Alexander Roda Roda
Russenjagd
Alexander Roda Roda

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Dubno.

– 12. September 1915.

Am 3. September waren die Russen bei Demidowka geworfen; sie wollten am 4. weiter nördlich Widerstand leisten und gaben dank dem Eingreifen unsrer starken Kavalleriereserven und der Nachbarbrigaden bald auch diesen Versuch auf. Am 8. September erreichten unsre Flügel die Ikwa nördlich und südlich von Dubno; die Kopaljäger marschierten in die Stadt. Der Kampf währte fort.

Dubno hat 1000 Häuser, 15000 Einwohner und liegt am westlichen Ufer der Ikwa. Die Ikwa, ein rechter Nebenfluß des Styr, fließt hier von Süden nach Norden; Sumpf, Sumpf, wohin man blickt; oberhalb und unterhalb von Dubno erweitert und vertieft sich der Sumpf zu ungewissen Tümpeln, Seen, so daß die Ikwabrücken von Dubno ein wichtiges Defilee darstellen. Ein Sperrwerk (das ich schon beschrieben habe) wachte sieben Kilometer südlich der Stadt vor den Brücken; es fiel uns wohlfeil genug in die Hände. Dubno gegenüber am andern Ufer breitet sich die Vorstadt Surmitschy und dicht daran ein ganzes großes Lager der Russen: moderne Kasernen, Verpflegsbaracken, Munitionsdepots. Nicht die Stadt an 175 sich ist es also, um die sich die bewegten Gefechte drehen (so angenehm uns wohl der Besitz eines hübschen Städtchens angesichts des kommenden Winters wäre) – der Kampfpreis sind die Ikwaübergänge und bedeutende militärische Ressourcen.

Gestern abend gab mir der Korpsgeneralstabschef Oberst Graf Szeptycki die Erlaubnis zum Besuch von Dubno. Vormittag war ich in der Stadt. Ich wurde da Zeuge unvergeßlicher Schauspiele.

Schon unterwegs dahin von ferne scholl das Grollen der Geschütze über die Hügel zu mir; ich werde mitten in ein Artillerieduell geraten.

Um es vorläufig mit ein paar Worten zu sagen, was geschah:

Unsre Truppen standen in Dubno, die Russen ihnen gegenüber in der Vorstadt Surmitschy, dazwischen etwa 400 Meter Sumpf. Beide Infanterien hatten sich in den Häuserzeilen an der Ikwa, wir auch auf den Inseln im Fluß eingenistet. Das Kleingewehr rasselte.

Ich deckte mich in einem Saal der Zitadelle von Dubno neben den Maschingewehren; sie schossen durch die Fenster. Stützpunkt der russischen Stellung war eine zwei Stock hohe Dampfmühle auf dem andern Ikwaufer, ein Ziegelrohbau; die Fenster der Dampfmühle von Maschinengewehren und Infanterie starrend besetzt; so lang der Feind diese Mühle hatte, war an ein Hinüberkommen nicht zu denken.

176 Zuerst stäubte an der linken obern Ecke der Mühle unterhalb des Daches eine rote Wolke mit einem kleinen Blitz darin auf – das war eine Granate aus unserm Feldgeschütz. Vor der Mühle stand ein kleines weißes Häuschen, wahrscheinlich von Lehm, mit einem Holzdach; das Dach flog plötzlich auf wie ein Kartenblatt, und eine dicke Kugel von schwarzgelbem Rauch wuchs aus dem Häuschen. Trümmer folgten: schwere Granate. Es ging alles so rasch, tausendfältig, verwirrend, daß ich es mit tausend Griffeln nicht beschreiben könnte. Ein Grüppchen von braunen Russen schwärmt hinter dem Häuschen davon; taktaktaktak plappert unser Maschingewehr; ein paar Russen liegen, einer springt und windet sich. Ein Oberleutnant neben unserm Maschingewehr reißt den Karabiner an die Backe, zielt – paff! – ein Russe liegt da. »Darf i aa schießen?« fragt ein Gefreiter, tritt ans Fenster – legt schon an – da schreit ein Fähnrich: »Was fällt Ihnen ein?« Reißt den Gefreiten vom Fenster – klatsch! – kommt ein russisches Geschoß durchs Fenster in die Rückwand des Zimmers; wäre grade ein Bauchschuß für den Gefreiten gewesen. Drüben das Dach der großen Mühle öffnet sich, ein Vulkan sprüht – krach! – schwarzer Rauch, die Trümmer fliegen: schwere Granate. Der verzieht sich nicht mehr, der wallt weiter. Die Maschingewehre hier im Zimmer wüten, der Boden zittert, die Ohren schmerzen. Es ist zum Ersticken, zum 177 Verrücktwerden. Krach! – eine schwere Granate drüben in die Mühle. Wozu denn? Die Mühle raucht ja schon. Ja, sie raucht rechts und links und aus den Fenstern. Krach! Ein Stück Vorderwand der Mühle flattert weg von einem Blitz – roter, schwarzer Rauch und eine furchtbare Flammensäule reckt sich auf. Die Maschingewehre hier im Zimmer und nebenan in den Zimmern bellen, beißen, rasen. Es ist die Hölle. Die Mühle brennt lichterloh, der Krieg grinst riesengroß mit rotem Haar hervor und schwenkt und schwingt seine Trauerfahne. Krach! – Feldgranate. Sechs Blitze, sechs rotweiße Pelikane, Schrappnelle breiten ihre Fittiche – die Infanterieschlacht klappert, trommelt. Hinten stäubt, schäumt, kocht Surmitschy unter dem Feuer unsrer Artillerie.

Generalmajor Poleschensky tritt ins Zimmer und fragt nach der Mühle. Jemand weist dahin und scheint zu sagen: sie wäre von den Russen geräumt. In diesem Augenblick beleben sich die untersten Fenster der Mühle mit Gewehrläufen. Unsre Maschinen streichen (Aufsatz 500) die ziegelroten Etagen ab; die Gewehrläufe wanken und verschwinden. Da sieht man hechtgraue Gestalten drüben das Ufer hinanwimmeln; sie sind auf einer Fähre durch das Röhricht oder auf einem Steg – weiß Gott. Die Mühle stürzt mit drei furchtbaren Rucken in sich; jedem Ruck folgt himmelhohes Aufflammen, wirbelndes Rauchen. 178 Indessen dröhnt die Zitadelle von Dubno unter russischen Granaten.

Um vier Uhr nachmittag stand ich vor dem Kloster am Nordrand der Stadt. Oberstleutnant Müller, Artilleriebrigadier, hatte mich dahin gerufen. Vor uns links Hochwald, darüber hinaus ein flaches Tal, Ausblick auf das Kanonierduell der Nachbargruppe. Dumpf donnern die Schläge, weiße Schrappnelle der Russen funkeln und flattern, braune, ballige Granatexplosionen auf den Aeckern. Im Hochwald springt ein Geiser von Rauch und Kot auf, schlank wie eine Pappel: eine Schwere im Sumpf.

Fünf Uhr nachmittag. Ich bin einquartiert. Eine sehr geräumige, helle, frischgetünchte Stube im Kloster. Einrichtung: ein rotes Samtsofa, ein halber Tisch, vier mannshohe Ficusstöcke mit großen dunkelgrünen Blättern, eine Photographie. Die Stube hat Morgensonne und eine schöne Aussicht: gen Morgen stehen die russischen Batterien. Die Aussicht geht auf die Ikwa. Das Infanteriegefecht ruht.

Ich habe es nicht weit nach dem bestrichenen Raum: die linke Ecke der Stube ist bombensicher, denn es lehnt sich da außen an die Mauern ein festgebautes Haus. Das Fenster meiner Stube ist innerhalb des Ertrag russischer Gewehre. Rechts im Winkelchen ist's wiederum besser, da können nur Granaten einschlagen Mein Diener, bleich und zag, packt aus. Wortlos 179 wählt er für sich das Kämmerchen hinten, als ob er da im Trockenen wäre. Du Tropf! Wenn in dieser Sekunde eine Granate in unsre Fenster fährt, haben wir beide ausgelebt – du und ich.

Licht machen ist verboten, und noch mehr: Licht machen wäre albern. Mein Feldbett steht aufgeklappt in der sichern Ecke links. Ich lege mich darauf und horche.

Es säuselt – dann ein Knall in Baß und infernalisches Brausen über mir: eine k. u. k. Haubitze überschießt mich. Aufschlag nicht zu hören; das Ziel ist demnach weit weg, Gott sei Dank.

Es säuselt stärker als vorhin – dann eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Knalle, Tenor, und lautes Singen – unsre Feldbatterie.

Das Brausen und das Singen hat sich noch oft, sehr oft wiederholt, während ich auf dem Feldbett in der dunkeln Stube lag. Ich weiß jetzt auch genau, womit es sich vergleichen läßt: die Geschosse der Feldkanone singen wie Theatersturm, mit der Windmaschine erzeugt: Huiiii! Huiiii! Schwere Granaten brausen wie einst bei uns auf dem Land der Orkan, wenn er des Nachts in den Schornstein wollte.

Säuseln – Rrrum – Huiiii! – und Rrrum: das Echo; damit ich den Schuß nicht überhöre. Unbesorgt, ich überhöre keinen; es geht mir jeder durch Mark und Bein. Ja, ich weiß überhaupt 180 erst seit heute, was es bedeutet, dieses »durch Mark und Bein.«

Wenn nämlich eine russische Granate eben unterwegs ist, um durch mein Fenster zu fahren, so dürfte sie unter einem Einfallswinkel von rund 20 Grad kommen und trifft etwa dort den hellen Fleck auf dem Fußboden; durchschlägt die Diele und erstickt unten; oder sie hat keine Zünderverzögerung, dann kriege ich einen Nervenschock. Trifft sie rechts die Mauer, dann rumpelt sie wie ein Vollgeschoß durch, weil eine Ziegelmauer von 60 Zentimeter Stärke noch nicht gegen Granaten deckt, krepiert hier bei mir und erschlägt mich durch Gasdruck oder Splitter.

Sausen, das anwächst – Lichtschein im Fenster – Krach! Ein russisches Schrapnell, irgendwo weit weg.

Richtig, was soll der helle Fleck auf dem Fußboden? Ich erhebe mich, trete ans Fenster. Der Himmel glüht. Noch immer brennt die Mühle.

Da bricht ein betäubendes Gewitter von Artillerie aus, mein Bett zittert, und es folgt ein einziges, minutenlanges Orgeln in der Luft, das an- und abschwillt. Als es verstummt ist – klingen mir die Ohren nach? Brodelt ein Teekessel? Hat mein Diener nebenan geheizt und zieht der Ofen so laut?

Das Infanteriefeuer an der Ikwa ist wieder erwacht. Ich höre nur ein einziges Summen . . . 181 Sumsumsum . . . eine Viertelstunde – eintönig, einschläfernd. Noch ein ferner Knall – der Orkan will in den Schornstein . . . und wieder: Sumsumsum – unermeßlich lang, eintönig, einschläfernd. Der Ofen knackt und zieht. Oder will der Orkan . . .? Sumsumsum . . . Am Ofen sitzt ein Mädelchen mit feuerrotem Kleid und rosa Schärpe . . . und spielt mit Bausteinen, die auf die Diele fallen . . . mit Bausteinen, mit Hausteinen, mit Ziegelsteinen . . . mit winzigen Zinnsoldaten, Russen, die aus einer Mühle laufen . . . aus der Mühle ins Kühle . . . In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad . . . klapp, klapp, klapp . . . Mädelchen, Mühle, Himmel – alles feuerrot, rosenrot . . .

 

– 13. September 1915.

Als mein Diener eintrat, war schon Tag. Heller Tag, sieben Uhr und Stille. So fest, so tot hatte ich noch nie geschlafen.

»Haben S' gehört, Herr Roda? In der Nacht die Schießerei?« fragt mich der Diener, und in seiner Stimme ist ein Vorwurf für mich, der ich ihn in solche Situationen bringe. »Unten im dritten Haus an alte Frau haben s' in Fuß geschossen.«

Die Straßen von Dubno sind belebt von Juden, nur Juden. Neunzig Prozent der Bürgerschaft sind Juden. Russen und Tschechen gab es sieben Prozent. Die Polen, drei Prozent, 182 verschwinden in der überwiegenden jüdischen Mehrheit.

Eingeschüchtertes, abgehärmtes Volk wie hier überall. Die Frauen in nachlässigen Kleidern sitzen auf den Vorstufen der Läden, die Männer in langen Kaftans gehen müden Schrittes. Alle stumm. Hie und da lacht ein Kind schrill auf. Ich glaube, selbst wenn das Bombardement gestern und nachts nicht gewesen wäre, würden diese Leute nicht anders als erschrocken auf den Fremden blicken. Sie haben sich noch nicht dareingefunden, daß die hechtgrauen »Söldner« keine Russen sind. Die Leute würden sich auch nicht zu freuen wagen, wenn sie uns kennten – weil eben der Russe immer noch vor der Stadt steht, zurückkommen und schreckliche Rache nehmen kann.

Die Stadt ist gepflastert, überraschend sauber, wenn man die Sauberkeit nach russischer Elle mißt. Unser Divisionär hat schon eine Gemeindeverwaltung und einheimische Polizei eingesetzt. Was besonders merkwürdig ist und hierzulande sicherlich neu: der Polizist nimmt nicht einmal ein Trinkgeld an, das ich ihm biete, als er mir die katholische Kirche geöffnet hat.

Die Kirche mit ihrem beherrschenden Portikus schneidet eine der langen, breiten, graden Straßen von Dubno ab. Im übrigen bietet der Bau nicht viel. Sehr schön ist nur der Hauptaltar mit einer schwarzen Madonna von Tschenstochau, 183 deren Gewand aus Gold- und Silberblech getrieben ist. Ich weiß nicht, warum man hier die Mutter Gottes so abbildet. In Berestetschko am Styr sah ich sogar Jesum als Mohren mit langem Kraushaar, mit einer Tunika von Brokat.

Die beiden griechischen Kirchen sind kunstlos, von den Popen übrigens im Stich gelassen. Ebenso ist das Kloster leer. Die Synagoge, angeblich um 1800 von einem Fürsten Lubomirski gestiftet, ist imposant, eher ein romanischer Dom als ein Judentempel, und hat mächtige Tore und Chorgitter, alte, rohe Schmiedearbeit. Wie in Galizien erhebt sich auch hier inmitten des Tempels eine hohe umfriedete Plattform; vom Mittelschiff durch Mauern, Gitterfenster und Drahtgeflecht völlig abgeschlossen sind die Seitenschiffe für die Frauen.

Der Hauptplatz mit Läden rundum. Die Läden haben gotisch geschnittene alte Türen. Ich bilde mir ein, daß die Juden am untern Ende der Stadt russischen Typus zeigen.

In der Zitadelle bin ich schon gestern gewesen, ohne ihr, bei Gott, einen Blick geschenkt zu haben. Sie ist ehemals Lubomirskisches, jetzt Schuwalskisches Eigentum. Ein massiver, steinerner Kasten mit Wallgraben und hohem Tor. Das Dach von schweren Granaten zerschmettert, in den Mauern klaffende Risse, im Hof tiefe Trichter. Eine Marmortafel erinnert an die Tatarenkriege von 1613. Man sieht aus den 184 Fenstern die abgebrannte Mühle, die zerschossene Vorstadt Surmitschy, die besetzten russischen Stellungen, die Kasernen, Verpflegsbaracken, Munitionsdepots. Folglich sehen die Russen auch die Wirkung ihrer Granaten in den Mauern der Zitadelle und sie sehen – mich hier am Fenster: es wird nicht sehr rätlich sein, lang und auffallend zu verbleiben.

Ich kaufte in dem Laden von Dubno noch kostbare Dinge ein, die man sonst an der Front nicht leicht bekommt: Kerzen (von Bienenwachs natürlich in Wolynien, dem Land der Bienenzucht), Schokolade, Papier, Zündhölzer. Im Laden hing noch das Plakat mit den vom letzten russischen General vorgeschriebenen Höchstpreisen:

1 russisch Pfund Rindfleisch, trefe 13 Kop.,
1 russisch Pfund Rindfleisch, koscher 20 Kop.,
1 Pud Weizenmehl, 0000 2 Rubel 80 Kop.

Das macht auf unser Maß und Geld umgerechnet: für das Kilogramm Weizenmehl 34 Heller, für das Kilo Fleisch 64 bis 99 Heller. Das russische Pfund hat nämlich nur 400 Gramm.

Ich wollte auch einen Leuchter haben, aber Messingwaren gibt es in Dubno nicht; die Russen haben Kupfer, Messing, Bronze weggeschleppt, sogar die Glocken, Denkmäler und Lampen aus den Kirchen

Wenn ich einen eisernen Leuchter wollen sagte mir der Händler, müßte ich dort oben in den blauen Laden.

185 Die blaue Tür war zerschlagen und auf der Schwelle eine Blutlache. Hier wohnt nämlich die alte Frau, die heute nacht das Schrapnell bekam.

* * *

Als ich gegen Abend aus Dubno ritt, wäre ich um ein Haar vom Pferd gefallen. Sieben Uhr war es, als die ungeheure Explosion erfolgte. Die Erde barst, ein Vesuv spie Feuer, Lavabrocken, Schwaden in den Himmel. Nach Sekunden banger Furcht bebte der Grund, eine Herde von Schällen galoppierte über die Hügel.

Die Feste Dubno südlich der Stadt war von dritthalb Tonnen Ekrasit aufgeflogen. Oberleutnant Hirt des Wiener Sappeurbataillons hätte die Minen gelegt, die Schnüre geknotet und gezündet. 186

 


 


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