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Am nächsten Morgen verließ Brandenstein nach einer schlaflos zugebrachten Nacht den kleinen Badeort, fest entschlossen, seinen Vorsatz auszuführen, obgleich er nach Bezahlung seiner Wirtsrechnung nur wenige Thaler übrig behielt. Um keinem Menschen zu begegnen, war er früh aufgebrochen und mit Vermeidung der öffentlichen Brunnenpromenade auf einem wenig besuchten Seitenweg zu dem höher gelegenen Wald emporgestiegen, in dessen kühlem Schatten er bis zum nächsten Dorf zu wandern gedachte, da er sich seines ärmlichen Aufzugs schämte.
Die tiefe Ruhe und der stille Frieden der Natur that ihm wohl und erfrischte ihn. Ueber ihm lachte der blaue klare Himmel, an dem die Morgensonne hell und golden leuchtete. Zu seinen Füßen lag das schöne Thal mit den zierlichen Häuschen und eleganten Villen für die Badegäste. Die Berge dampften, die Wiesen und grünen Matten dufteten, der Wald hauchte einen kräftigen Harzgeruch aus. In den Bäumen zwitscherten und sangen die Vögel ihre Lieder und aus der Ferne klang ein frommer Choral, den die Bademusik jeden Morgen anstimmte. Der Anblick der herrlichen Gegend, die heiligen Klänge, der hohe Wald, der sich wie ein grüner Dom über dem Unglücklichen wölbte, die Einsamkeit und Abgeschiedenheit, welche ihn hier umgab, erfüllte ihn mit einem nie zuvor gekannten Gefühl. Der wilde Schmerz löste sich in sanfte Wehmut auf, die düstere Verzweiflung verwandelte sich in männliche Resignation und sein besseres Selbst, seine edlere Natur erwachte aus ihrem bisherigen Schlummer.
Gestärkt und beruhigt erhob sich Brandenstein von dem betauten Rasen und griff mit frischem Mut nach der leichten Reisetasche, welche seine geringen Habseligkeiten enthielt. Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte er erst, daß er nicht mehr allein war. Wenige Schritte von ihm entfernt saß auf einer Holzbank unter den Bäumen eine junge Frau, deren Gesicht er nicht sogleich erkennen konnte, da sie vor ihren Augen ein weißes Taschentuch hielt. Bei dem Geräusch seiner Tritte wendete sie sich erschrocken nach ihm um; ein leiser Schrei entschlüpfte ihren Lippen und das feuchte Tuch entfiel ihren zitternden Händen. Indem er sich danach bückte und es ihr überreichte, begegneten sich ihre Blicke.
Es folgte eine bange, minutenlange Pause. Keines wagte zu sprechen; ihre Herzen pochten so laut, als ob die Brust ihnen zerspringen sollte. Ringsumher herrschte eine drückende Stille; nur ein lustiger Fink sang, unbekümmert um ihr Leid, sein fröhliches Lied.
Beide standen eine Zeitlang sprachlos einander gegenüber, die schöne bleiche Dame in ihrer eleganten Morgentoilette und der arme, heruntergekommene Schauspieler mit den eingefallenen Wangen, den fieberhaft glänzenden Augen, den verstörten Zügen, das wirre, flatternde Haar mit einem abgeschabten Filz bedeckt, die gebeugte Gestalt mit einem verschossenen Sommerpaletot bekleidet; ein Bild des selbst verschuldeten Elends, aber noch immer interessant und eine gewisse aristokratische Vornehmheit nicht ganz verleugnend.
Nachdem sich Agnes von ihrer natürlichen Ueberraschung erholt hatte, machte sie unwillkürlich eine Bewegung, wie wenn sie fliehen wollte, aber sie fühlte sich zu schwach. Wie von einem unwiderstehlichen Zauber zurückgehalten und festgebannt starrte sie den Baron mit halb ängstlichen, halb mitleidigen Blicken an, ohne seinen Gruß zu erwidern.
»Fürchten Sie sich nicht, gnädige Frau!« sagte er, bitter lächelnd. »Nur der Zufall führt mich noch einmal in Ihre Nähe, wir werden uns schwerlich in diesem Leben wiedersehen.«
»Um des Himmels willen!« rief sie, plötzlich aus ihrer Erstarrung erwachend.
»Beruhigen Sie sich! Ich gehe nach Amerika, wo Sie sicher sind, mir nicht mehr zu begegnen.«
»Nach Amerika!« wiederholte sie bestürzt. »Was zwingt Sie dazu?«
»Und das können Sie noch fragen!« versetzte er finster. »Bleibt mir denn noch eine Wahl nach dem, was vorgefallen ist, nachdem ich alles verloren habe, meine Ehre, mein Glück, die Achtung der Welt und Ihre –«
»Halten Sie ein! Sie thun mir unrecht –«
»O! Ich will Sie nicht anklagen. Sie haben recht gethan, mich zu verlassen. Ich war ein Thor, ein leichtsinniger Thor, der sein Schicksal reichlich verdient hat. Sie wissen nicht –«
»Ich weiß, daß Sie schwer gefehlt, aber noch schwerer gebüßt haben.«
»Und Sie verdammen mich nicht, Sie wenden mir nicht den Rücken –«
»Das Unglück macht Sie ungerecht. Sie haben noch Freunde –«
»Freunde! Der Arme hat keine Freunde.«
»Sagen Sie das nicht. Ich selbst –«
»Sie!« entgegnete er in vorwurfsvollem Ton. »Muß ich Sie daran erinnern, daß Sie jetzt Frau von Rabeneck sind und ich ein durchgefallener Komödiant?«
»Und kann Sie nichts zurückhalten? Sollte es nicht möglich sein, Ihnen zu helfen?«
»Nein, nein,« unterbrach er sie mit Heftigkeit. »Schenken Sie Ihre Großmut einem Würdigeren als ich. Ich habe schon zu lange gesäumt und will Sie nicht noch länger der Gefahr aussetzen, mit einem ehrlosen Vagabunden an diesem Ort gesehen zu werden. Ihr Ruf könnte leiden, wenn man erfährt, daß Sie mit mir hier gesprochen haben. Was würden Herr von Rabeneck und Ihre Mutter von Ihnen denken? Leben Sie wohl für immer, auf ewig! Leben Sie wohl!«
Von Schmerz und Liebe überwältigt, vermochte Agnes nicht mehr ihre Thränen zurückzuhalten. Leichenblässe überzog das feine Gesicht; ihr Busen hob und senkte sich in namenloser Qual und mit halb geschlossenen Augen sank sie fast ohnmächtig auf die Bank zurück. Im nächsten Augenblick kniete Brandenstein, der an ihrer Liebe nicht zweifeln konnte, zu ihren Füßen und bedeckte ihre kalte, herabhängende Hand mit seinen heißen Küssen.
»Agnes!« rief er, sich zu ihr niederbeugend.
Sie antwortete nicht, nur ihre traurig zärtlichen Blicke sagten ihm, daß sie ihn noch immer liebte. In trunkener Selbstvergessenheit, unbekümmert um Zeit und Raum, saßen sie im Schatten der alten Eiche gleich zwei abgeschiedenen Geistern, die sich, der Erde entrückt, in einer schöneren, besseren Welt nach langer Trennung wiedergefunden.
Kein unreiner Gedanke, kein irdischer Wunsch, kein unlauteres Wort trübte ihr seliges Wiedersehen. Das Leid hatte Agnes verklärt, das Unglück ihn geläutert. Mit aufrichtiger Reue blickte jetzt Brandenstein auf seine früheren Verirrungen, sein ganzes bisheriges Treiben zurück, das Herz voll männlicher Entschlüsse und würdiger Vorsätze. Wie zu einer Heiligen sah er zu ihr empor, während sie mit gefalteten Händen im stillen für sein Glück, für sein Wohl betete und den Schutz des Himmels für ihn erflehte. Zugleich empfanden beide jene wunderbar erlösende und befreiende Kraft, welche nur die wahre Liebe besitzt.
»Weine nicht,« sagte er, sie fest umschlingend. »Wo ich auch weile, wirst du mich begleiten und wo du bist, wird mein Herz bei dir sein.«
»O!« klagte sie. »Warum mußten wir uns finden, um uns wieder zu verlieren? Warum willst du mich verlassen?«
»Weil ich deiner Liebe nicht würdig bin, weil ich mein Glück nicht verdiene. Aber ich schwöre dir, daß ich fortan danach streben will, deiner wert zu werden, du sollst dich meiner nicht mehr schämen, wenn wir uns einst wiedersehen.«
»Und wenn du stirbst, wenn du untergehst?«
»So weiß ich, daß du mich nicht vergessen wirst.«
»Weshalb darf ich nicht dir folgen, deine Gefahren, deine Leiden teilen?«
»Ich wäre ein Elender, wenn ich ein solches Opfer von dir fordern, dich der Not, dem Spott der Welt aussetzen wollte. Ich selbst kann jeden Schmerz, die bitterste Armut tragen, aber der Gedanke, dich unglücklich gemacht zu haben, würde mich töten.«
»Wir müssen scheiden!«
Noch einmal umschlang er die geliebte Frau, welche gleich einer Sterbenden an seinem Herzen lag. Unwillkürlich verschmolzen ihre Lippen zu einem innig heißen Kuß. Errötend wand sich Agnes aus seinen Armen.
»Geh',« sagte sie. »Du darfst nicht länger weilen, der Himmel beschütze dich!«
»Gott segne dich, mein Engel, meine Liebe, mein Alles!«
Mit ihren feuchten Blicken verfolgte sie ihn, bis er zwischen den Bäumen des Waldes verschwand, begleitet von ihren Thränen, Wünschen und Gebeten. Am Ausgang des Waldes erwartete sie von Rabeneck, welcher, besorgt wegen ihres langen Ausbleibens, sie suchte und ihr wegen ihrer Unvorsichtigkeit sanfte Vorwürfe machte.
»Wie kann man nur so leichtsinnig sein,« sagte er ernst, »und so früh schon in den Wald gehen. Du wirst dich noch erkälten und dich kränker machen als du bist.«
»Der Morgen war so schön, die Luft so erquickend,« versetzte sie mit niedergeschlagenen Augen.
»Aber die Temperatur ist zu kühl für dich. Auch soll der Wald nicht sicher sein. Es treibt sich allerlei Gesindel hier herum.«
»Ich habe nichts bemerkt –«
»Es schien mir doch, als ob dich ein verdächtiger Mensch angesprochen hätte, ein reisender Handwerksgeselle oder sonst ein Vagabund in einem hellen Sommerpaletot.«
»Du wirst dich wohl geirrt haben,« stammelte sie, über ihre erste Lüge errötend. »Mir ist niemand begegnet.«
»Das ist doch merkwürdig. Sollten mich meine Augen so getäuscht haben. Jedenfalls wird es besser sein, wenn ich dich künftig auf deinen Spaziergängen begleite. Es ist immer gefährlich, wenn eine Dame allein und ohne Schutz in den Wald geht.«
Obgleich Herr von Rabeneck diese Worte in seinem gewohnten freundlichen Ton sprach, so empfand Agnes eine schmerzliche Unruhe, welche sie kaum zu verbergen vermochte. Das Bewußtsein ihrer Schuld drückte sie zu Boden und die Furcht vor der Entdeckung ihrer heimlichen Liebe peinigte sie. Aber noch mehr schmerzte sie der Gedanke, den redlichen Mann, der sie anbetete, täuschen zu müssen. Während sie jetzt stumm an seiner Seite über die belebte Promenade nach ihrer Wohnung ging, kämpfte sie den schweren Kampf der Liebe und der Pflicht, der Lüge und Wahrheit, rangen in ihrem Herzen die bösen und guten Geister.
Dabei mußte sie noch ein freundliches Gesicht machen, um sich nicht zu verraten, und lächeln, obgleich das Herz ihr brechen wollte, bald eine bekannte Dame begrüßen, welche sich angelegentlich nach ihrer Gesundheit erkundigte, bald einem Herrn danken, der ihr einige Schmeicheleien über ihr gutes Aussehen machte, dem Badearzt antworten, der sie nach der Wirkung der ihr verordneten Mittel fragte, und, was ihr das Peinlichste war, eine Kritik über die gestrige Theatervorstellung mit anhören.
»Fanden Sie nicht auch,« fragte eine geschwätzige Geheimrätin, »die Aufführung schauderhaft?«
»Ein wahrer Skandal,« bekräftigte ein dicker Gutsbesitzer. »Eine so elende Komödie habe ich noch nie gesehen.«
»Besonders der junge Anfänger, der den Bedienten gab, war entsetzlich widerwärtig.«
»Ich höre, daß er durchgebrannt sein soll und verfolgt wird.«
»Ein ganz verkommenes Individuum,« schnarrte der allwissende Badekommissar. »Soeben ist der Theaterdirektor Hämmlein bei mir gewesen und hat mir ganz wunderbare Mitteilungen über diesen Menschen gemacht.«
»Bitte, bitte! Erzählen Sie!« tönte es von allen Seiten.
»Der durchgegangene Brand soll, wie mir Herr Hämmlein versichert, von altem hohen Adel und früherer Dragoneroffizier sein.«
»Ah! Das ist höchst interessant. Aber wie kommt es, daß er Schauspieler geworden ist?«
»Man hat ihn wegen liederlichen Streichen vom Regiment fortgejagt. Selbst seine nächsten Verwandten, welche die höchsten Staatsämter bekleiden, wollen von ihm nichts wissen.«
»Wenn er nur nicht hier ein Unheil anrichtet,« bemerkte die Geheimrätin.
»Dafür lassen Sie mich sorgen,« erwiderte der Badekommissar. »Die Polizei wird ein wachsames Auge auf ihn haben.«
Keiner dieser Herren und Damen, welche so lieblos über den Unglücklichen urteilten, ahnte auch nur, wie tief Agnes von diesem Geschwätz verletzt wurde. Sie durfte kein Wort zu seinen Gunsten sprechen, durch keinen Blick, durch keine Miene ihre Teilnahme verraten. Sie hätte laut aufschreien, die Verleumder Lügen strafen mögen, aber die Nähe ihres Gatten, die Rücksicht auf ihre Umgebung legte ihr ein unerträgliches Schweigen auf. Sie zürnte mit sich selbst wegen ihrer Feigheit und machte sich im stillen die bittersten Vorwürfe wegen ihres unverzeihlichen Benehmens. Deshalb wollte sie ihrem Manne alles gestehen, ihm offen sagen, daß sie Brandenstein heimlich gesprochen, daß sie ihn noch immer liebe und ihn nicht vergessen könne. Lieber wollte sie das Aeußerste dulden, auf ihren bisherigen Wohlstand, auf alle Vorteile des Reichtums verzichten, selbst das Urteil der Welt nicht scheuen, als in diesem Zwiespalt noch länger leben, durch eine Lüge sich selbst beflecken und ihren Mann betrügen. Nur der Gedanke an ihre Mutter, welche seit einiger Zeit leidend war, hielt sie zurück. Wider Erwarten verzögerte sich die Genesung der Patientin, welche sich bei einer Vergnügungspartie durch eine starke Erkältung ein rheumatisches Fieber zugezogen hatte. Trotz der sorgfältigsten Pflege und der umsichtigsten Behandlung von selten des Arztes entwickelte sich, nachdem die ursprüngliche Krankheit gehoben war, ein in solchen Fällen nicht seltenes, chronisches Herzleiden, welches die größte Schonung und vor allem die Vermeidung jeder Aufregung zur Pflicht machte. Da Agnes ihre Mutter zärtlich liebte, blieb ihr keine andere Wahl, als vorläufig ihr Geheimnis zu bewahren, und so schwer es ihr auch fiel, ihren Gatten zu täuschen.
Obgleich Herr von Rabeneck gegen seine Frau und ganz besonders gegen die Kranke eine wirklich bewunderungswürdige Güte zeigte, so glaubte doch Agnes auch an ihm eine auffallende Veränderung in der letzten Zeit zu bemerken. Er kam ihr noch ernster und stiller vor als sonst; sein Benehmen und seine Sprache hatten etwas Gezwungenes und Abgemessenes. Zuweilen schien es ihr, als ob er sie mit mißtrauisch forschenden Blicken verfolge, als ob er sie belauschte und Verdacht schöpfte.
In der That litt Herr von Rabeneck im geheimen unter den Qualen einer plötzlich erwachten Eifersucht, gegen die er vergebens ankämpfte. Als er die schöne, aber arme Agnes von Lingen heiratete, hoffte er trotz seiner äußeren Mängel, mit der Zeit ihre Neigung zu gewinnen, indem er sie mit den zartesten Aufmerksamkeiten überhäufte und ihr alle Genüsse und Annehmlichkeiten eines großen Reichtums bot. Geblendet von den glänzenden Verhältnissen, verführt von der Neuheit ihrer Lage, gerührt von seiner Großmut und von Liebe für ihre Mutter erfüllt, welche durch diese Partie so glücklich schien, suchte Agnes anfänglich durch zärtliche Dankbarkeit und herzliche Achtung seine Liebe zu vergelten.
Da aber Herr von Rabeneck kein gewöhnlicher, alter Geck war und eine scharfe, fast an Mißtrauen grenzende Beobachtungsgabe besaß, so konnte er sich nicht verhehlen, daß seine junge Frau seit einigen Wochen ihm nicht mehr mit derselben kindlichen Offenheit und liebenswürdigen Freundlichkeit entgegen kam, daß sie vor ihm ein Geheimnis hatte und ihn zu meiden schien. Ihre heimlichen Spaziergänge in den Wald, ihre Absonderung von der übrigen Badegesellschaft, ihre tiefe Melancholie, die Thränen, welche sie vor ihm zu verbergen suchte, beunruhigten ihn, indem sie ihm verrieten, daß sie sich nicht glücklich fühle. Mehr als dies alles aber befremdete ihn die Hartnäckigkeit, womit sie ihre Begegnung mit jenem ihm unbekannten Mann in Abrede stellte, welchen er doch deutlich an ihrer Seite gesehen hatte.
Dieser Gedanke verfolgte den Baron jetzt bei Tag und Nacht und ließ ihn keine Ruhe finden. Mit Recht glaubte er, daß Agnes zu jenem Mann in irgend einer ihm geheimen Beziehung stände, obgleich ihm die ärmliche Kleidung und das verkommene Aussehen desselben keineswegs entgangen war. Aus diesem Grunde überließ er sich den seltsamsten Vermutungen, indem er den Fremden bald für einen verkleideten Liebhaber, bald für einen Abgesandten hielt, der ihr eine heimliche Bestellung zu machen hatte. Auch an den durchgegangenen Schauspieler dachte Herr von Rabeneck, und der Umstand, daß derselbe früher Offizier gewesen, erinnerte ihn unwillkürlich an jenen Ballabend, wo er den Baron in Gesellschaft der verführerischen Schauspielerin gesehen. Es fiel ihm ein, daß Agnes Brandenstein kannte, daß sie mit ihrer Mutter von ihm gesprochen und dabei eine nicht gewöhnliche Teilnahme gezeigt hatte. Wie ein Blitz durchzuckte die traurige Ahnung den eifersüchtigen Gatten; sie liebte den fortgejagten Offizier, den durchgefallenen Schauspieler.
Diese unerwartete Entdeckung versetzte Herrn von Rabeneck in die schmerzlichste Aufregung und gab zugleich seiner Eifersucht einen bestimmten Anhalt. Wenn Agnes still an seiner Seite saß, so dachte sie, wie er glaubte, an den Geliebten, wenn sie auf einen Augenblick das Zimmer verließ, so hatte sie irgendwo mit ihm eine heimliche Zusammenkunft, wenn sie einen Brief empfing, so kam derselbe von Brandenstein. Jedes Wort, jeder Blick, jede Miene, jede ihrer Bewegungen erschien ihr verdächtig. War sie traurig, so sehnte sie sich nach ihm, war sie heiter, so erwartete sie ihn.
Der sonst so gutmütige und verständige Mann wurde durch seine Leidenschaft gänzlich umgewandelt, unliebenswürdig, reizbar, launenhaft, verstimmt, mit einem Worte unberechenbar. Bald überraschte er sie durch einen ungewohnten Ausbruch einer nie zuvor an ihm bemerkbaren Heftigkeit. Bald durch seine übertriebene Zärtlichkeit, durch die er sie wieder zu versöhnen suchte; bald hoffte er durch verdoppelte Aufmerksamkeiten, durch die kostbarsten Geschenke seinen armen Nebenbuhler zu verdrängen; bald überließ er sich einer verzweifelten Mutlosigkeit, von der Erfolglosigkeit aller seiner Bemühungen überzeugt.
Seine Eifersucht ließ ihn selbst Handlungen begehen, welche er sonst verabscheute und die seiner ganzen Natur und seinem Charakter widerstanden. Heimlich schlich er seiner Frau nach, wenn dieselbe ausging, indem er ihr in einiger Entfernung ungesehen nachfolgte, um sie zu bewachen. Zuweilen richtete er an die Dienstboten verfängliche Fragen, um sie auszuforschen; auch studierte er die verschiedenen Handschriften der ankommenden Briefe und nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, dieselben zu öffnen. Dabei hatte er das volle Bewußtsein der Unwürdigkeit eines solchen Betragens und schämte sich seiner Thorheit.
Mit jedem Tage wuchs so die Kluft zwischen diesen ursprünglich edlen Menschen, so daß es nur eines unbedeutenden Zufalls, eines geringfügigen Ereignisses bedurfte, um einen unvermeidlichen Bruch herbeizuführen. Nur die Furcht vor einem öffentlichen Skandal hielt Herrn von Rabeneck, nur die Rücksicht auf ihre kranke Mutter die unglückliche Agnes zurück, das letzte entscheidende Wort zu sprechen.
Glücklicherweise hatte die leidende Matrone keine Ahnung von diesen zerrütteten Verhältnissen, da sie wie die meisten Patienten zu sehr mit ihrer Krankheit beschäftigt war, um auf ihre Umgebung zu achten. Auch vermied sowohl Herr von Rabeneck wie ihre Tochter alles, was die Mutter beunruhigen oder aufregen konnte. In ihrer Gegenwart bemühten sich beide, eine Zufriedenheit und ein Glück zu heucheln, wodurch sich die Kranke vollkommen täuschen ließ.
Leider verschlimmerte sich trotz aller Schonung und Pflege ihr Zustand so sehr, daß Frau von Lingen einige Wochen nach ihrer Rückkehr aus dem Bade in den Armen ihrer Tochter starb, vollkommen ruhig, da sie von dem Glücke ihres geliebten Kindes überzeugt war. So sehr auch Agnes den Verlust ihrer zärtlich geliebten Mutter betrauerte, so tröstete sie doch der Gedanke, daß der Verstorbenen ein schweres Leid erspart worden sei. Zugleich löste der Tod das letzte Band, welches sie noch an ihren Gatten fesselte.
Fester als je stand bei ihr der Entschluß, sich von Herrn von Rabeneck zu trennen; weder der Reichtum noch die ihr gebotenen Genüsse konnten sie länger zurückhalten. Wenn sie auch ihrer Liebe entsagt und auf jede Verbindung mit dem unglücklichen Brandenstein verzichtet hatte, so glaubte sie doch dieses Opfer bringen zu müssen, wenn sie sich nicht verachten sollte. Dennoch kostete es sie einen schweren Kampf und heiße Thränen, ihren Vorsatz auszuführen, da sie sich scheute, Herrn von Rabeneck wehe zu thun, und die ungewisse Zukunft sie erschreckte.
Von solchen traurigen Gedanken erfüllt, saß Agnes an einem düsteren unfreundlichen Herbstabend vor dem lodernden Kamin und starrte stumm in die zuckenden Flammen, welche ihr bleiches Gesicht mit einem rötlichen Schein beleuchteten. In ihrer Nähe stand Herr von Rabeneck, anscheinend mit dem Lesen einer Zeitung beschäftigt, während er von Zeit zu Zeit über das Blatt hinweg einen bekümmerten Blick auf die unglückliche Frau an seiner Seite warf. In dem hohen dunklen Zimmer herrschte jene drückende Schwüle, welche einer drohenden Katastrophe vorauszugehen pflegt. Beide schwiegen, als fürchteten sie sich, durch ein lautes Wort die Gefahr heraufzubeschwören. Trotz aller Selbstbeherrschung vermochte aber Agnes nicht, einen leisen Seufzer zu unterdrücken, der Herrn von Rabeneck aus seinem trüben Nachdenken riß.
»Du thust unrecht,« sagte er ernst, »dich so ganz deinem Schmerz zu überlassen. Die Klagen wecken deine Mutter nicht auf.«
»Ich trauere nicht um die Toten,« erwiderte sie schmerzlich lächelnd, »sondern –«
»Um einen, der da lebt,« rief Herr von Rabeneck, von seiner Eifersucht überwältigt. »Du liebst den Baron von Brandenstein.«
Wie nach einem Blitz, der gezündet, folgte eine neue, minutenlange Pause. Das verhängnisvolle Wort war gesprochen und konnte nicht mehr zurückgenommen werden, so sehr er auch seine Unvorsichtigkeit bereute. Agnes barg ihr Gesicht in ihre Hände und weinte still, während Herr von Rabeneck das unschuldige Zeitungsblatt zusammenballte und in das Kaminfeuer warf.
»Willst du mich ruhig anhören?« sagte sie, nachdem sie sich gefaßt hatte. »Nur die Krankheit meiner Mutter hinderte mich, dir früher die Wahrheit zu sagen.«
»Sprich!« entgegnete er finster.
»Ich habe keinen Grund, vor dir zu erröten. Bei dem Andenken meiner Mutter schwöre ich dir, daß ich mir keinen andern Vorwurf zu machen habe, als mein allzulanges Schweigen.«
»Kommen wir zur Sache! Ich will wissen, ob du wirklich diesen Baron von Brandenstein, diesen –«
»Kein Wort über ihn!« versetzte sie, sich würdevoll erhebend, »Sie haben kein Recht, einen Unglücklichen zu beleidigen, der sich nicht verteidigen kann.«
»Haben Sie nicht im Walde ein Rendezvous mit dem Baron gehabt?«
»Ein Zufall führte uns zusammen. Vorher hatten wir uns weder gesehen, noch gesprochen, obgleich ich Herrn von Brandenstein seit Jahren kannte.«
»Aber bei dieser Zusammenkunft –«
»Erklärte mir Herr von Brandenstein, daß er Europa verlassen und nach Amerika gehen wolle.«
»Und Sie haben keine Briefe, keine Nachricht von ihm empfangen?«
»Nicht eine Zeile.«
»Sie stehen in keiner Verbindung mit ihm?«
»Ich weiß nicht, wo der Unglückliche weilt, ob er überhaupt noch lebt.«
Herr von Rabeneck atmete erleichtert auf. Trotz seines Mißtrauens erkannte er, daß Agnes die Wahrheit sprach, daß sie in diesem Augenblick ihn nicht täuschte. Dieses edle Gesicht, diese unschuldigen Augen, dieser zuverlässige Mund konnte nicht lügen. Er fühlte, daß er ihr unrecht gethan und zugleich schöpfte er von neuem die Hoffnung auf eine friedliche Lösung der drohenden Verwirrung.
»Und ist das alles,« fragte er freundlicher, »was du mir zu gestehen hast?«
»Ich werde dir nichts verschweigen, da ich es für meine Pflicht halte, dich über mein Verhältnis zu Herrn von Brandenstein aufzuklären.«
»Wozu?« erwiderte er, ohne ihre Absicht zu ahnen. »Ich glaube dir und zweifle keinen Augenblick an deiner Treue.«
»Und doch darf ich mir und dir dieses Geständnis nicht ersparen,« versetzte sie traurig, »das fordert meine Ehre und die Achtung, welche ich dir schulde.«
Mit äußerlicher Ruhe, aber innerlich desto tiefer bewegt, erzählte jetzt Agnes von ihrer Bekanntschaft mit Brandenstein, von ihrer Verlobung, von seinen Verirrungen, welche sie zu entschuldigen suchte, von den Leiden, die er ihr durch seine vermeintliche Untreue bereitet hatte, und von ihrem endlichen Entschlusse, sich deshalb von ihm loszusagen. Offen gestand sie ihrem Gatten die Gründe, welche sie bewogen, ihm ihre Hand zu reichen, indem sie seiner Herzensgüte, seinem Charakter vollkommene Gerechtigkeit widerfahren ließ. Sie verschwieg ihm nicht, daß hauptsächlich die Liebe zu ihrer Mutter sie dabei geleitet, daß sie weniger aus Neigung als aus Achtung für ihn sich entschlossen habe, seine Frau zu werden.
Nach einer kurzen Pause, welche Herr von Rabeneck nicht durch ein Wort zu unterbrechen wagte, fuhr Agnes fort, sie schilderte ihre Gefühle, als sie in Interlaken die Nachricht von Brandensteins Entlassung erhielt. Sie verhehlte ihm nicht ihre schmerzliche Ueberraschung im Theater, ebensowenig ihre Begegnung mit Brandenstein, deren Einzelheiten sie ihm, soweit dies ihr Zartgefühl gestattete, mitteilte, ohne ihr Verhalten zu beschönigen oder zu entschuldigen.
»Gott ist mein Zeuge,« fügte sie hinzu, »wie ich gekämpft und gerungen, was ich gelitten und geduldet habe, wie sehr es mich schmerzte, Sie zu täuschen. Nur aus Schonung für meine kranke Mutter habe ich so lange gezögert, Ihnen die Wahrheit zu gestehen. Können Sie mir vergeben?«
Obgleich Herr von Rabeneck durch die Geständnisse seiner Gattin auf das schmerzlichste berührt wurde, so konnte er doch nicht ihrer Aufrichtigkeit seine Anerkennung versagen. Jedes ihrer Worte überzeugte ihn von ihrer Unschuld, von der Ehrenhaftigkeit ihrer Gesinnung. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen und durfte nur den Zufall anklagen, der sie mit dem Baron im Bade wieder zusammengeführt hatte. Weit entfernt, ihr zu zürnen, hatte er nur den einen Wunsch, sie durch diesen einen Beweis seiner Liebe zu versöhnen und sie nur fester an sich zu fesseln.
»Ich verzeihe dir von ganzem Herzen,« erwiderte er mild, ihre widerstrebende Hand ergreifend, »du wirst Herrn von Brandenstein vergessen, und ich will alles thun, um dich glücklich zu machen und dir den Verlust deiner Mutter zu ersetzen.«
»Nein, nein!« sagte Agnes, ihn traurig anblickend. »Sie täuschen sich. Ich darf nicht länger hier weilen. Ich muß Sie für immer verlassen.«
Wie von einem unerwarteten Schlag getroffen, starrte er seine Frau sprachlos an.
»Unmöglich!« rief er, nachdem er sich wieder gefaßt hatte.
»Wollen Sie mich mit Gewalt zurückhalten und mich zwingen, Sie heimlich zu verlassen, oder einen öffentlichen Skandal herbeiführen? Das wäre weder meiner noch Ihrer würdig. Nachdem ich Ihnen gestanden habe, daß ich Herrn von Brandenstein noch immer liebe, müßten Sie mich verachten, wenn ich noch einen Augenblick bleiben würde. Wir müssen uns trennen.«
»Und wenn ich meine Einwilligung zur Scheidung Ihnen versage –«
»So bleibt mir nichts übrig, als zu sterben.«
Einen Augenblick schwankte Herr von Rabeneck; von neuem regte sich seine Eifersucht und sein Mißtrauen, indem er das Ganze nur für eine gewöhnliche Intrigue, für eine verabredete Komödie hielt, um ihn einzuschüchtern und ihm seine Zustimmung zu der beabsichtigten Trennung abzulocken. Zugleich erfüllte ihn der Gedanke, daß Agnes im Einverständniß mit dem Baron diesem nach Amerika folgen wollte, mit unaussprechlichem Zorn. Aber der energische Ausdruck ihres bleichen Gesichtes, die düstere Glut ihrer mit Thränen gefüllten Augen, vor allem aber die genaue Kenntnis ihres Charakters und ihrer ihm bekannten Wahrheitsliebe, erschreckten und ließen ihn kaum noch an der Ausführung ihrer Drohung zweifeln. Bald auch siegte sein angeborener Edelmut über diesen verzeihlichen Rückfall seines Verdachtes, über den natürlichen Ausbruch seiner Leidenschaft.
»Haben Sie auch die Folgen einer solchen Trennung bedacht?« sagte er nach einer Pause in milderem Ton. »Sie besitzen keine Angehörigen und stehen allein auf der Welt. Sie sind verwöhnt und Ihr Vermögen, das Sie von Ihrer Mutter ererbt haben, dürfte selbst für die bescheidensten Ansprüche nicht hinreichen.«
»Ich besitze, wie Sie wissen, einige Kenntnisse und habe mir eine genügende musikalische Bildung erworben, um im Notfall mich dadurch zu ernähren.«
»Ich werde dafür sorgen, daß Sie dessen nicht bedürfen, da Sie, auch wenn wir geschieden werden sollten, meinen Namen beibehalten.«
»Es thut mir leid, Ihre Güte nicht annehmen zu können. Auch dürfen Sie nicht fürchten, daß Ihr Name oder Ihre Ehre leiden könnte. Ich werde mich wie früher Agnes von Lingen nennen, um Ihnen jede peinliche Erinnerung zu ersparen.«
»Und haben Sie sonst keinen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann?« fragte Herr von Rabeneck mit zitternder Stimme.
»Nur noch die einzige Bitte,« entgegnete sie, leise schluchzend, »daß Sie mir das Leid verzeihen, welches ich wider Willen Ihnen bereitet habe.«
Thränen erstickten ihre Sprache; auch er wandte sich ab, um seine Erschütterung zu verbergen. – Es war so still in dem Zimmer, als ob ein Sterbender darin vom Leben Abschied nehmen wollte. Beide litten in dieser Stunde alle Qualen des bitteren Todes, alle Schmerzen der letzten, schweren Stunde.
»Lassen Sie uns in Frieden scheiden,« sagte sie, ihm ihre Hand reichend. »Sagen Sie, daß Sie mir vergeben.«
Noch einmal kämpfte er mit seinem Groll, aber er vermochte nicht der zu seinen Füßen liegenden Frau, welche seine Kniee umschlungen hielt, zu widerstehen. Tief bewegt, beugte er sich zu ihr nieder und hauchte den letzten Kuß auf ihre bleiche Stirn.
»Gott verzeihe dir, wie ich dir vergebe.«