 Meter lange Seil von den Ankerbäumen weg in die Windrichtung auf den Boden aus. An seinem freien Ende wird das Seil durch eine Rolle gefädelt. Nun holt man den Drachen aus seinem sturmgeschützten Nest, wo er bisher, mit Sandsäcken 192 beschwert, auf einer Plache geschlafen hat. Man koppelt die Sandsäcke ab, 48 Mann schlüpfen in die Schlingen und marschieren mit dem Ballon an das freie Ende des Seils. Der Korb wird an der Takelung befestigt und eingestellt – der Beobachter mit der angeschnallten Hörmuschel am Ohr steigt ein – nach und nach, auf Kommando, verlassen die 48 Mann ihre Posten an den Schlingen und übernehmen 48 Gurten, die an der Rolle hängen. Indem nun die 48 mit der Rolle vom Ballon aus nach den Ankerbäumen zu marschieren, geben sie ein immer größeres Stück des Seiles frei, und in demselben Maß hebt sich der Ballon zum Himmel, bis er endlich das ganze Seil zu sich emporgezogen hat.
Beim Einholen ist es umgekehrt: da marschieren die 48 von den Ankerbäumen aus in die Windrichtung und ziehen an der Rolle nach und nach das Seil, damit auch den Ballon zu Boden. Da ihnen aber der Auftrieb entgegenarbeitet, läßt man jetzt sechs Pferde mitziehen. Der ganze Vorgang spielt sich im Trab und Laufschritt ab – das Hochlassen oder Einholen dauert also nicht zehn Minuten.
Die schwere Batterie mit ihren kaltblütigen Pferden kommt überall hin, und der gefüllte Ballon mit 48 Mann in den Schlingen legt in den Gleisspuren der schweren Batterie oft viele Meilen Wegs zurück. Man nennt das »Tieftransport des Ballons.« Beim 193 »Mitteltransport« schwebt der Ballon 50 Meter hoch am verkürzten Seil und wird von der Mannschaft mit Gurten festgehalten. Der Mitteltransport überwindet Hindernisse, Telegrafenleitungen zum Beispiel, auf sehr einfache Weise: die Leute werfen drei Leinen, eine nach der andern, über die Telegrafenleitung und nehmen drüben wieder die Gurten über.
Zum Train des Fesselballons gehören etliche Fuhrwerke. Sie etablieren sich an einem Bach. Man erzeugt das Gas, und in wenigen Stunden ist eine Ballonfüllung fertig. Dies feldmäßige Verfahren und den Drachenballon überhaupt haben die Herren Major Parseval und Hauptmann v. Sigsfeld vor etwa zwanzig Jahren angegeben, ohne daß die Erfindung bis heute auch nur im geringsten hat vervollkommnet werden müssen. Der Vorteil des »Drachen«-Ballons (gegenüber dem Kugelballon) besteht bekanntlich darin, daß er verhältnismäßig ruhig vor dem Wind steht und kraft seiner schiefen Unterfläche den Wind zum Auftrieb mitbenutzt.
Ich stieg eines klaren Nachmittags mit dem Offiziersstellvertreter Czernil auf, sah die Landschaft unter mir schwinden, die Pferde, Menschen und Menschlein auf Feldern und Feldchen entrücken und den russischen Horizont sich groß und immer blauer dehnen. Das Wasser im Sumpf unter uns warf das Echo unsrer Reden zu uns herauf.
194 Es fiel kein Schuß vom Feind her. Einige Stunden später, als ich schon längst gelandet war, konnte sich Offiziersstellvertreter Czernil kaum vor Schrapnellen retten. Es kam ein Geschoßhagel, fast so dicht und nah wie damals, wo der Beobachter, um den Explosionen rasch zu entrinnen und den Ballon vor Zerstörung zu retten, zum Aeußersten, der Reißleine, greifen mußte; ein gottgesandter Sturmstoß blies die Ballonhülle noch einmal zum Fallschirm auf, ehe sie in sich zusammenfiel, und der Offiziersstellvertreter kam mit dem Leben davon. Er ist dafür ausgezeichnet worden.
Die Technik wird uns eines Tages Flugzeuge schenken, die in der Luft stillestehen oder wenigstens in kleinen Wendungen kreisen können; vielleicht wird eine Drahtleitung vom Boden her ihren Motor mit elektrischen Spannungen speisen. Dann gibt es keinen Fesselballon mehr, der ja doch ein großes Ziel, eine primitive, schwere Maschine ist. Die alten Feldzugssoldaten werden sich doch immer gern des Riesenvogels erinnern, der ihnen Späher, Wegweiser, Wetterfahne war und Freund und Helfer. 195