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Um dieselbe Zeit, wo Agnes das Haus ihres Gatten verließ, irrte der unglückliche Brandenstein noch immer hoffnungslos in der bekannten Hafenstadt umher, wo er schon seit mehreren Wochen wider Willen verweilte. Die lange und beschwerliche Reise hatte seine geringe Barschaft bis auf wenige Thaler aufgezehrt und seine physischen Kräfte erschöpft, so daß er weder das nötige Geld, noch die unentbehrliche Gesundheit besaß, um die Ueberfahrt nach Amerika machen zu können.
Dennoch hatte er seinen Plan keineswegs aufgegeben. Sobald er sich nur wieder etwas stärker fühlte, suchte er, da ihm fast alle Mittel fehlten, irgend eine Stellung als Aufseher, Steward und selbst als gemeiner Matrose auf einem der zahlreichen transatlantischen Dampfer. Leider aber waren bis jetzt alle seine Bemühungen vergeblich, da diese Stellen schon besetzt waren oder die Kapitäne ihn wegen seines elenden Aussehens zurückwiesen.
Zuletzt, als er fast schon jede Hoffnung aufgegeben und noch einige Groschen übrig hatte, wurde ihm der Posten eines die Passagiere bedienenden Kellners auf einem Schiff angeboten und von ihm, da er keine Wahl hatte, wenn auch mit Widerstreben angenommen. So sehr sich auch sein Stolz gegen eine solch niedere Beschäftigung sträubte, so sehr ihn auch der Gedanke empörte, war doch die Not stärker als seine Bedenken und Vorurteile. Er sah sich gezwungen, Kellner zu werden, wenn er nicht verhungern und sein Ziel noch erreichen wollte.
Wie schwer ihm dieser Entschluß fallen mußte, mit welchen schmerzlichen Empfindungen der Baron die von ihm geforderten Dienste verrichtete, mit welcher Reue er an sein vergangenes Leben zurückdachte, mit welcher Scham ihn seine augenblickliche Lage erfüllte, läßt sich kaum denken, geschweige beschreiben. Es kostete ihm die schmerzlichste Ueberwindung, im schwarzen Leibrock, die Serviette unter dem Arm, die Bedienung zu machen, an der Table d'hote aufzuwarten, die Suppe herumzureichen, den Kaffee zu präsentieren.
Nur zu oft war er so tief in Gedanken versunken, daß er die Bestellungen der Passagiere nicht hörte oder auszuführen vergaß, weshalb er manchen Verdruß hatte, wie gerade in diesem Augenblick, wo der alte Herr auf dem Verdeck schon zum drittenmal nach seinem Beefsteak und einer Flasche Porter verlangte.
»Jean!« schrie der Steward ihn an. »Ich glaube gar, daß Sie am lichten Tage schlafen. Wenn Sie es so fort treiben, so wird der Kapitän Sie entlassen und im nächsten Hafen sich nach einem anderen Kellner umsehen müssen.«
»Verzeihen Sie, aber ich hörte nicht –«
»Das ist ja Ihr alter Fehler, Sie scheinen wirklich taub zu sein. Dort der lange Engländer ruft schon seit zehn Minuten nach seinem Beefsteak.«
»Ich will sogleich in der Küche nachsehen, ob es schon fertig ist, und es ihm bringen.«
Als Brandenstein nach einiger Zeit mit den verlangten Speisen und Getränken zurückkehrte, fand er den alten Engländer in das Lesen seiner »Times« vertieft, hinter deren Riesenblättern sich das Gesicht des ungeduldigen Gastes verbarg. Ohne von der Zeitung aufzusehen, ließ derselbe seinen Aerger über den nachlässigen Kellner freien Lauf.
»Wie können Sie sich unterstehen, mich so lange warten zu lassen. Sie sind ein fauler Mann, ich werde klagen bei dem Kapitän wegen Ihres Betragens –«
Plötzlich aber blieb der entrüstete Engländer mitten in seinem unvollendeten Satze stecken und starrte den überraschten Kellner mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde an, als ob ihm ein Gespenst erschienen wäre. Seine Verwunderung war so groß, daß er das früher so sehnlichst gewünschte Beefsteak keines Blickes würdigte und den schäumenden Porter nicht berührte.
»Branden – Brandenstein, yes Master Brandenstein!« lief der wunderliche alte Herr so laut und eifrig, daß sich die in der Nähe befindlichen Passagiere nach ihm umwendeten.
Zugleich ergriff er mit sichtlicher Freude die Hand des erstaunten Barons und schüttelte sie so herzlich, daß dieser fast aufschrie, während der närrische Engländer vor Vergnügen lachte und die komischsten Gesichter schnitt.
»Indeed a joke, a capital joke! (In der That ein Spaß, ein ausgezeichneter Spaß!) Sie kennen mich nicht mehr.«
»Allerdings,« erwiderte er verlegen. »Ich erinnere mich nicht –«
»Aber ich haben nicht vergessen meinen Retter, den Herrn von Brandenstein, der mich hat befreit von den Schurken, als ich war in Berlin und besuchte meinen guten Freund.«
Jetzt erst erkannte der Baron den Engländer, dem er in jener abenteuerlichen Nacht zu Hilfe gekommen war bei dem Anfall der verwegenen Strolche, welche den Fremden berauben wollten. Von neuem schüttelte der alte Herr ihm die Hand und wieder lachte er laut, während er ihn dabei aufmerksam vom Scheitel bis zur Sohle betrachtete.
»Seien Sie sehr verändert, Master Brandenstein, seit ich die Ehre hatte. Sie zu sehen, haben Sie abgeschnitten Ihres Bart, seien Sie geworden sehr, sehr bleich, tragen Sie nicht mehr Ihre Uniform. Müssen Sie mir sagen thun, was mit Ihnen vorgegangen ist?«
»Das kann Sie schwerlich interessieren,« erwiderte er ausweichend.
»O! sagen Sie das nicht. Ich sein noch in Ihrer Schuld und bitte darum, mir mitzuteilen, was ich thun kann für Sie.«
So sehr sich auch Brandenstein sträubte, dem Engländer seine traurigen Schicksale zu erzählen, so ließ dieser nicht ab, bis er wenigstens einen Teil der Wahrheit teils erfahren, teils erraten hatte. Es bedurfte gerade keines besonderen Scharfblickes, um die verzweifelte Lage des Barons, dessen Armut und Not zu erkennen, da das Aussehen und die ganze Stellung desselben ihn wider Willen verriet. Zugleich aber besaß der alte Herr so viel Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, um einzusehen, daß er es mit keinem gewöhnlichen Abenteurer, mit keinem gänzlich verkommenen Menschen zu thun habe.
»Sie müssen nicht sinken lassen Ihren Mut. Ein Mann ist darum noch nicht verloren, wenn er auch gemacht hat einen dummen Streich. Ich bin auch einmal gewesen jung und habe auch begangen manche Thorheit und jetzt bin ich ein respektabler Gentleman und stehe an der Spitze eines der größten Werke in Birmingham und beschäftige viele hundert Arbeiter in meinen Fabriken.«
»Sie waren so glücklich, die nötigen Kenntnisse zu besitzen, aber ich habe nichts gelernt. Ich verstehe nichts, als höchstens die Rekruten einexerzieren, ein Pferd zu reiten und mit dem Gewehr umzugehen.«
»Das schadet nichts. Sie sind noch jung und können noch viel lernen, wenn Sie nur wollen. Ich selbst suche einen Inspizienten für meine Gewehrfabrik, wozu Sie als früherer Offizier sich gewiß ganz besonders eignen würden.«
»Ich verkenne nicht Ihre Güte, aber ich fürchte, daß ich einer solchen Stellung nicht gewachsen sein dürfte.«
»Es kommt nur auf einen Versuch an. Wenn Sie nach Ablauf einiger Wochen sich mit der Arbeit nicht befreunden, so können Sie noch immer nach Amerika gehen. Schlagen Sie ein, Master Brandenstein!«
Länger vermochte der Baron nicht der dringenden Einladung des Engländers zu widerstehen, der sogleich mit dem Kapitän sprach und diesen dazu bewog, Brandenstein aus seinem Dienst zu entlassen und nach Zahlung des Passagiergeldes von allen Verpflichtungen zu entbinden.
Herr Lewis war, was man einen selbstgemachten Mann nennt, eine durchaus tüchtige und praktische Natur, ein wahrer Gentleman, der sich trotz seiner materiellen Beschäftigung eine gewisse Idealität zu bewahren gewußt und sich eine nicht gewöhnliche Bildung angeeignet hatte. Mit einem scharfen Verstand verband derselbe eine große Humanität, die sich unter einem zurückhaltenden, fast schroffen Wesen verbarg.
Mr. Lewis hielt mehr als er versprochen hatte. Brandenstein wurde von ihm wie ein alter Freund behandelt, in der Familie seines Beschützers wie ein naher Verwandter aufgenommen und von ihm schon am nächsten Tag in die Fabrik eingeführt, um sich vorläufig mit seinem künftigen Wirkungskreise bekannt zu machen. Hier ging ihm eine völlig neue, fremde Welt auf. Der Anblick dieser großartigen industriellen Thätigkeit erfüllte ihn mit wahrer Bewunderung, in die sich anfänglich die natürliche Bangigkeit und Scheu vor dem Ungewohnten mischte.
Ein Komplex von größeren und kleineren Gebäuden bildete eine förmliche Kolonie von dem Umfang einer kleinen Stadt. Schon aus der Ferne erblickte man die riesigen Dampfschornsteine gleich den Türmen eines neuen Kultus zum Himmel emporragend. Ein donnerndes Getöse verkündigte das rege Leben und Schaffen von tausend fleißigen Händen. Arbeit! tönte aus jedem wuchtigen Hammerschlag, riefen die zahllosen brausenden, zischenden und keuchenden Maschinen, die gebändigten Riesen mit ihren rastlosen, ehernen Armen und eisernen Gliedern.
»Arbeit!« schnaubte der gewaltige Herrscher Dampf, murmelte das rauschende Wasser, prasselte die rote Lohe der glühenden Kohle. »Arbeit!« klang es bald laut, bald leise, bald fröhlich, bald traurig, kreischend und lachend, seufzend und schreiend aus allen Winkeln und Ecken, aus der Höhe und in der Tiefe. Gleich feuerspeienden Vulkanen schmolzen die mächtigen Hochöfen das rohe Erz. Das kochte, zischte, sprudelte und prasselte, wenn die erhitzte Luft aus dem kolossalen Windkessel gefahren kam und mit ihren sausenden Schwingen die Flamme anfachte. Aus den sorgfältig bewachten Oeffnungen schoß wie ein Feuerstrom das geschmolzene Metall mit rotem blendendem Schein, daß die Augen den stechenden Glanz nicht zu ertragen vermochten.
Schwarze Gnomen und rußige Cyklopen schöpften mit riesigen Löffeln und Eimern das flüssige Erz und gossen es in die bereit stehenden Formen von feuchtem Sand, welche weiße Dampfwolken zischend ausstießen. Andere Arbeiter stiegen auf hundert Stufen zu den turmhohen Hochöfen empor, um ihnen neue Nahrung zuzutragen. Es war ein großartiges, überwältigendes Schauspiel, tausend Menschenhände um die Wette mit den Gewalten des Dampfes und des Wassers um den Preis ringend.
Hier wurden die abgekühlten Formen zerschlagen, Cylinder, Räder, Walzen, Röhren von ihrem Erdmantel befreit, dort der Kessel einer Dampfmaschine mit dröhnenden Hammerschlägen getrieben, Eisenbahnschienen gestreckt, Bleche gedehnt, Ketten geschmiedet. Gleich phantastischen Krebsscheren eines fremden Seeungeheuers packten die eisernen Zangen das glühende Metall, zogen, zerrten und dehnten es, so sehr es sich auch sträubte und stöhnte, bis es die gewünschte Form und Gestalt gewann. Mächtige Blöcke verwandelten sich in Schienen und Bänder, wurden immer dünner und schmächtiger, bogen und krümmten sich wie es ihnen geheißen wurde.
Dort nickte ein eisernes Ungetüm mit dickem Kopf und scharfen Zähnen, welche die zolldicken Eisenplatten im Handumdrehen zerstückelten. Daneben kreischte der gewaltige Bohrer wie ein Raubvogel, der sich mit wildem Geschrei aus den Lüften auf seine Beute stürzt. Aechzende Walzen krochen und glitten gleich Schlangen über den Boden hin, während der wuchtige Dampfhammer gleich einer Lawine alles niederschmetternd von der Höhe niederfiel. Alle diese tausendfachen Stimmen vereinten sich zu dem gewaltigen Ruf: »Arbeit!«
Betäubt und verwirrt von dem wilden Lärm, befremdet von dem zwar großartigen und interessanten, aber erdrückenden Schauspiel, schritt Brandenstein schweigend an der Seite seines freundlichen Führers durch die verschiedenen Räume der Fabrik, wobei er sich nicht eines peinlichen Gefühls zu erwehren vermochte. Die erdrückende Hitze erschien ihm unerträglich, der Qualm und Dampf drohte ihn zu ersticken. Diese halbnackten, von Ruß und Rauch geschwärzten Männer, welche an ihm mit lautem Geschrei vorüberstürzten, kamen ihm wie verdammte Geister der Hölle vor. Der Kopf schmerzte ihn von den verschiedenen Ausdünstungen und seine Augen thaten ihm weh von der blendenden Glut des Feuers.
»Sie werden sich schon mit der Zeit daran gewöhnen,« sagte sein Beschützer, der in der Miene des Barons dessen Gedanken wohl zu lesen vermochte.
»Ich glaube kaum,« erwiderte er in einer Anwandlung seiner früheren aristokratischen Vorurteile.
»Das würde mir ebenso sehr in meinem wie in Ihrem Interesse leid thun. Ich gebe jedoch keineswegs die Hoffnung auf, daß Sie sich vor dem ersten oberflächlichen Eindruck nicht zurückschrecken lassen werden. In einigen Tagen schon werden Sie anders urteilen. Ich verdenke Ihnen keineswegs, daß Sie noch mit ihren alten Ansichten kämpfen, daß Ihnen alle diese Beschäftigungen, das ganze Treiben nicht im ersten Augenblick zusagt. Ich halte Sie aber für zu vernünftig, um sich der Wahrheit zu verschließen, daß es keine Arbeit giebt, welche dem Mann zur Unehre gereicht.«
»Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich mich vor der Arbeit scheue.«
»Und Sie werden sie bald lieben lernen; denn sie allein macht den Menschen frei und selbständig.«
»Das leugne ich auch nicht, nur fürchte ich, daß der Materialismus, der leider mit dem Aufschwung der Industrie Hand in Hand geht, das ideale Streben immer mehr zu vernichten droht, unsere besseren Gefühle ertötet und die höchsten Güter der Menschheit wesentlich in Frage stellt.«
»Und doch,« versetzte Herr Lewis, »werden Sie mir zugeben müssen, daß trotz der unausbleiblichen Schattenseiten, welche mit jeder menschlichen Einrichtung verbunden sind, gerade die moderne Industrie das meiste zu dem Fortschritt und der Entwicklung der Menschheit beiträgt. Jede neue Entdeckung, jede Maschine, die wir aufstellen, ist ein Kämpfer und Bahnbrecher für die Civilisation und Kultur des Volkes. Der Geist besiegt immer mehr die Materie und zwingt sie, seine Gedanken und erhabenen Ideen zu verwirklichen. Wie Prometheus hat er das Feuer vom Himmel geholt und die Welt mit seinem Licht erhellt. Die Wissenschaft verwandelt die dunkle Kohle in leuchtendes Gas und macht den elektrischen Funken zum beflügelten Boten des Gedankens. Der Dampf verrichtet Wunderwerke und verwirklicht die Märchen und Sagen des poetischen Altertums. Mit seinen Siebenmeilenstiefeln durchläuft er die Erde im Fluge und gleich den Riesen und Heroen der Urwelt arbeitet er im Dienste der Humanität und Bildung. Jeder Hammerschlag, der durch diese Fabrik dröhnt, zertrümmert eine Schranke und bricht eine Kette; das rollende Rad der Lokomotive geht brausend und zermalmend über die sich entgegenstemmenden Vorurteile hinweg und die Schienen, welche wir hier schmieden, schlingen sich wie ein eisernes Band um Länder und Meere, die fernsten Nationen miteinander verknüpfend. Eine neue Gesellschaft ist auf den Trümmern der alten erstanden, eine Gesellschaft freier und gleichberechtigter Menschen, die sich um das Banner der welterlösenden Arbeit scharen und ohne jeden blutigen Kampf die größte aller Revolutionen vollbringen.«
In der That befreundete sich Brandenstein schneller als er selbst gedacht, mit seiner neuen Beschäftigung. Mit steigendem Interesse besuchte er täglich die Fabrik, wo er unter der Anleitung eines tüchtigen Ingenieurs, dem er von Master Lewis empfohlen worden war, seine Studien machte und die wahrhaft bewunderungswürdigen Einrichtungen kennen lernte.
Zugleich empfand er die wohlthuende Macht einer regelmäßigen Thätigkeit, die innere Befriedigung, welche allein die Arbeit zu geben vermag. Nach all den vorangegangenen Kämpfen und Leiden fühlte er mehr als je das Bedürfnis nach Ruhe und Frieden, die ihm in seiner neuen Umgebung und in dem Hause seines großmütigen Beschützers in der zartesten Weise geboten wurden. Hier herrschte das reizendste, innigste Familienleben, wie man es vorzugsweise in den gebildeten und wohlhabenden Kreisen Englands zu finden pflegt, verbunden mit der liebenswürdigsten Gastfreundschaft.
Noch vor Ablauf der gestellten Frist erklärte sich Brandenstein bereit, die ihm angebotene Stelle zu übernehmen, nachdem er sich die dazu nötigen Kenntnisse durch fleißige Studien erworben hatte, wobei er durch den Umstand unterstützt wurde, daß er als früherer Offizier mit der Konstruktion und dem Gebrauch der Waffen bereits Bescheid wußte. So vereinten sich alle Bedingungen, um ihn nach all den vorangegangenen Verirrungen einen ihm zusagenden Wirkungskreis und eine in jeder Beziehung befriedigende, glückliche Laufbahn zu erschließen. Bald wurde sein Beschützer sein bester Freund; auch die Familie desselben behandelte ihn nicht wie einen Fremden, sondern wie einen nahe Angehörigen. Ebenso wußte er sich in kurzer Zeit die Achtung seiner Vorgesetzten und die Liebe der ihm untergebenen Arbeiter zu gewinnen.
Mit diesen günstigen Erfolgen, die er nicht nur dem Zufall, sondern hauptsächlich seiner eigenen Tüchtigkeit verdankte, kehrte auch sein Lebensmut, das Gefühl der Selbstachtung und jener echt männliche Stolz zurück, welchen nicht Geburt und Rang, sondern das Bewußtsein der eigenen Kraft mit der verdienten Anerkennung allein zu geben vermag. Nur der Gedanke an das verlorene Glück, an die Geliebte, der er für immer entsagt, warf einen düsteren Schatten auf die schöne Gegenwart und auf sein jetziges Leben.
Trotzdem er einen ewigen Abschied von Agnes genommen hatte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, ihr zu schreiben, um sie mit seinem Schicksal bekannt zu machen. Nachdem er ihr seine Begegnung mit Mr. Lewis mitgeteilt, fuhr er mit folgenden Worten fort: »So dankbar ich auch meinem Beschützer bin, so kann ich mir doch nicht verhehlen, daß ich ohne dich, trotz aller seiner Bemühungen, mich zu retten, elend untergegangen wäre. Du allein gabst mir den verlorenen Glauben an die Menschheit wieder. Du zeigtest mir den Weg zu meinem Heil und führtest mich dem Ziel entgegen. Was ich jetzt bin und mein eigen nenne, schulde ich dir allein. Die Erinnerung an dich verlieh mir die Kraft, ein neues Leben zu beginnen und durch dich bin ich ein anderer, ich darf wohl sagen ein besserer Mensch geworden. Nicht ohne schweren Kampf konnte sich jedoch in mir ein derartiger Verwandlungsprozeß vollziehen; nur mit deiner Hilfe habe ich ihn bestanden und über mich selbst gesiegt. Wenn ich zu erliegen drohte, so genügte der Gedanke an dich, um mich wieder aufzurichten. Es kostete mich eine große Ueberwindung, mit meiner ganzen thörichten Vergangenheit zu brechen. Die frivole Welt, in der ich bisher lebte, hatte mich mit ihrer moralischen Fäulnis angesteckt und mich körperlich und geistig vergiftet. Es bedurfte jener gewaltsamen Katastrophe, um mir die Augen zu öffnen und mir den verderblichen Abgrund zu zeigen, an dem ich in meiner unbegreiflichen Verblendung baumelte. Wenn ich auch jetzt die Gefahr erkannte, so war ich zu schwach, zu entnervt, um mich selbst vor dem unvermeidlichen Ruin zu bewahren. Da erschienst du mir, mitten in meiner tiefsten Erniedrigung, wie ein Bote des Himmels und reichtest dem Gefallenen deine Hand. Deine Liebe hat mich erlöst, die Arbeit mich befreit. Liebe und Arbeit sind die guten Genien, die Schutzgeister meines Lebens geworden. Mit ihrer Hilfe hoffe ich, einst deiner würdig zu werden, so daß du nicht mehr bei Nennung meines Namens erröten darfst. Das ist alles, was ich noch wünschen und verlangen kann, nachdem ich durch eigene Schuld das höchste Glück für immer verscherzt habe –.«
Dieser Brief blieb unbeantwortet und auch ein zweites Schreiben, das er einige Wochen später an Agnes richtete, kam uneröffnet an ihn zurück, mit dem Bemerken, daß der jetzige Aufenthalt der Frau von Rabeneck nicht zu ermitteln gewesen wäre. Ebensowenig führten Brandensteins fernere Bemühungen, etwas näheres über dieselbe zu erfahren, zu dem gewünschten Resultat, weshalb er ernstlich besorgt war, da er sich dieses hartnäckige Stillschweigen nicht zu erklären vermochte.
Während der Baron in Birmingham lebte, wo er durch eine seltene Vereinigung glücklicher Umstände einen angemessenen Wirkungskreis und eine ehrenvolle Stellung gefunden hatte, kämpfte Agnes mit all den Hindernissen und Schwierigkeiten, die sich der Ausführung ihres kühnen Entschlusses entgegenstellten. Nachdem sie von ihrem Gatten geschieden war, zog sie sich nach einer kleinen Stadt in Thüringen zurück, um sich in einem daselbst befindlichen Lehrerinnenseminar für ihren künftigen Beruf vorzubereiten und besonders ihr musikalisches Talent auszubilden, da sie die ernstliche Absicht hatte, sich durch Unterricht ihr Brot zu verdienen. Obgleich sie es weder an Fleiß noch an gutem Willen fehlen ließ, fiel es ihr schwer, sich in ihre gänzlich veränderte Lage zu finden, sich wieder an die beschränkten Verhältnisse zu gewöhnen und auf die ihr früher so gleichgültig scheinenden Vorteile des Reichtums zu verzichten. In dem engen Stübchen, das sie jetzt bewohnte, glaubte sie zu ersticken; der Anblick der niederen Fenster, der mit gelber Kalkfarbe angestrichenen Wände, der alten, plumpen Möbel beleidigten ihr Schönheitsgefühl und der Mangel an jedem Komfort verleidete ihr das Leben.
Schmerzlicher noch als diese materiellen Genüsse vermißte Agnes die geistigen Vorzüge der großen Stadt, die Annehmlichkeiten einer passenden Gesellschaft, eines sie anregenden und zerstreuenden Umgangs, die belebende Atmosphäre von Kunst und Wissenschaft, in der sie bisher sich bewegt hatte. Bei all ihrer Güte und Nachsicht konnte sie sich nicht mit dem kleinstädtischen Wesen befreunden, nicht mit den engherzigen Anschauungen ihrer neuen Umgebung sympathisieren.
Am wenigsten sprach sie der Verkehr mit den zwar tüchtigen und gebildeten, aber pedantischen Leitern des Seminars an, welche in reichstem Maße die den deutschen Gelehrten anhaftende Ungeschicklichkeit und Schwerfälligkeit besaßen, wenn auch ihr Wissen nichts an Gründlichkeit zu wünschen übrig ließ. Agnes sah sich genötigt, ihre Studien, die sie bisher mehr spielend und zu ihrer Unterhaltung als talentvolle Dilettantin getrieben hatte, nach der strengen Methode des Direktors zu regeln und gewissermaßen noch einmal von vorn anzufangen, da derselbe mehr aufrichtig als galant ihre Kenntnisse für eitel Stückwerk und ihr Klavierspiel, womit sie in der Residenz einst geglänzt, für Stümperei hielt, wie sich das von selbst bei einem alten Herrn verstand, der alle modernen Musiker und Virtuosen als Charlatane verachtete und nur die »wohl temperierte Klavierschule« des großen Bach als das allein seligmachende Evangelium anerkannte.
Ungeachtet aller dieser Unannehmlichkeiten verfolgte Agnes ihr Ziel mit der ihr eigenen Energie und mit solchem Eifer, daß sie schon nach Ablauf eines Jahres ihr Lehrerinnenexamen vorzüglich bestand. Mit den besten Zeugnissen und Empfehlungen des Direktors versehen, verließ sie das Seminar, um eine Stelle zu suchen. Nichtsdestoweniger sah sie sich in ihren Hoffnungen getäuscht, da sie keineswegs so leicht ein Engagement fand, als sie erwartet hatte. Ueberall stieß sie auf Hindernisse, woran hauptsächlich ihre auffallende Erscheinung, ihre vornehmen Allüren und ihre eleganten Formen die Schuld zu tragen schienen. Die meisten Herrschaften, denen sie sich vorstellte, nahmen Anstand, eine so schöne und distinguierte Lehrerin in ihr Haus zu nehmen, indem sie die damit verbundenen Unzuträglichkeiten scheuten. Bald fürchtete eine eifersüchtige Frau für die Tugend ihres Gatten, bald eine besorgte Mutter für das Herz ihres erwachsenen Sohnes, oder daß Agnes mit ihrer Schönheit die mehr als zweifelhaften Reize der heiratsfähigen Töchter verdunkeln könne.
Eine kurze Zeit fand dieselbe ein erwünschtes Unterkommen und Beschäftigung in einer vornehmen Pensionsanstalt für junge Damen der höheren Stände, wo sie Unterricht in der englischen Sprache und in der Musik zur größten Zufriedenheit erteilte. Leider sah sie sich schon nach wenigen Wochen genötigt, die ihr lieb gewordene Stelle wieder aufzugeben. Eine Geheimrätin aus der Residenz, welche zufällig ihre in dem Institut verweilende Tochter besuchte, erkannte in der jungen Lehrerin die geschiedene Frau von Rabeneck und beeilte sich, diese interessante Entdeckung der Pensionsvorsteherin mit den üblichen pikanten Bemerkungen und Ausschmückungen mitzuteilen.
»Sie können unmöglich,« sagte die würdige Dame voll sittlicher Entrüstung, »eine so anrüchige Person länger in Ihrem Hause behalten, ohne Ihr Institut zu diskreditieren. An Ihrer Stelle würde ich sie augenblicklich entlassen, sie fortschicken.«
»Mein Gott!« rief die bestürzte Vorsteherin. »Sie erschrecken mich, gnädige Frau. Ich hatte keine Ahnung. Wie konnte ich wissen! Die junge Dame war mir auf das wärmste empfohlen, hatte die besten Zeugnisse und ein so sittsames, unschuldiges Wesen.«
»Das ist wahr. Sie sieht aus, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte, und doch ist sie die gefährlichste Kokette, welche ich kenne.«
»O, ich bitte mir nur zu sagen –«
»Sie hat ihren armen Mann, der sie auf Händen getragen, in der gemeinsten Weise getäuscht und betrogen, zahllose Liebschaften hinter seinem Rücken angeknüpft und ein wahrhaft skandalöses Verhältnis mit einem liederlichen Offizier und einem entlaufenen Schauspieler unterhalten, so daß dem Herrn von Rabeneck nichts übrig blieb, als sich von ihr scheiden zu lassen.«
»Ich schaudere, wenn ich daran denke, daß eine solche Kreatur mein reines Haus durch ihre Gegenwart entweiht. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich vollkommen unschuldig bin.«
»Das glaube ich und Sie dürfen auf meine Diskretion rechnen, unter der Bedingung, daß Sie diese Person so bald als möglich entfernen, damit sie nicht die ihr anvertrauten Zöglinge verdirbt und ansteckt.«
»Sie können sich darauf verlassen, daß dies noch heute geschehen soll.«
Natürlich empfing die arme Agnes die Kündigung ihrer Stelle und zwar in einem Ton, der sie nicht an der wahren Ursache oder vielmehr an der schändlichen Verleumdung der würdigen Geheimrätin zweifeln ließ. Um sich nicht von neuem ähnlichen Scenen auszusetzen, hielt sie es für geraten, so weit als möglich zu gehen und einen Ort aufzusuchen, wo sie voraussetzen durfte, von keinem Menschen gekannt zu sein. Endlich nach langem, vergeblichen Herumwandern war sie so glücklich, in der französischen Schweiz ein Asyl bei einem ehrenwerten Geistlichen zu finden, der an der Spitze einer ausgezeichneten Erziehungsanstalt stand, welche vorzugsweise nur von jungen Amerikanerinnen und Engländerinnen besucht wurde.
Hier in der stillen Abgeschiedenheit einer herrlichen Natur an dem entzückenden Ufer des Genfer Sees, im Umgang mit einer wahrhaft gebildeten Familie und im Kreise ihrer meist liebenswürdigen Zöglinge, von denen sie bald angebetet wurde, vergaß Agnes alle ihre bisherigen Leiden. Sicher vor jeder unangenehmen Entdeckung und Berührung mit der Außenwelt, von ihrem Beruf ganz ausgefüllt, empfand auch sie ein nie zuvor gekanntes Glück, das nur zuweilen durch die Erinnerung an den armen Brandenstein getrübt wurde, dessen unerklärliches Schweigen sie mit stiller Trauer und bangen Befürchtungen erfüllte.