Johann Kaspar Riesbeck
Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland
Johann Kaspar Riesbeck

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Ostende

Morgen, Bruder, geh ich an Bord nach England. Ehe ich Deutschland verlasse, muß ich noch einige Blicke über das Ganze werfen.

Deutschland, Schlesien mitbegriffen, ist ohngefähr um den fünften Teil größer als Frankreich. Sein Umfang beträgt gegen 12.000 deutsche Quadratmeilen.

Der Boden des Landes ist sehr verschieden, doch ist ein großer Teil desselben von einem Ertrag, den außer dem südlichen Europa und Frankreich kein Erdreich irgendeines andern Staates unsers Weltteils hat. Die ungeheuern Felsenmassen in den südlichen Gegenden des bayrischen und östreichischen Kreises und die Sandländer in Norden, nämlich fast der ganze niedersächsische Kreis, Brandenburg, Pommern, die Lausitz und der Teil von Westfalen, welcher der Lippe gegen Norden liegt, sind freilich nicht eines solchen Anbaues fähig als die übrigen deutschen Länder; allein ihre Verschiedenheit selbst würde große Vorteile für das Ganze haben, wenn das Interesse desselben konzentriert wäre. Die Bergmassen in Süden liefern fast alle Arten der Metalle in der ersten Güte und in ungeheurer Menge, und die sandichten Ebenen in Norden liefern das beste Holz zum Schiffbau, Teer, Hanf, Flachs und Wolle in Überfluß.

Böhmen, Mähren, Schlesien, das Erzherzogtum Östreich, Bayern, Schwaben, Franken, die Rheinländer, jene des westfälischen Kreises mitgerechnet, die östreichischen Niederlande und die Bezirke des obersächsischen Kreises, welche nicht zu den Besitzungen des Königs von Preußen gehören, zeugen soviel Getreide, Vieh, Wein und alle Arten der ersten Bedürfnisse des Lebens, daß sie nicht nur die Gegenden von Deutschland, welche Mangel daran haben, hinlänglich damit versehen, sondern auch noch eine beträchtliche Menge davon ins Ausland führen könnten. – Kurz, Deutschland ist das einzige europäische Reich, welches in allen Bedürfnissen, die ein kultiviertes und reiches Volk zu einer Verzehrung und der mächtigste Staat zu seiner Verteidigung nötig hat, von der ganzen übrigen Welt unabhängig sein könnte. Frankreich hat Mangel an Holz, an Vieh, besonders Pferden, an den nötigsten Metallen und an Linnen, und Rußland muß Wein, Wolle, schwere Pferde und noch einige andre Artikel aus dem Ausland ziehen. Deutschland hat alle Bedürfnisse, welche beide so verschiedne und an mancherlei Produkten so reiche Länder tragen, und auch die, welche denselben mangeln, in Überfluß.

Die letztbenannten und bessern Provinzen Deutschlands betragen in ihrem Umfang ohngefähr 6.400 deutsche Quadratmeilen. Man kann auf jede Quadratmeile derselben sicher 2.500 Menschen rechnen, um ihre Bevölkerung zu bestimmen. Verschiedene Zählungen stimmen damit überein. Wenn Bayern, Hessen und einige andere Bezirke unter diesem Anschlag sind, so übersteigen ihn andre Gegenden, z. B. Östreich, Württemberg, die Niederlande, verschiedne Länder des obersächsischen Kreises usw. In diesem Teil Deutschlands wohnten also gegen sechzehn Millionen Menschen. Der andre Teil beträgt ohngefähr 5.600 Quadratmeilen. Für diesen ist eine Mittelzahl zur Bestimmung seiner Bevölkerung schwerer zu finden als für den erstern, weil er zu verschieden ist. Einige Gegenden, z. B. Inneröstreich, zählen auf jeder Quadratmeile ohngefähr 2000 Seelen. Magdeburg, Halberstadt, Minden, Braunschweig, Hildesheim und andere mehr zählen gegen 2.500. Dagegen zählen die hannövrischen Länder, Brandenburg, Pommern, Mecklenburg und andere mehr nicht viel über 1.000 Menschen auf einer Quadratmeile. Ich glaube, man muß wenigstens doch 1.700 Menschen auf jede Quadratmeile dieses Teils von Deutschland rechnen, um seine Volksmenge zu bestimmen, und so hätte er über 9 1/2 Million und Deutschland überhaupt gegen 25 1/2 Million Menschen. Der König von Preußen rechnet in seiner Abhandlung "De la littérature allemande" sechsundzwanzig Millionen Seelen für Deutschland, und diese Angabe scheint mir unter allen die zuverlässigste zu sein.

Die Kaiserin von Rußland sagte in ihrem Manifest an den Hof zu Wien in betreff der letztern bayerschen Streitigkeit, alle Mächte Europens müßten darauf sehn, daß das Gleichgewicht in Deutschland nicht gehoben werde, indem wegen der Stärke dieses Reiches und seiner Lage zugleich auch das Gleichgewicht von ganz Europa dadurch gehoben würde. Gewiß eine unwidersprechliche Wahrheit. Nur Frankreich und Italien können sich im Verhältnis der Bevölkerung zur Größe des Landes mit Deutschland messen.

Dieses weite Reich hat noch lange nicht den Grad von Anbau erreicht, dessen es fähig ist, nicht einmal jenen, den unser Vaterland schon erreicht hat. Der Hubertusburger FriedeDer Frieden zu Hubertusburg beendete den Siebenjährigen Krieg (1756 –1763) war die Epoche seiner Kultur. Erst seit dieser Zeit ward der Ackerbau und Kunstfleiß allgemein.

Deutschland macht ungleich schnellere und größere Schritte zu seinem Anbau als irgendein andres europäisches Reich. Auf einmal strengte es alle seine Kräfte an, um die Lücken auszufüllen, welche die verheerenden Kriege seit Gustav Adolfder Dreißigjährige Krieg 1618 bis 1648, Gustav Adolf fiel 1632 in Lützen in seinem Busen gemacht haben. Selbst die Zerteilung, die ihm im äußern Gebrauch seiner Kräfte so nachteilig, beförderte den innern Anbau. Nun wetteifern die Fürsten Deutschlands in Verbesserung des Justizwesens, der Polizei, Erziehung, in Aufmunterung zur Industrie und Handlung, wie sie ehedem in Pracht und leerem Gepränge miteinander wetteiferten. Nirgends ist man über den Wert der Menschen und ihrer verschiedenen Beschäftigungen so aufgeklärt, und nirgends bestrebt man sich mehr, diesen Wert geltend zu machen, als in Deutschland. Über die Gesetzgebung und das Interesse eines Staats hat man in den meisten Teilen dieses Reiches ein wohltätiges Licht verbreitet, welches nicht nur, wie in vielen Ländern, besonders in Frankreich, die Lücken sehen läßt, sondern auch die Fürsten und ihre Bedienten zur Verbesserung der Mängel erwärmt. Ohne Widerrede hat Deutschland, so wie ganz Europa, dem jetzigen König von Preußen ungemein viel zu verdanken. Er war in neuern Zeiten der erste praktische Philosoph auf dem Thron. Er gab die Losung zu der glücklichen Revolution, die Deutschland seit zwanzig Jahren umgeschaffen hat. Er war es, der seine Nachbarn lehrte, daß das Interesse des Regenten mit jenem seiner Untertanen parallel läuft. Er fing an, die Hülle abzustreifen, womit Religion, Gerechtigkeit und Politik bedeckt waren. Er stürzte die kleinen Tyrannen, die Geistlichen und Adeligen, die sich auf Kosten des Bürgers und Bauers mästeten, und so militärisch auch die Verfassung seines Staates dem Anschein nach ist, so hat doch Deutschland dieser so förchterlichen Verfassung und den Kopien derselben eine Friedensepoche von zwanzig Jahren zu verdanken, worin es sich zu fühlen begann und die es seit Jahrhunderten nicht genoß.

Die Gesetzgebung ist jetzt Deutschlands größter Stolz. Sie ist auch ohne Widerrede der Gipfel der Philosophie und alles menschlichen Wissens. Sie allein kann uns glücklich machen. Religion, Erziehung, ja sogar das Klima stehn ihr zu Gebot. Sie allein schafft den gesellschaftlichen Menschen und bestimmt seinen Wert. Und wie stolz muß nicht Deutschland auf Friedrich,Friedrich II., der Große, preußischer König, reg. von 1740 bis 1786 Joseph und Katharinadie russische Kaiserin Katharine II. (reg. 1762-1796) war deutscher Abstammung sein, drei gleichzeitige gesetzgeberische Genien, wie sonst Jahrtausende kaum eines zeugen konnten! Nebst diesen großen Regenten, die Millionen ihrer Landsleute und Ausländer glücklich machen, hat Deutschland noch mehr Genien dieser Art, die nur durch Eingeschränktheit ihres Wirkungskreises von jenen verschieden sind.

Die Philosophie scheint überhaupt die Sache der Deutschen zu sein. Kalte und richtige Beurteilung, verbunden mit unermüdetem Fleiß, zeichnet sie von allen andern Europäern aus. Erst warfen sie Licht über die Mathematik und Physik, worin wir ihnen so viel zu danken haben, dann beleuchteten sie die Theologie, dann die Geschichte und endlich die Gesetzgebung mit dem nämlichen philosophischen Geist. – Sie tun wohl daran, wenn sie andern Nationen die Spiele des Witzes überlassen, worin sie es denselben doch schwerlich gleichtun können.

Wenn sich Deutschland ganz geltend machen könnte, wenn es unter einem Regenten vereint wäre, wenn nicht das gegenseitige Interesse der einzeln Fürsten gar oft dem Wohl des Ganzen widerspräche, wenn alle Teile genau in einen Körper verbunden wären, daß die überflüssigen Säfte eines Teiles leicht in die andern Glieder geleitet werden könnten, so würde das Reich noch viel schnellere Schritte zu seiner Kultur machen können. Aber dann könnte Deutschland auch ganz Europa Gesetze vorschreiben. Wie mächtig sind nicht schon die Häuser Ostreich und Brandenburg, deren größte Stärke auf ihren deutschen Staaten beruht und die doch bei weitem nicht die Hälfte und auch nicht den besten Teil von Deutschland besitzen! Man denke sich dieses Reich in der Lage, wo keine Akzise den innern Handel der verschiedenen Provinzen erschwerten, keine Zölle die Ausfuhr in die übrige Welt hemmten, wo so ungeheure Summen für ausländische Waren, die Deutschland selbst liefert, erspart würden, wo es eine Seemacht bilden könnte, wozu es die günstigste Lage und alle Bedürfnisse in Überfluß hat, wo es die Kolonisten, die es so häufig für fremde Staaten liefert, für sich selbst benutzte – welches europäische Reich könnte sich mit den Deutschen messen?

Der Charakter der Menschen ist größtenteils das Resultat ihrer Regierung. Der Charakter der Deutschen ist im ganzen so wenig glänzend als die Verfassung ihres Reiches. Sie haben nichts von dem Nationalstolz und der Vaterlandsliebe, wodurch sich die Briten, Spanier und unsre Landsleute auszeichnen, sosehr auch ihre Dichter seit einiger Zeit diese Charakterzüge besingen. Ihr Stolz und ihr vaterländisches Gefühl bezieht sich bloß auf den Teil von Deutschland, worin sie geboren sind. Gegen ihre übrigen Landsleute sind sie so fremd als gegen jede Ausländer. Im Gegenteil, in vielen Gegenden Deutschlands ist man ungleich mehr für einige fremde Nationen eingenommen als für seine eignen Landsleute. Das Gefühl der Schwäche der kleinern Völkerschaften Deutschlands dämpft den Nationalstolz. Auch bloß deswegen, weil Deutschland seine Kräfte nicht vereint gebrauchen und seine Stärke andre Nationen fühlen lassen kann, werden seine Einwohner von andern Völkern verachtet, die nichts voraushaben als eine festere Verbindung unter sich oder eine lächerliche Eitelkeit. Wir beurteilen die Menschen selten nach ihrem innern Wert, sondern bloß nach ihrem äußern Bezug. Wir schätzen den Russen, Briten usw. nach dem Gewicht der ganzen Nation, aber nicht nach seinen Eigenschaften, und wenn er auch zehnmal mehr Barbar ist als der Deutsche, so macht ihn die Stärke seiner vereinten Landsleute in bezug auf andre Völker doch schätzbarer in unsern Augen.

Wenn der Charakter der Deutschen nicht das Glänzende andrer Völker hat, so hat er doch seinen guten innern Gehalt. Der Deutsche ist der Mann für die Welt. Er baut sich unter jedem Himmel an und besiegt alle Hindernisse der Natur. Sein Fleiß ist unüberwindlich. Polen, Ungarn, Rußland, die englischen und holländischen Kolonien haben den Deutschen viel zu danken. Auch sind die erstern europäischen Staaten einen Teil ihrer Aufklärung den Deutschen schuldig. Nebst dem Fleiß ist die Redlichkeit immer noch ein allgemeiner Charakterzug der Deutschen. Die Sitten der Landleute und Bürger in den kleinern Städten sind auch noch lange nicht so verdorben als in Frankreich und andern Ländern. Sie sind auch eine Ursache, warum Deutschland bei der starken Auswanderung noch so bevölkert ist. Übrigens ist Nüchternheit auf seiten der protestantischen und Freimütigkeit und Gutherzigkeit auf seiten der katholischen Deutschen ein schöner Charakterzug.


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