Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5.

.

Während dieser Ereignisse machte Frau von Rabeneck mit ihrem Gatten in Begleitung ihrer Mutter die übliche Hochzeitsreise nach der Schweiz und Oberitalien. Der Anblick jener herrlichen Gegenden, die sie zum erstenmal erblickte, die reizenden Ausflüge und Partien in den Berner Alpen, auf dem Vierwaldstädter und Comer See, verbunden mit all dem Komfort und all den Annehmlichkeiten, welche ein großes Vermögen gewährt, die interessanten Bekanntschaften, welche sie unterwegs in den verschiedenen Hotels und Pensionen anknüpfte, zerstreuten sie und söhnten sie vorläufig mit ihrem Schicksale aus.

Man konnte sich in der That keinen zärtlicheren und aufmerksameren Ehemann denken, als Herrn von Rabeneck. Er betete seine junge Frau an, er sah ihr jeden Wunsch an ihren Augen ab und sorgte in einer wahrhaft verschwenderischen Weise für ihre Toilette und für ihre Vergnügungen. Die neuen großartigen Eindrücke, die fortwährenden Zerstreuungen, der stete Wechsel und vor allem die ungewohnten Genüsse, welche ihr der Reichtum ihres Gatten bot, verdrängten nach und nach die schmerzlichen Erinnerungen und ließen sie die Vergangenheit vergessen.

Zugleich empfand Agnes in vollstem Maße das vorher nie gekannte Glück eines gesicherten Wohlstandes, das angenehme Gefühl, sich keinen erlaubten Wunsch versagen zu müssen und ihrer Mutter ein sorgloses Leben bereiten zu können. Das erfüllte sie, wenn auch nicht mit Liebe, doch wenigstens mit Dankbarkeit für ihren Gatten. Außerdem fand sich ihre verzeihliche Eitelkeit durch die ihr zu teil werdende Bewunderung geschmeichelt. Ueberall, wo die schöne, junge Frau erschien, wurde ihr gehuldigt, waren die Herren entzückt von ihrer Liebenswürdigkeit, schienen selbst die Damen bezaubert von ihrer Anmut und von ihrem Geist.

Dennoch gab es Augenblicke, wo sie trotz aller Vergnügungen und Zerstreuungen sich unbefriedigt fühlte und eine ihr selbst unerklärliche Leere empfand. Zuweilen füllten sich ihre Augen, ohne jeden Grund, mit heißen Thränen und sie überließ sich einer stillen Trauer, welche sie vor ihrer Umgebung so weit als möglich zu verbergen suchte. Dabei wurde sie zusehends bleicher und sah leidend und angegriffen aus.

Dieser Zustand nahm eine wahrhaft beunruhigende Form an, als Agnes auf der Rückreise zufällig mit einigen Bekannten an der Table d'hote in Interlaken zusammentraf, welche sehr erfreut waren, sie in so glänzenden Verhältnissen wiederzusehen. Nach den üblichen Begrüßungen, gegenseitigen Erkundigungen und Fragen, wurden die neuesten und interessantesten Ereignisse aus der Heimat mitgeteilt. Bisher hatte Agnes diesen Berichten wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt, da ihr die genannten Damen und Herren zum größten Teil gleichgültig waren, als plötzlich die Nennung eines Namens sie aus ihrer Ruhe aufschreckte.

»Wissen Sie schon,« fragte eine der neu angekommenen Freundinnen, »daß der Kammerherr von Brandenstein sich verlobt hat?«

»Sie meinen wohl seinen Neffen, den Lieutenant,« entgegnete Frau von Lingen. »Der Kammerherr ist ja ein alter Mann.«

»Alter schützt vor Thorheit nicht,« entgegnete eine andere Dame aus der Gesellschaft.

»Diesmal trifft das Sprichwort nicht ein. Der Kammerherr macht eine brillante Partie, er heiratet die Tochter eines mehrfachen Millionärs, ein Fräulein Stricker.«

»Ah! das ist wirklich interessant. Und was sagt sein Neffe dazu?«

»Der hat sich, wie man sagt, wegen dieser Affaire mit seinem Onkel brouilliert und wegen unbezahlter Ehrenschulden den Abschied nehmen müssen.«

»Ein ganz verkommener Mensch,« fügte die andere Dame hinzu, »selbst seine Kameraden und besten Freunde haben ihn aufgegeben. Ich glaube, daß ihm nichts übrig bleiben wird, als sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen, da er gänzlich mittellos ist und auch der Kammerherr nichts mehr von dem ungeratenen Neffen hören will.«

Während dieser peinlichen Unterhaltung stand die arme Agnes wirkliche Folterqualen aus. Nur mit der größten Mühe vermochte sie sich aufrecht zu erhalten und nur mit dem Aufgebot ihrer ganzen moralischen Kraft gelang es ihr, den Ausbruch ihrer körperlichen und geistigen Leiden zu unterdrücken. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe und eine Leichenblässe bedeckte ihre zarten Wangen.

.

»Mein Gott,« rief die besorgte Mutter, welche jetzt erst diese auffallenden Veränderungen bemerkte. »Was fehlt dir denn? Du siehst ja zum Erschrecken aus.«

»O! nichts, nichts,« murmelte die Unglückliche. Ich fühle mich nur etwas angegriffen von unserer gestrigen Partie nach der Wengernalp. Ein wenig Ruhe wird mir gut thun.«

Auf den Arm ihrer Mutter gestützt, verließ Agnes den Speisesaal, um sich auf ihr Zimmer zu begeben, während Herr von Rabeneck den Badearzt aufsuchte. Sobald sich die Kranke allein sah, warf sie sich auf ihr Lager und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Das bleiche Gesicht in die Kissen des Bettes verbergend, überließ sie sich, nachdem sich auf ihre Bitten Frau von Lingen entfernt hatte, ihrem wilden, namenlosen Schmerz, von den widersprechendsten Gefühlen, von Scham und Reue, von Trauer und Verzweiflung erfüllt.

Wieder stand das Bild des verlassenen Geliebten vor ihren Augen und starrte sie wie an jenem Abend im Opernhause mit bittenden, vorwurfsvollen Augen an; wieder hörte sie ihn mit seiner verlockenden Stimme um ihre Verzeihung flehen. Wenn er auch sein Unglück zum größten Teil verschuldet hatte, so empfand sie doch das tiefste Mitleid mit ihm. Vielleicht hätte sie ihn noch retten können, wenn sie nicht so hart und grausam gegen ihn gewesen wäre. Der Gedanke an seine trostlose Lage, an sein jammervolles Geschick, weckte von neuem ihr Interesse für den bedauernswerten Mann, das sie bereits erstorben glaubte. Dem glücklichen, leichtsinnigen, frivolen Offizier vermochte sie wohl zu widerstehen und ihn zu vergessen, aber der gebeugte, von der ganzen Welt verlassene, von seinen nächsten Verwandten und seinen besten Freunden verratene Brandenstein war ihr gefährlicher, als in seinen besten Tagen. Nein, sie wollte es nicht glauben, daß er so tief gesunken, sie konnte es nicht fassen, daß er so elend untergehen sollte. Sie suchte ihn vor sich selbst zu rechtfertigen, ihn wegen aller seiner Schwächen und Fehler zu entschuldigen, während sie sich selbst wegen ihrer übermäßigen Strenge anklagte.

Als der hinzugerufene Arzt in Begleitung des Herrn von Rabeneck an ihrem Lager erschien, fand er Agnes noch sehr aufgeregt und fiebernd. Er erklärte den Zustand für ein nervöses Leiden und verordnete vor allen Dingen Ruhe, nachdem er zum Ueberfluß einige Tropfen Kirschlorbeerwasser verschrieben hatte. Da aber die Mixtur ohne Erfolg gegeben wurde und bei Agnes keine Besserung bewirkte, so ließ der besorgte Gatte einen bekannten Professor der Medizin aus Bern kommen, der zwar durch seine Mittel das Fieber beseitigte, aber vergebens gegen die rätselhafte Schwäche und geistige Verstimmung ankämpfte, deren Ursache ihm ebenso wie ihren Angehörigen verborgen blieb.

Auf den Rat des bekannten Klinikers verließ Herr von Rabeneck mit seiner leidenden Frau Interlaken, um sie nach einem der stärkenden Bäder im Schwarzwald zu führen, von dem sich der Arzt den besten Erfolg versprach. In der That schien auch der Genuß der kräftigen Waldluft, der Gebrauch der eisenhaltigen Quellen, vor allem aber die stille Abgeschiedenheit des reizend gelegenen Ortes so wohlzuthun, das sie sich wenigstens körperlich nach und nach erholte, wenn auch eine große Niedergeschlagenheit und geistige Erschlaffung, eine früher nie an ihr wahrgenommene Reizbarkeit und Launenhaftigkeit zurückblieb.

Voll zarter Aufmerksamkeit für die Kranke suchte Herr von Rabeneck dieselbe nach Kräften zu zerstreuen, aber weder diese Zerstreuungen noch die liebevolle Sorge ihres Gatten und ihrer Mutter, noch die Reize der Natur und die Unterhaltungen der sich für die schöne Frau interessierenden Gäste vermochten sie aus ihrer unerklärlichen Niedergeschlagenheit zu reißen. Gleichgültig fuhr sie durch die schönsten Gegenden und vollkommen apathisch saß sie in der Gesellschaft da. Die entzückendste Aussicht konnte ihr kaum einen Blick, das geistreichste Gespräch, die beste Musik ihr kaum ein mattes Lächeln abgewinnen. Am liebsten noch wanderte sie allein oder in Begleitung ihrer Mutter auf wenig betretenen Wegen durch den nahen Wald, wo sie nur selten einem Menschen begegnete.

Nur auf vieles und wiederholtes Zureden ihres ernstlich bekümmerten Gatten ließ sich Agnes eines Abends, wo das schlechte Wetter sie an ihrem gewohnten Spaziergang hinderte, endlich bewegen, mit ihm und ihrer Mutter in das Theater zu gehen, in dem eine seit kurzem erst eingetroffene Schauspielertruppe zweiten oder dritten Ranges ihre Vorstellungen gab. Wider Erwarten schien sie das aufgeführte Stück, das bekannte französische Lustspiel ›Man sucht einen Erzieher‹, lebhaft zu interessieren. Mit sichtlicher Aufmerksamkeit verfolgte sie bis zum Schluß den Gang der Handlung und besonders das Schicksal der Hauptperson, eines jungen, leichtsinnigen Roué, der unter der Maske eines Hauslehrers sich zuerst in eine ehrenwerte Familie einschleicht, um sich einen schlechten Scherz zu machen, statt dessen aber das in seine Ehre gesetzte Vertrauen vollkommen rechtfertigt und zuletzt, durch die Liebe der schönen, unschuldigen Tochter des Hauses geläutert und bekehrt, seinem früheren Leben entsagt und allen ferneren Versuchungen mutig widersteht.

Obgleich die Darstellung nur mittelmäßig war und manches zu wünschen übrig ließ, fand sich Agnes durch den Inhalt des Lustspiels angenehm berührt und angesprochen. Zur großen Freude ihrer Begleiter verriet sie zum erstenmal seit langer Zeit eine größere Teilnahme und Befriedigung, als bei den Leistungen der ersten Künstler. Vor allem gefiel ihr der Charakter des Helden, der sich ungeachtet aller seiner Thorheiten und Verirrungen sein besseres Selbst und den angeborenen Adel bewahrte und den die Liebe vor dem Untergang rettete. Diesem Umstande hatte wohl auch hauptsächlich das Stück ihren Beifall zu danken, indem sie unwillkürlich durch die Hauptperson desselben an Brandenstein erinnert wurde. Im stillen hoffte auch sie, daß der Unglückliche noch nicht ganz verloren sei und sich früher oder später von seinem tiefen Fall erheben werde.

Da Agnes, wie Herr von Rabeneck zu seiner Freude bemerkte, sich so gut im Theater amüsierte und augenscheinlich heiterer als sonst war, so wiederholte er noch im Laufe derselben Woche das gelungene Experiment. Diesmal wurden zwei kleinere Lustspiele von Benedix, Moser und eine Bluette nach dem Französischen gegeben, welcher sie jedoch keinen besonderen Geschmack abzugewinnen vermochte. Das Spiel der Darsteller kam ihr heute unnatürlich und outriert vor und auch der Gehalt des Stückes mehr oder minder frivol und uninteressant. Sie langweilte sich und wollte deshalb nicht das Ende abwarten, ließ sich aber durch die Bitten ihres Gatten und aus Rücksicht auf ihre Mutter bewegen, auch das letzte Stück noch anzusehen.

Vollkommen teilnahmlos saß sie wieder in Gedanken versunken in ihrer Loge, ohne der Bühne einen Blick zu schenken und die ihr vollkommen gleichgültigen Schauspieler zu beachten, als plötzlich der Klang einer bekannten Stimme sie aus ihrem düstern Brüten weckte. Sie glaubte, sich getäuscht zu haben und verfiel von neuem in ihre alte Apathie. Bald aber wurde sie unruhig und richtete unwillkürlich ihre Augen auf den Darsteller, der die unbedeutende Rolle eines komischen Bedienten gab und in seinen linkischen Bewegungen und seiner unsicheren Sprache sogleich den jugendlichen Anfänger erkennen ließ.

Noch immer zweifelte Agnes, ob sie auch recht gesehen. Sie wollte nicht ihren eigenen Blicken, ihren Ohren trauen und doch glaubte sie trotz der Verkleidung und der Schminke in dem ungeschickten Schauspieler ihren früheren Geliebten zu erkennen. Diese Entdeckung versetzte sie in die höchste Aufregung und verursachte ihr eine namenlose Qual. Bei dem Anblick des Unglücklichen, der jetzt eine so traurige Rolle spielte, blutete ihr Herz, brachen all die alten, kaum vernarbten Wunden wieder auf. Seine ganze tragikomische Erscheinung auf der Bühne, die blonde, in die Stirne fallende Perücke, die gefärbten Augenbrauen, die hochrot gemalten, breiten Lippen, die krumme große Wachsnase, die abgetragene, ihm viel zu weite Livree, seine vergeblichen Bemühungen, die Heiterkeit der Zuschauer zu erregen, erfüllten sie mit einer unbeschreiblichen Trauer.

.

Jedes Wort, jede Miene, jeder triviale Scherz aus seinem Munde, das rohe ironische Gelächter des Publikums über seine schlechten Späße und sein ungeschicktes Spiel verletzten sie tief in ihrer Seele und erschienen ihr unerträglich. Sie mußte sich abwenden, um sich nicht zu verraten; sie wollte aufspringen und sich entfernen, aber sie hatte nicht den Mut dazu. Ihre Glieder versagten ihr den Dienst: sie war wie gelähmt. Bleich und stumm saß sie wie fest gebannt, keines Wortes, keiner Bewegung fähig, in ihrer Loge gleich einer Gefangenen.

Dazu kam noch die Furcht, daß auch ihre Mutter und Herr von Rabeneck den Baron erkennen und ihre Aufregung bemerken würden, was zum Glück nicht der Fall war, da der Unglückliche seinen Bart abgeschnitten und sich so verunstaltet hatte, daß er nicht so leicht hinter der traurigen Maske entdeckt werden konnte. Auch war er auf dem Theaterzettel unter einem fremden, angenommenen Namen angeführt.

Noch schien Brandenstein sie nicht gesehen zu haben, da er zu befangen war, um die Zuschauer anzublicken. Als er aber gegen den Schluß des Stückes in einer komischen Liebesscene mit dem schnippischen Kammermädchen sich zu dieser niederbeugte, um ihr einen Kuß zu geben und dafür zum Jubel des Publikums eine schallende Ohrfeige erhielt, wollte es der Zufall, daß er gerade in diesem Augenblicke seine Augen auf die Loge richtete, in welcher die arme Agnes an der Seite ihres Gatten saß.

Der unerwartete Anblick der noch immer geliebten Frau raubte ihm vollends die Besinnung: wie vom Blitz getroffen, starrte er nach dem blassen Gesicht, tief erschüttert, als ob ihm plötzlich ein Geist erschienen wäre. In seiner Verwirrung hörte er weder auf das Stichwort seiner verwunderten Mitspielerin, noch auf die laute Stimme des Souffleurs. Es trat eine bedenkliche Pause ein; die Zuschauer wurden unruhig und unter Zischen, Pfeifen und Pochen der Galerie und des Parterres fiel der Vorhang nieder und verhüllte den durchgefallenen Schauspieler mit seiner Schmach.

Als Brandenstein, dem Wahnsinn nahe, von der Bühne fortstürzte, empfingen ihn hinter der Coulisse die halb mitleidigen, halb schadenfrohen Blicke seiner Kollegen und die Vorwürfe des erzürnten Direktors, der gerade nicht in zarten Worten seinem Herzen Luft machte.

»Eine solche Blamage,« sagte der empörte Bühnenleiter, »ist noch nicht dagewesen. Junger Mann, Sie hat Gott in seinem Zorn zum Schauspieler geschaffen.«

»Verzeihen Sie, Herr Direktor!« entgegnete Brandenstein »Ein plötzlicher Schwindel –«

»Den Schwindel kennen wir. Sie haben wieder einmal Ihre Rolle nicht gelernt.«

»Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich auf der Probe jedes Wort ohne Anstoß hersagen konnte.«

»Das kümmert mich nicht. Sie werden wegen schlechtem Memorierens zwei Thaler Strafe zahlen und den Ersten meine Bühne verlassen. Ich kann Sie nicht brauchen und wenn Sie meinem Rate folgen, so werden Sie alles, nur nicht Schauspieler. Dazu fehlt Ihnen jedes Talent und Geschick, Phantasie und höherer Schwung.«

Mit diesem salomonischen Urteil wendete der pathetische Direktor dem Baron den Rücken, ihn seinem Schicksal überlassend. Auch seine Kollegen und Kolleginnen kümmerten sich nicht um den durchgefallenen Anfänger, der von ihnen wegen seiner aristokratischen Formen und seines zurückhaltenden Wesens verspottet und gewöhnlich nur »der verwunschene Prinz« oder » Don Ranudo di Colibradas« genannt wurde.

.

»Ich begreife nicht,« sagte der erste Liebhaber, ein ehemaliger Friseurgehilfe, »was sich dieser Mensch einbildet. Er thut gerade so, als ob er etwas ganz Besonderes wäre.«

»Wie mir die Frau Direktorin im Vertrauen mitteilte,« bemerkte der Intrigant, »soll er früher Offizier gewesen und wegen schlechter Streiche fortgejagt worden sein.«

»Das sieht ihm ähnlich,« versetzte die erste Liebhaberin, eine verblühte Schönheit, deren Ungnade sich Brandenstein durch Nichtbeachtung ihrer etwas welken Reize und ihres allzu freundlichen Entgegenkommens zugezogen hatte. »Er hat etwas Diabolisches in seinem Gesicht.«

»Ich finde ihn im Gegenteil höchst interessant,« meinte die Darstellerin des Kammermädchens. »Sie sind nur ärgerlich, weil er sich aus Ihnen nichts macht.«

»O! ich überlasse Ihnen den verwunschenen Prinzen mit dem größten Vergnügen.«

»Die Trauben sind sauer.«

»Gleich und gleich gesellt sich gern.«

»Sie sind eine ganz ordinäre Person.«

»Und Sie viel zu gemein, um mich mit Ihnen abzugeben.«

Nur die Intervention der anwesenden Herren verhinderte die beiden aufeinander eifersüchtigen Damen, von Worten zu Thaten zu schreiten. Der zärtliche Vater, welcher an einem perpetuierlichen Durst litt, machte unter allgemeinem Beifall den Vorschlag, ein Trauerseidel zu Ehren des durchgefallenen und entlassenen Kollegen zu trinken, womit die ganze Gesellschaft einverstanden war. Lachend und lärmend verließen die edlen Mimen den Tempel Thaliens und die tiefe Finsternis bedeckte Bretter, welche die Welt bedeuten oder vielmehr bedeuten sollen.

Während dieser gemütlichen Unterhaltung der Schauspieler hatte Brandenstein in der engen, dumpfigen Garderobe seinen Bedientenrock abgeworfen, die unschuldige Perücke sich vom Kopf gerissen und mit einem wilden Fluch die künstliche Wachsnase zerstört. Als er beim Abwischen der Schminke in den halbzerbrochenen, angelaufenen Spiegel blickte, der, von einem dünnen Talglicht beleuchtet, ihm sein entstelltes Gesicht zeigte, erfaßte ihn ein unaussprechlicher Ekel vor sich selbst.

Verfolgt von seinem mitleidslosen Gläubiger, von seinem Regiment entlassen, von seinem Onkel verraten und verstoßen, von seinen alten Freunden gemieden, ohne alles Vermögen und ohne jeden moralischen Halt, war er mit jener rapiden Schnelligkeit, welche das Bleigewicht des Unglücks noch dem Fallenden zu verleihen pflegt, von Stufe zu Stufe gesunken. Seine Bemühungen, in fremde Dienste zu treten, blieben fruchtlos, da ihm keine Empfehlungen zur Seite standen. Aus demselben Grunde scheiterten seine Versuche, eine einigermaßen seinen bescheidenen Wünschen entsprechende Stellung zu finden. Bald fehlten ihm dazu die nötigen Kenntnisse, bald hielt ihn sein Stolz zurück, eine nach seiner Ansicht ihn erniedrigende, eine sogar unehrenhafte Beschäftigung zu ergreifen. Verwöhnt, wie er war, fehlte ihm die Kraft und Ausdauer, vor allem aber die Achtung vor der ehrlichen Arbeit.

Unter diesen traurigen Verhältnissen sah sich der Baron gezwungen, die Residenz zu verlassen und, um sein Leben zu fristen, Schauspieler zu werden, indem er sich für diesen Beruf noch das meiste Talent zutraute und sich unter einem angenommenen Namen noch am leichtesten verbergen zu können glaubte. Da er trotz aller seiner Leiden und Entbehrungen noch immer ein stattliches Aeußere besaß, eine gewisse aristokratische Vornehmheit sich zu bewahren wußte und sich früher nicht ohne Beifall bei verschiedenen Vorstellungen auf dem Liebhabertheater versucht hatte, so fiel es ihm nicht allzu schwer, bei einer jener zahlreichen herumziehenden Gesellschaften ein allerdings kaum für seine dringendsten Bedürfnisse ausreichendes Engagement zu bekommen.

Anfänglich gefiel ihm sein neuer Beruf weit mehr und besser, als er erwartet hatte. Das freie, ungebundene Leben war nicht ohne Reiz für ihn und das poetische Vagabundentum bot ihm im Gegensatz zu der Langeweile des Gamaschendienstes manche angenehme Abwechselung und Zerstreuung. Der Direktor, dem er unter dem Siegel der Verschwiegenheit seine wahren Verhältnisse entdeckte, fühlte sich dadurch geschmeichelt und ließ es weder an Aufmunterungen, noch an Versprechungen, dagegen desto mehr an barem Gelde fehlen. Auch die Frau Direktorin, die eigentlich das Regiment führte und die Kasse in Verwahrung hielt, protegierte ihn in auffallender Weise und war nicht abgeneigt, ihn mit ihrer etwas antiken Liebe zu beglücken, welche sie stets dem jüngsten Mitglieds der Gesellschaft zuzuwenden pflegte. Die Mehrzahl seiner Kollegen und besonders die Damen kamen ihm mit wahrhaft brüderlicher und mehr als schwesterlicher Freundlichkeit entgegen, ja die erste Liebhaberin erbot sich sogar, ihm ein Zimmer von ihrer Wohnung abzutreten und mit ihm seine Antrittsrollen einzustudieren. Unter so günstigen Umständen debütierte Brandenstein auf dem Theater und fand Gnade vor den Augen eines höchst nachsichtigen Publikums, das den jugendlichen Anfänger durch seinen Beifall aufmunterte.

Nach und nach lernte aber der Baron auch die Schattenseiten seines neuen Standes kennen, die ganze Misere jener wandernden Truppen, welche mit Mißtrauen und Not nur zu oft kämpfen müssen. Der Herr Direktor machte schlechte Geschäfte und blieb nicht selten die Gagen schuldig. Die Frau Direktorin entzog dem Undankbaren ihre Gunst und bevorzugte den ersten Liebhaber, welcher dieselbe besser zu schätzen wußte. Die Folge war, daß ihm seine besten Rollen, durch die er den Beifall des Publikums gewonnen hatte, abgenommen und ihm nicht zusagende Partien übergeben wurden, in denen er mißfiel. Die verschmähte Primadonna intriguierte gegen ihn und hetzte die übrigen Kollegen auf, welche er durch sein verschlossenes, ungeselliges Wesen beleidigte und zurückstieß.

Er selbst fühlte, daß er kein Talent besaß und wurde dadurch nur noch unsicherer und ungeschickter. Wenige Wochen genügten, seine geringen poetischen Illusionen zu vernichten und ein Blick hinter die Coulissen zeigte ihm die Kehrseiten der Kunst in ihrer abschreckendsten Gestalt. Nur zu gern hätte er längst das Theater verlassen, wenn er eine andere Stellung gefunden hätte. Um ihn vollends unglücklich zu machen und ihm seinen Stand zu verleiden, mußte ihn noch das Mißgeschick des heutigen Abends in Gegenwart der einst von ihm geliebten Frau von Rabeneck treffen.

Jetzt irrte der arme Baron einsam und verlassen in der dunklen Nacht umher, von den traurigsten Gedanken und Erinnerungen verfolgt. Sein ganzes bisheriges Leben erschien ihm als eine fortlaufende Kette von unverzeihlichen Verirrungen, so jämmerlich, thöricht und frivol, daß er sich selbst verachten mußte. Wohin er blickte, sah er nur sein selbstverschuldetes Elend. Not und Schande, nirgends einen Ausweg aus dem Abgrunde, in den ihn sein unverzeihlicher Leichtsinn gestürzt hatte.

Mehr noch als dies alles schmerzte ihn seine letzte schimpfliche Niederlage in Gegenwart der Geliebten. Er wußte, daß sie ihn trotz seiner Verkleidung erkannt hatte. Ihr Gesicht, ihr Blick sagte es ihm nur zu deutlich. Wie sehr mußte sie ihn verachten! Er, der Baron von Brandenstein, der glänzende Kavalier, der liebenswürdige und gesuchte Gesellschafter der aristokratischen Kreise, stand jetzt vor ihr als ein durchgefallener, ausgepfiffener Schauspieler. Es war zum rasend werden!

Von neuem trat die Versuchung an ihn heran, seinem elenden Dasein ein Ende zu machen. Zu seinen Füßen rauschte der vom Regen angeschwollene Gebirgsbach, der den Badeort durchströmte. Ein Sprung von der Brücke in das brausende Wasser und alles war vorüber. Während er so in düsterer Verzweiflung auf die dunkle Flut niederstarrte, fühlte er plötzlich eine magere, dürre Hand auf seinen Schultern. Verlegen und erschrocken, als ob er bei einem Verbrechen überrascht worden wäre, wendete sich Brandenstein um. Trotz der Dunkelheit erkannte er das blasse, gutmütige Gesicht des kleinen, verwachsenen Souffleurs, der nach ihm das Theater verlassen hatte.

.

»Was thun Sie hier am Wasser?« sagte der Bucklige, ihn mit sich fortziehend. »Sie werden sich noch erkälten. Kommen Sie!«

»Wohin?« fragte der Unglückliche, bitter lachend.

»Nach Hause! Sie bedürfen der Ruhe. Ich werde Sie begleiten.«

»Ich danke Ihnen, aber ich kann meinen Weg allein finden.«

»Verzeihen Sie, Herr Brand, aber ich fürchte, daß Ihnen ein Unglück zustoßen könnte. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Wenn man so lange beim Theater ist wie ich, erlebt man wunderliche Dinge. Aber Sie dürfen sich die Geschichte nicht so zu Herzen nehmen, das ist schon anderen Leuten auch passiert. Selbst der große Ludwig Devrient ist bei seinem ersten Debüt durchgefallen und ausgepfiffen worden.«

»O! das ist es nicht. Sie können nicht ahnen, wie elend, wie unglücklich ich bin,« versetzte Brandenstein, von seinem Schmerze übermannt.

»Und deshalb wollen Sie sich das Leben nehmen!« erwiderte der kleine Souffleur. »Sie sollten sich schämen. Wenn es anginge, würde ich mich keinen Augenblick besinnen und mit Ihnen tauschen.«

»Mit mir!« rief der Baron.

»Ja, ja!« fuhr der bucklige Souffleur seufzend fort. »Ich beneide Sie. Wenn ich Ihre Figur, Ihren Brustkasten, solche Arme und Beine wie Sie hätte, würde ich der glücklichste Mensch von der Welt sein.«

»Was würden Sie anfangen?«

»Arbeiten, im Notfall Holz sägen, Steine klopfen und Straßen kehren. Alles, nur nicht beim Theater, bei dieser elenden Schmiere mich herumtreiben.«

»Aber wenn Sie keine Arbeit finden, wenn die Verhältnisse es Ihnen nicht gestatten –«

»Ich begreife. Wie man sagt, sollen Sie früher Offizier gewesen sein und einem Stande angehören, der die Arbeit oder vielmehr gewisse Beschäftigungen für eine Schande hält.«

»Allerdings! Ich gestehe, daß dies ein Vorurteil sein mag, aber Sie werden wohl einsehen –«

»So gehen Sie nach Amerika,« erwiderte der Souffleur, »wo Sie niemand kennt, wo sich kein Mensch darum kümmert, was Sie treiben und wovon Sie leben. Dort können Sie, von keinem Vorurteil gehindert, durch ihre Arbeit sich einen ehrenvollen Unterhalt erwerben.«

In diesem Augenblick erschien dem Baron der Rat des kleinen Mannes wie ein Wink des Schicksals. Jenseits des Oceans, wo er gänzlich fremd war, konnte er ein neues Leben beginnen und wie schon mancher vor ihm, wenn auch nicht sein Glück, doch wenigstens Vergessenheit und Ruhe finden. Hier hielt ihn nichts zurück, kein Verwandter, kein Freund, keine menschliche Seele. Die einzige, welche er geliebt hatte und noch immer liebte, war die Frau eines anderen Mannes und hatte ihn verlassen. Er wagte nicht, sie anzuklagen, aber er wollte und durfte sie nicht wiedersehen.

»Sie haben recht,« sagte er nach einer Pause zu seinem Begleiter mit fieberhafter Hast. »Es ist das beste, was ich thun kann. Ich muß fort, übers Meer, nach Amerika. Ich habe schon zu lange gezögert. Wenn es mir gut geht, sollen Sie von mir hören!«

»Der Glückliche!« seufzte der bucklige Souffleur, dem davonstürzenden Baron nachblickend, während er traurig in seine ärmliche Wohnung zurückkehrte, wo seine Frau und die Kinder mit dem bescheidenen Abendbrot auf ihn warteten.


 << zurück weiter >>