Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Die Verfolgung.

– 27. August 1915, abend.

General der Infanterie Freiherr v. Kirchbach hat also Befehl zum Marsch über den Bug gegeben. Die Vorhuten sind schon aufgebrochen.

So plötzlich? Wie ist das alles nur gekommen?

Der Generalstabschef macht mir's klar:

»Gestern abend, als Sie im Schützengraben der Deutschmeister waren – erinnern Sie sich der russischen Kochfeuer?«

»Gewiß, Herr Oberst. Ich verstehe: der Feind ist am Abend davon. Um seinen Rückzug zu verschleiern, hat er gleichzeitig Hunderte von Kochfeuern angezündet . . .«

»Genau wie jeden Abend.«

 

– 28. August 1915.

Der Russe hat seine Stellungen jenseits des Bug geräumt. Um Zeit und Raum zum Rückzug zu gewinnen, wandte er – wie so oft in der Mandschurei und in diesem Krieg – eine raffinierte List an: er verstärkte seine Feldwachen und gab ihnen auf, uns, wenn wir angreifen werden, den kräftigsten Widerstand zu leisten. Gleichzeitig 106 aber zog der Feind mit seinem Geschütz und dem Großteil der Infanterie lautlos davon, ohne daß die russischen Feldwachen – Balten, Polen, Juden – es auch nur ahnten.

Balten, Polen, Juden, die Betrogenen, halten stand und opfern sich – hinter ihnen verschwinden die Russen. Eine feurige Wolke, der Rauch brennender Gutshöfe begleitet den Abmarsch. Man muß wissen, daß es unbesiegte Russen sind, die da weichen, größtenteils frische Heereskörper, und daß sie eine Stellung aufgeben, um die in der zweiten Julihälfte mit wechselndem Glück und großen beiderseitigen Verlusten gerungen worden ist. Wenn unser Angriff damals die Bugposition auch mannigfach angenagt, die Erfolge unsrer Nachbararmeen in Nord und Süd die russische Front am Bug im Rücken gefährdet haben – ein verzweifelter Gegner konnte sie noch immer halten; sie ist von Natur stark und war überstark besetzt.

Die Russen aber gehen aus ihren Sokaler Schützengräben fast in einem Zug davon, lassen lang vorbereitete Verteidigungslinien so gut wie unverteidigt in unsre Hände fallen – und es sind doch Linien, die Bewunderung und Gruseln bei uns erregen, als wir sie passieren.

Morgens ist der Korpsstab nach Osten abgeritten. Ich folgte mit Leutnant Baron Wieser in einem Auto. Einmal blieben wir im Sumpf 107 stecken. Am Nachmittag waren wir in Kristinopol.

Ich werde im griechisch-katholischen Kloster schlafen. Zwei Männer in schwarzen Kutten stellen das Bett für mich in einer Zelle auf. So was Zerschlagenes und Geflicktes von Bett habe ich noch nicht gesehen. Ich würde die Männer in ihrer sonderbar geschnittenen Tracht für Bergknappen halten, wenn ich nicht bestimmt wüßte, daß es Mönche sind vom Orden des heiligen Basilius.

Das Schloß Kristinopol, ein schönes Barockgebäude, ist – bis auf ein paar Zufallstreffer – verschont geblieben; es gehört einer Gräfin. Die Milde des russischen Kommandanten soll der Schloßherrin viel Geld gekostet haben. Welch interessante Bibliothek die Gräfin übrigens zurückgelassen hat: »Bekenntnisse der Comtesse de Saluc«, »La fille Eliza« – und so.

In diesem Schloß hat Casanova einst gewohnt, wie er in seinen Erinnerungen berichtet, als Gast eines Potocki, des Wojwoden von Kiew:

»Der Wojwode, einst der Liebhaber der russischen Kaiserin Anna Iwanowna, war Begründer der Stadt, die er bewohnte, und hatte sie nach seinem eigenen Namen benannt. Er war noch schön und hielt mit großer Pracht Haus. Potocki behielt mich vierzehn Tage bei sich und ließ mich jeden Tag mit seinem Leibarzt ausfahren. Dies 108 war der berühmte Styrneus, ein geschworner Feind des noch berühmtern van Swieten. Jeden Tag kehrte ich nach Kristinopol zurück und spielte mit dem Wojwoden und seiner Gesellschaft.« – Erzählt Casanova.

Nachmittag sah ich mich im Städtchen um. Es wohnen fast nur Juden hier. Sie klagen herzzerbrechend. Besonders die Tage vom 25. bis 27. August 1914 sollen ein einziges Grauen gewesen sein. Kosaken schändeten Frauen und Mädchen vor den Augen der Männer und Väter. Auf dem Friedhof rastete Saul Letzter, ein Greis, Flüchtling aus Sokal, mit seiner Schwiegertochter. Sie säugte eben ihr kleines Kind. Der Kosak kam, zwang den Greis, das Kind zu halten, und tat der Frau zwischen den Grabdenkmälern Gewalt an. Die Kosaken haben Juden erschossen »ohne warum.« Sie trieben sie im Tempel zusammen und in Scharen aus der Stadt: die einen zum Schanzen, die andern in den Tod. Der Bürger Kirschner und noch zwei Fremde unbekannten Namens wurden damals niedergeknallt und Haus für Haus, Laden für Laden geplündert. Wer aus dem Städtchen flüchtete, den holten Kosaken ein und peitschten ihn zurück. »Is kaaner in der Stadt, wos sich könnt berühmen, er hot ka Nagajke gespiert,« sagt Osias Ehrlich, der Gerber, und weist mir seine Striemen; die Narbe auf der Stirn aber rührt von einer Schrapnellkugel. Rückte ein Regiment ab, so kam ein andres und raubte 109 weiter. Die russischen Linientruppen unterschieden sich von den halbwilden nur dadurch, daß sie nicht gleich mordeten, wenn sie bei jemand keine Beute fanden. – Einmal umringten sie heulend und jammernd den russischen Obersten Popoff, die hungrigen Juden, küßten den Saum seines Rockes und flehten um Brod. Eben zog im Himmel murmelnd ein österreichisches Flugzeug. Der Kommandant wies mit der Knute empor und sagte: »Zu ihm müßt ihr reden, Kinder, wenn ihr Brot wollt – zu ihm!«

Heute hat das Städtchen seinen ersten friedlichen Abend seit einem Jahr. Am Abend spät im Mondschein, als die Verpflegskolonnen im tauschweren Staub der Landstraße daherziehen, knarrend und doch gespenstisch lautlos – bewegte schwarze Schattenrisse – da erst, nach des Tages aufregenden Wechseln, lassen die verängstigten, verprügelten Leute die Hände im Schoß ruhen, sitzen vor ihren Häusern und besinnen sich:

Wie ist es doch? Ein Traum? Furchtbarer Traum, aus dem wir eben erst erwacht sind? Die Russen weg und wieder Oesterreicher im Land?

Die abgehärmten Gesichter können noch nicht lachen. Die Qual eines russischen Jahrs zuckt in allen Mienen. Der Mond scheint hell auf die Brandstätten eines Viertels nieder, von dem nur die Schornsteine aufrecht stehen, und auf die zerknitterten Wellblechdächer des Schuttes. Der Hauptplatz ist erhalten geblieben; vor den Lauben, 110 Gewölben und Altanen sitzen in der kühlen, friedlichen Nacht abgehärmte blasse Männer in Kaftanen, zerlumpte Frauen, schlechtgenährte Kinder, und lassen den ewigen Pendelverkehr des Verpflegsnachschubs an sich vorüberziehen. Es sind heroisch geschnittene Profile unter den Männern, und die Mädchen haben wundertiefe große Augen. Wenn die Männer nur nicht so verzagt dasäßen und die reifenden Kinder so schrecklich wissend!

Indessen ruht vor der Stadt die Arbeit der Soldaten keinen Augenblick. Die Eisenbahner sind am Werk, um die alten sowohl wie auch die von den Russen neuerbauten, vor dem Rückzug aber wieder zerstörten Strecken fahrbar zu machen. Pioniere setzen die gesprengten Brücken zuerst flüchtig für die vormarschierende Truppe und dann solid für die Trains der Armee instand. Die Telegrafenpatrouillen leisten Uebermenschliches. Landstürmer wickeln die vom Feind verlassenen russischen Drahthindernisse auf, um sie nun vorwärts zu tragen und gegen die Russen zu verwenden.

 

– 29. August 1915.

Jeder Schritt am Weg der verfolgenden Truppen ist von den Schützengräben der Moskalen aufgewühlt. Sehr gut aus Ton und Rasenziegeln gebaute Brustwehren mit niederm Aufzug. Die starken Schrapnellschirme, auf Pfosten 111 gestellt, sind gradezu vorbildlich, ebenso die durch Zickzacktrassierung gesicherte Flankenwirkung. Oft liegen vier Linien knapp hintereinander, ich schätze, nicht fünfzig oder sechzig Meter weit. Auch einen formidabeln Stützpunkt sah ich, in dessen Verteidigung sich die Russen nicht mehr einließen. Sie haben die Gehöfte hinter ihren Linien demoliert, um Pfosten, Bretter, Nägel, Ziegel, Türen für ihre Gräben zu gewinnen. Die Bauern waren immerhin schlau gewesen; hatten ihr bißchen Hab und Gut rechtzeitig vergraben und die gefährdete Heimstätte verlassen. Nun stehen die Bäuerinnen mit leeren, rotgeweinten Augen auf den Trümmern ihrer Hütten; buddeln Kisten und Kasten wieder aus. Da steht ein leeres Bett mitten im Einstieg eines Laufgrabens, da hängen weiße Lammpelze über einem russischen Astverhau, der Sonntagsstaat einer Bäuerin.

Und überall Gräber mit zyrillischen Aufschriften: im Föhrenwald, unter den Eichen, rechts und links der Allee von Linden und Ebereschen. Ich hatte heute morgen einen Augenblick am östlichen Bugufer gezögert, um dort jene Stellungen anzusehen, die der Feind vier Wochen gehalten und nun plötzlich geräumt hat. Ich wollte dann den Stab wieder einholen, mit dem ich zu marschieren habe. Da mußte ich in der Glut des Augustvormittags viele, viele Stunden vorwärtstraben. Es ging durch tiefen Sand, an endlosen Munitionsstaffeln entlang, die unter Aufbietung aller 112 Kräfte, aber flott und ohne Stockung ostwärts strebten. Mir brannte die Sonne in den Nacken, mir klebten die Kleider am Leib, die Ballen waren von den heißen Bügeln wie zerschnitten. Das Brackwasser am Weg wollte ich nicht trinken. Als mich ein Jude freundlich mit Tee gelabt hatte, dem einzigen Getränk, das es für den Nachzügler hier gibt, schlabberte mir der Schluck Flüssigkeit fühlbar und hörbar in den ausgedörrten Kaldaunen.

Man sollte nun meinen, bei solchem Tempo müßte der Verfolger sichtbare Marschverluste erleiden; doch da zeigte sich, was das Training eines Kriegsjahres bedeutet: ein einziger Kranker lag am Weg, ein einziges Fuhrwerk stak fest trotz Vorspann: der schwere Wasserdestillator des Stabes; und wir brauchen ihn so dringend hier im Sumpf.

Auf einer Lichtung im Wald, Wolitza Komarowa heißt sie auf der Karte, erreiche ich endlich die Kavalkade meines Stabs; die Herren sind zu kurzer Erholung abgesessen und frühstücken. Der Kommandierende zeigt mir auf der Karte jenen Abschnitt, den er eben weit vorn angreifen läßt: das Straßenstück nördlich von Stojanow. Bei Stojanow erst hat sich eine russische Nachhut gestellt. Ordonnanzen galoppieren mit Meldungen vom Telefon herbei: der Kampf dort wird bald entschieden sein. In einer halben Stunde etwa überschreiten unsre Linien die russische Grenze.

113 Es geht weiter unter drückender Sonne, durch haltlosen Sand auf Spassow zu, ein Dorf, das heute nacht Standort des Stabes werden soll. Herren, die den ersten Einmarsch nach Rußland im August vorigen Jahres mitgemacht haben, vergleichen das Gelände mit der Tanewregion. 114

 


 


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