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Sachsen ist ein herrliches Land, Bruder! Ich habe einen großen Umweg durch das Erzgebirg, über Freiberg, Marienberg, Annaberg und dann über Zwickau und Altenburg hieher gemacht. Man sollte glauben, der ganze ungeheure Berghaufen, der sich längst der böhmischen Grenze hinzieht, wäre untergraben. Es sind Gruben an Gruben, und alle Täler ertönen von Hammerwerken. Ein fleißigeres Volk als die Sachsen habe ich noch nie gesehen. Das ganze Gebirge wimmelt von beschäftigten Menschen, und den nackten Felsen trotzen sie Nahrung ab. Sie verarbeiten nicht nur die Steine und Mineralien auf die mannigfaltigste Art, sondern alle Städte haben auch noch Leinwand, Spitzen, Band, Barchent, Tuch, Flanellen oder irgend sonst eine Art Manufakturen, die unzählige Hände beschäftigen. Ihr empfindsamer und reger Geist ist unermüdet und unerschöpflich. Wenn die Mode oder die Mitbewerbung ihrer Nachbarn ihnen einige Arten von Manufakturen niederschlägt, so haben sie in einem Augenblick zehn andre, um die erstern wieder zu ersetzen. Freiberg enthält über 25.000 und Zwickau gegen 12.000 Menschen. Die übrigen Städte, die ich sah, sind alle, wie die Flecken, ungemein stark bewohnt und vom Kunstfleiß belebt. – Auf der andern Seite der Elbe, durch die Lausitz, wohin ich von Dresden einen Ausfall tat, herrscht die nämliche Betriebsamkeit und der nämliche Wohlstand unter den Einwohnern. Bautzen, Görlitz und Zittau sind ansehnliche Städte, voll Gewerbe und Nahrung. Welcher Abstich mit Süddeutschland, in welchem ungeheuren Strich ich außer der Haupt- und Residenz- und einigen Reichsstädten nicht einen Ort sah, der sich mit einer von den bessern dieser sächsischen Landstädte vergleichen ließe! Es ist, als wenn der hohe Rücken des Erzgebirges und des Thüringer Waldes eine Scheidewand zwischen Licht und Finsternis, Arbeitsamkeit und Indolenz, Freiheit und Sklaverei, Reichtum und Bettelei wäre. Vielleicht findet man in der ganzen Welt keinen in der Nähe so auffallenden Abstich zweier Völker als zwischen den Sachsen und Böhmen; und für diese hat die Natur doch ungleich mehr getan als für jene!
Der Bergbau ist ein unschätzbarer Gewinn für das Land. Fast alle Gruben gehören Gesellschaften von Privatleuten zu. Die Werke sind in gewisse Aktien oder Kuxen eingeteilt, wovon die Gesellschaften einen gewissen Anteil für den Hof umsonst bauen und deren verhältnismäßigen Ertrag dieser zu beziehen hat. Man rechnet den reinen Gewinn des Hofes von allen Bergwerken des Landes auf ohngefähr 400.000 Gulden oder über eine Million Livres, welches kaum der fünfte Teil des sämtlichen reinen Gewinstes ist. Durch die Verarbeitung der erbeuteten Mineralien wird noch mehr gewonnen; denn wenig davon wird roh ausgeführt. Man macht eine unbeschreibliche Menge schwarzes und weißes Blech. Man verfertigt Stahl, Messing und Tombak und hat verschiedene Gold- und Silberfabriken. Die sächsischen Gewehrfabriken sind berühmt.
Die Sachsen haben sich durch ihre Geschicklichkeit im Bergbau in ganz Europa bekannt gemacht. Man hat sie deswegen schon nach Neapel und Spanien beschrieben. Ihre starken Körper, ihr unverdrossener Fleiß und ihr natürlicher Verstand machen sie vorzüglich zu dieser Art von Arbeit aufgelegt, die unter allen menschlichen Beschäftigungen ohne Vergleich die härteste und mannigfaltigste ist und deren Produkte in der Verhantierung so viele Kenntnisse erfodern. Der Bergbau verrät meines Erachtens einen der stärksten Charakterzüge der Deutschen und vorzüglich der Sachsen, wodurch sie sich von unsern Landsleuten auszeichnen. Rasch, verdrossen beim Anstoß hartnäckiger Schwierigkeiten, niedergeschlagen, wenn einige hitzige Anläufe die Hindernisse nicht übersteigen können, verliebt in die schnellen Abwechslungen, gierig, auf einmal viel zu gewinnen, bloß zu Unternehmungen aufgelegt, die ein schnelles Fassen, Genie und Hastigkeit erfodern, werden es die Franzosen in dieser Art von Industrie nie so weit bringen als die kalt nachdenkenden, forschenden, durchdringenden, anhaltenden und unermüdeten Deutschen, die sich, ohne mutlos zu werden, auch mit den undankbarsten Beschäftigungen abgeben können. Ohne Zweifel hat unser Vaterland in seinen vielen Gebirgen wichtige Schätze. Man weiß, was Colbert und viele seiner Nachfolger, besonders in neuern Zeiten Turgot, zur Aufnahme des Bergbaues tun wollten; allein das Genie der Nation vereitelte immer ihre Unternehmungen.
Das Volk in den kleinsten sächsischen Bergstädten, die oft ringsum durch wilde Gebirge von der übrigen Welt getrennt sind, ist artiger, gesitteter und aufgeweckter als das in den größten Städten von Süddeutschland. Die Lektüre ist hierzulande fast allgemein. Geselligkeit und Gastfreiheit begleiten und ermuntern den angestrengten Fleiß. Freiheit, Weltkenntnis, Witz und munterer Scherz machen auch die Gesellschaften von mittlerm Rang unterhaltend. Das Frauenzimmer ist durchaus vom schönsten Wuchs und den beseeltesten Gesichtszügen, munter, frei und witzig und doch sanft, wohlgesittet und zum Hauswesen gebildet. Die Männer klagen sehr, daß ihre schönen Hälften seit einiger Zeit von der Eitelkeit zu sehr seien eingenommen worden. Die Klagen würden bald aufhören, wenn die Weiber in jeder Stadt zusammenstünden und das Gesetz machten, daß der achte oder zehnte Mann, zu Erbauung der ganzen Gemeinde, sich ein Weib aus Bayern oder Österreich holen müßte. Außer dem Putz habe ich unter den Sächsinnen noch keine Ausschweifungen bemerken können. Die Österreicherinnen und Bayerinnen aber lieben den Putz ebensosehr und pflegen nebst dem noch zu Tisch und Bette auszuschweifen und sich wenig um die Wirtschaft zu bekümmern.
Die ungemein starke Bevölkerung des Erzgebirges setzt die Einwohner bei einer Teurung in nicht geringe Verlegenheit. Es bringt nicht den zehnten Teil des zum Unterhalt derselben nötigen Getreides hervor, sondern bezieht den größten Teil desselben aus Böhmen. Die Teurung, welche vor neun und zehn Jahren in dem größten Teil von Europa herrschte, hat vielleicht nirgends so traurige Wirkungen gehabt als hier. Viele tausend Menschen sind teils durch Hunger, teils durch schädliche Nahrungsmittel umgekommen. Eine Menge Menschen hatten ihre Rettung den verschiedenen Mäurerlogen zu Dresden, Leipzig, Freiberg und andern Orten zu danken, welche unglaublich viel für ihre leidenden Mitbürger taten. Wenn ein Land Vorratshäuser nötig hat, so ist es dieses. Sobald die geringste Teurung einreißt, werden die benachbarten Länder geschlossen, und die Ebenen von Sachsen sind auch zu stark bewohnt, als daß sie viel von ihren Ernten entbehren könnten. Die Regierung hat einige Anstalten gemacht; allein in der jetzigen Lage der Finanzen kann sie nicht soviel tun, als hinlänglich wäre, um diese Bergleute ganz sicherzustellen.
So blühend die Handlung und Industrie in diesem Lande ist, so elend ist im ganzen der Zustand der Bauern. Der Fehler liegt weder an der Verfassung noch an ihnen selbst. Sie sind freie, fleißige und verständige Leute. Ohne Zweifel ist die gar zu große Zerteilung des Bodens schuld daran. Längst dem Fuß des Erzgebirges hin steht Dorf an Dorf, und in den ebenern Gegenden kann man kaum die vielen Kirchtürme zählen, die man auf allen Seiten erblickt. Die Anzahl aller Dörfer in den kurfürstlichen Ländern, die Lausitz mitgerechnet, soll sich auf beinahe 6.000 belaufen. Ich sah viele Bauren, die mit einem Ochsen und einer Kuhe pflügten, und sehr viele sollen nur eine Kuhe haben, die ihnen Milch gibt und zugleich zum Pflügen dient. Die lockere und feine Erde in diesem Strich erfodert freilich keine mühsame Bearbeitung; allein ein Bauer mit so wenig Vieh kann unmöglich wohlhabend sein. Man sieht auch in ihrer ganzen Wirtschaft, daß es sehr knapp bei ihnen zugeht. Ein großer Teil derselben lebt fast bloß von Erdäpfeln, Hülsenfrüchten und Rüben, und sehr selten erblickt man auf ihrem Tisch Fleisch. Unbegreiflich ist ihre Verschwendung im Kaffee, der die einzige Nahrung von vielen zu sein scheint und dessen unmäßiger Gebrauch mit der durchaus herrschenden Kärglichkeit sehr kontrastiert. Sie trinken ihn nicht schalen-, sondern kannenweise, aber freilich so dünne, daß er kaum die Farbe von den Bohnen hat. Ihre Reinlichkeit ist bei ihrer Armut auffallend. – Die schwäbischen Bauern sind, im Vergleich mit den sächsischen, Freiherren und im ganzen die glücklichsten, die ich noch gesehen habe.
Durch das ganze Land sprechen auch die gemeinen Leute in den Städten ziemlich rein deutsch, und außer dem Gebirge auch die Bauern. Frankreich hat keine Provinz von gleicher Größe, worin das Volk durchaus seine Sprache so gut spricht als die Sachsen das Deutsche.
Einige Meilen von Leipzig besuchte ich einige Edelleute auf ihren Gütern, an die man mir zu Dresden Adressen gegeben. Ich glaubte in eine Schule des ländlichen Vergnügens gekommen zu sein. Die wenigen Tage, die ich bei ihnen zubrachte, gehören unter die wollüstigsten meines Lebens. Die Einkünfte dieser Herren sind ziemlich eingeschränkt, wie denn der sächsische Adel ebenso unvermögend als zahlreich ist. Allein diese Eingeschränktheit selbst ist eine der Hauptquellen ihres Glückes. Sie verstehen es, das Schöne mit dem Nützlichen, Einfalt mit Geschmack, Sparsamkeit mit mannigfaltiger Abwechslung und die Kunst mit der Natur so schön zu verbinden, daß die Beschäftigungen, welche der größte Teil der Menschen als eine Last betrachtet, für sie Wollust und ihre Tage ein Gewebe von Freuden werden. Sie schlürfen das Vergnügen hinab, wie man einen seltenen Wein zu kosten pflegt, den man zwischen dem Gaumen und der Zunge lange spielen läßt, um seinen Geist besser zu empfinden. Der Feldbau, die Viehzucht, die Jagd, der Vogelfang, die Fischerei, die Bienenzucht, die Gärtnerei, die Försterei, alles wissen sie sowohl zu ihrem Vorteil als ihrem Vergnügen so sehr zu benutzen, daß ich mir vorgenommen habe, wenn es irgend nur möglich ist, noch einige Tage bei einem von ihnen zuzubringen, bloß um Virgils "Georgica"Vergils "Georgica" – ein vierbändiges Lehrgedicht über Landwirtschaft (Feldbau, Obst- und Weinbau, Viehzucht, Bienenzucht), um 30 v. Chr. entstanden mit Verstand, Geschmack und Gefühl lesen zu können, die man gewiß nirgends so gut verstehen lernt als bei ihnen. Die Fischzucht ist für sie ein ganz besonders angenehmes, wichtiges Studium und gewiß nirgends auf den Grad der Vollkommenheit gebracht wie hier. Sie haben ihre Teiche, worin die Fische in verschiedener Absicht und nach dem Alter eingeteilt sind. Diese Teiche sind in Brachfeldern, die dann zur bestimmten Zeit wieder abgelassen und bebaut werden, so daß der nämliche Boden doppelt benutzt wird. Das Forstwesen und die Schäferei sind hier auch zu einem seltenen Grad von Vollkommenheit gebracht. Die Waldungen werden nicht nur mit der ängstlichen Regelmäßigkeit gelichtet, sondern man studiert auch die Baumarten und den für sie tauglichern Boden mit einem unbeschreiblichen Fleiß. Ich glaube, wir Franzosen könnten in diesem Punkt, so wie in der Landwirtschaft überhaupt, viel von den Sachsen lernen. Die sächsische Wolle ist berühmt und gehört nach der spanischen und englischen unter die beste von Europa. Sie wird teils roh, teils zu Tüchern, Zeugen, Strümpfen, Mützen und Handschuhen verarbeitet, noch häufiger aber gefärbt und unverarbeitet ausgeführt. Die unnachahmlich schön gefärbte blaue Wolle, die den Namen vom Lande hat, kömmt bis zu uns. Diese mannigfaltigen Geschäfte der Landwirtschaft, theoretisch und praktisch behandelt, wechseln bei dem Adel mit kleinen Spazierreisen, Besuchen der Freunde auf dem Land und in der Stadt, der schönen Lektüre, Sammlungen von Natur- und Kunstsachen, Bemühungen für die Verbesserungen der Schulen ihres Bezirkes, häuslichen Familienmusiken, Versuchen im Zeichnen, Malen und auch manchmal in der Poesie oder über Gegenstände der Landwirtschaft und andern Geistesbeschäftigungen ab. Die Reichern, worunter schon diejenigen gehören, welche 8- bis 10.000 Gulden Einkünfte haben (die meisten stehn so zwischen 3- und 6.000 und gar viele zwischen 800 bis 2.000 Gulden), besuchen regelmäßig im Winter auf ein oder zwei Monate die Stadt. – Ihre Töchter sind die artigsten und verliebtesten Geschöpfe von der Welt. – Ihre natürliche Empfindsamkeit und Lebhaftigkeit nimmt in der Stille des Landlebens gemeiniglich einen romantischen Schwung, der in allen ihren Gebärden, Blicken und Reden sichtbar ist und in den ersten Jahren der Jugendhitze sie oft zu unbesonnenen Schritten hinreißt. Mißheiraten, Entführungen und Entfliehungen sind hierzulande ungemein häufig. Ich fand in Schwaben, Bayern und Österreich Sächsinnen aus guten Häusern, die im letzten Schlesischen Krieg mit Offiziers von der kaiserlichen und Reichsarmee entliefen, aber alle zärtliche Gattinnen und Mütter geworden sind. Zu Prag fand ich ein sächsisches Fräulein von gutem Haus, das aus lauter Übermaß von Empfindsamkeit, wie es selbst mit Tränen gestand, und aus Mangel an Weltkenntnis ein sehr gemeines Mädchen ward. Lessings Minna von Barnhelm, die du ohne Zweifel kennst, hat etwas von diesem Zug verliebter Schwärmerei; allein ihre charakteristische Laune ist mehr die Art der sächsischen Stadtfräulein. Die Landfräulein, überhaupt genommen, haben das Pikante und Neckende der Minna nicht, sondern sind viel nachdenkender und schmelzender, aber alle sind gleich schön, wie die Engel. Die Modelektüre, welche jetzt in Deutschland überhaupt herrscht, nämlich die Komödien und Romanen, sind keine gute Nahrung für die von Natur so zärtlichen Landfräulein in Sachsen.
Leipzig ist eine kleine, aber ungemein schöne und zum Teil prächtige Stadt. Die Zahl der Einwohner, die Vorstädte mitgerechnet, muß nahe an die 30.000 steigen. Die Lebensart ist von jenen in den andern sächsischen Städten, die ich gesehen, sehr verschieden. Es herrscht hier mehr Verschwendung und Luxus als zu Dresden. Man spielt fast in allen Gesellschaften, und oft unmäßig hoch. Das hiesige Frauenzimmer ist untätiger im Hauswesen als seine Landsmänninnen in den andern Städten und hat mit denselben die Liebe des Putzes und der Koketterie gemein. Unter dem Schwarm der hiesigen Gelehrten gibt es zuviel Stutzer, Kleinmeister und Unwissende, so daß ich in einigen Gesellschaften mich wieder nach Wien versetzt zu sein glaubte, wo die Gelehrten und Friseurs in einem Rang roulieren und auch gleich zahlreich sind. Allein die beträchtliche Anzahl der Männer von Verdienst, welche den Troß dieser vorgeblichen Literatoren ihrer Vaterstadt so verachten, wie er's verdient, machte mich bald wieder den Unterschied bemerkend. In allen Fächern findet man hier einige vortreffliche Männer, die sich sowohl durch die Tiefe als auch die Ausbreitung ihrer Kenntnisse und besonders durch eine große Bekanntschaft mit der übrigen Welt von den Gelehrten zu Wien stark auszeichnen, für welche meistens alles, was außer der Linie ihrer Stadt liegt, tot ist. Die Kleinmeister machen hier wirklich den – zwar etwas zu dicken – Troß, zu Wien aber die eigentliche Armee der Pallas aus, an deren Spitze einige Helden in Riesengröße stehen, um den Zug der Zwerge hinter ihnen desto lächerlicher und verächtlicher zu machen.
Ich besuchte Herrn Weiße,Christian Felix Weiße, Lyriker, gab die erste deutsche Kinderzeitschrift heraus, † 1804 dessen "Kinderfreund" Herr Berquin teils übersetzen, teils nachahmen will. Er ist nicht nur einer der artigsten Dichter Deutschlands, sondern auch ein merkwürdiger Gelehrter im ganzen Umfang des Wortes. Er ist die Eleganz selbst, und das Einkommen von einer ansehnlichen Stelle, die er bekleidet, setzt ihn in den Stand, seine alten Tage der philosophischen Ruhe, dem Wohltun und den Musen zu weihn. Er ist einer der stärksten Antagonisten der literarischen Kalmücken, von denen ich dir bei Anlaß des Theaters von München schrieb, die, gleich den Truppen des Dschingis-Khans, vor einigen Jahren einen Einfall auf den deutschen Parnaß taten, die Musen notzüchtigten, die schönen Blumenbetten der alten deutschen Dichter verheerten, die Sprache verstümmelten, die Wörter mit tatarischer Wut zerfetzten und vielleicht auch im Hunger noch Kinder gefressen hätten, wie ihre Originale, wenn ihre Disziplin der Wut ihres Angriffes entsprochen hätte und nicht so geübte Leute, wie Herr Weiße ist, sie nach der Hitze des ersten Anfalls zerstreut hätten. Nun haben sie sich allgemach hinter die Hecken und Gebüsche verlaufen, wo sie manchmal noch Feuer auf die Vorübergehenden geben, aber sich nicht lange mehr halten können.
Die Handlung und die Manufakturen dieser Stadt sind sehr beträchtlich. Sie ist der Mittelpunkt des Bücherhandels von ganz Deutschland, des Wollhandels von fast ganz Sachsen, und wenige deutsche Städte werden ihr es auch in Wechselgeschäften zuvortun. Man verfertigt hier Sammet, Seidenzeuge, Plüsche, Leinwande, Tücher, Kattun, Tapeten und noch verschiedne andre Sachen. Mit Materialien und Spezereien versieht diese Stadt den größten Teil von Sachsen, und sie hat einen großen Teil des gegenseitigen Handels zwischen Süddeutschland, der Schweiz, Italien und dem Norden. Es gibt mehrere Millionärs hier.
Die Messe, welche acht Tage vor meiner Ankunft vorüber war, soll, nach dem Geständnis aller Einwohner und der fremden Kaufleute, kaum ein Schatten mehr von dem sein, was sie vor dreißig und mehrern Jahren war. Das merkwürdigste ist noch auf derselben der Bücherumschlag zwischen den Buchhändlern Deutschlands, die sie teils durch Kommissärs beschicken, größtenteils aber in eignen hohen Personen erscheinen. Ihre Anzahl soll sich auf etwa dreihundert und der Wert der Bücher, die sie gegeneinander vertauschen, über 500.000 Reichstaler, ohngefähr 1.750.000 Livres, im Durchschnitt der letztern Jahre belaufen.
Leipzig erhält sich im Besitz dieses Buchhandels nicht so sehr durch die unter den Buchhändlern einmal eingeführte Gewohnheit als vielmehr durch den häufigen Verlag, den es selbst von neuen Büchern hat, und weil es mitten in der Gegend von Deutschland liegt, wo die Künste und Wissenschaften vorzüglich blühen und das Lesen und Schreiben am gemeinsten ist. Man hat schon einige Versuche gemacht, dieser Stadt diesen Handlungsast zu rauben, allein jetzt noch ist es meines Erachtens wegen obbemeldten Ursachen platterdings unmöglich. Die österreichischen Buchhändler waren bis anjetzo die einzigen, die nicht regelmäßig und zahlreich bei diesem Literaturhandel erschienen sind. Die Einschränkung durch die Zensur und dann die Eingeschränktheit der Köpfe ihrer Schriftsteller verhinderten bisher, daß sie kein Papier von so gutem Gehalt zu Markte bringen konnten, daß die andern Verleger das ihrige dagegen vertauschen wollten.
Leipzig kam durch die Verdienste seiner Bürger und Landsleute in den Besitz dieses sonderbaren Handels, der meines Wissens in Europa der einzige in seiner Art ist. Sachsen war die Wiege der Literatur und des Geschmacks in Deutschland.
Der erste Samen der Literatur und des Geschmacks ward in Deutschland von Leuten ausgestreut, die keine Gelehrten von Profession waren. Seit der blühenden Epoche unserer Literatur stand ein Teil der deutschen Fürsten immerfort in Verbindung mit unserm Hof. Die Unterhandlungen, welche dadurch veranlaßt wurden, und die Feldzüge unserer Truppen in Deutschland machten die Kenntnis unsrer Sprache zu einem Bedürfnis des deutschen Adels und aller Leute von Stand. Minister, Räte, Offiziers, Sekretärs und dergleichen mehr verfeinert sich durch den Umgang mit unsern Landsleuten, und der Geschmack verschiedner deutscher Höfe war schon gebildet, ehe noch Deutschland selbst einen Literator von Verdienst aufzuweisen hatte. Schon Prinz Eugen, der seine Jugend an unserm Hofe zugebracht, arbeitete mit allen Kräften für die Aufnahme der schönen Wissenschaften und Künste in Deutschland. Die Jesuiten standen ihm am Hof zu Wien im Weg, und dieser Hof war zu der Zeit der einzige in Deutschland, bei welchem unsre Sprache keinen Eingang finden wollte. An den meisten andern Höfen waren auch Leute von dem Geschmack und der Denkungsart des Prinzen Eugens, Gönner der Musen, die in ihren Bemühungen für die Ausbreitung des guten Geschmacks mehr oder weniger glücklich waren. – Auf die nämliche Art kamen die Künste aus Italien zu uns und aus der Levante nach Italien.
Nun fehlte es nur noch an der Sprache, um das deutsche Genie zur Nacheiferung aufzuwecken. Hierin hatte Sachsen einen großen Vorteil über die andern Provinzen Deutschlands. Seit Luthers Zeiten hatte dieses Land immerfort einige Männer, die sich von dem barbarischen lateinischen Schulton, welcher durch ganz Deutschland herrschte, entfernten und ihr Wissen populär zu machen suchten. Der Kirchendienst hatte hier vorzüglich viel zur Verbesserung der Sprache beigetragen. Die Schulen für die kleine Jugend waren in Sachsen schon lange vor der blühenden Epoche der Literatur in einem guten Zustand. Die Sprachen einiger sächsischen Schriftsteller aus der Zeit zwischen 1715 und –25, wo das übrige Deutschland noch den unsinnigen Kanzleistil schrieb, hat schon ziemlich viel von dem Gepräge der grammatikalischen Richtigkeit und Reinlichkeit. Der natürliche Witz der Sachsen und die ihnen ganz eigne und wie angeborne Liebe zu allem, was schön ist, machte gar bald Eifer und Stolz, ihre Sprache gut und schön zu sprechen, unter ihnen rege, der ehedem die Athenienser auszeichnete. Der geringste Handwerker hier bemüht sich mehr, gut zu sprechen, und ist viel glücklicher in der Wahl seiner Ausdrücke als irgendein Gelehrter von Profession in Süddeutschland, mit dem ich zu reden die Ehre hatte. Sogar die hiesigen Mädchen sind empfindlich gegen die Sprachfehler und ahnden sie.
Sachsen hatte nebst der verfeinerten Sprache noch andre Vorteile, welche dazu beitrugen, daß sich die Literatur unter seinen Einwohnern früher und schneller ausbreitete als unter den übrigen Deutschen. Die Philosophie und höhern Wissenschaften waren schon lange vor der ästhetischen Epoche von dem scholastischen Staub gesäubert. Leibniz, Pufendorf, Thomasius, Wolff und andere hatten das ganze weite wissenschaftliche Feld umgerissen, mit Einsicht und Geschmack angebaut und in ganz Norddeutschland, vorzüglich aber in Sachsen, eine glückliche Revolution in den Köpfen veranlaßt. Die bekannten "Acta Eruditorum" nahmen hier schon 1682 ihren Anfang und wetteiferten mit den Rezensionen der aufgeklärtesten europäischen Völker, mit dem "Journal des savants", den englischen "Transactions" und den "Giornali de' Letterati", indessen der Geschmack in den meisten andern Gegenden Deutschlands, sogar zu Berlin, noch bloß das Eigentum einiger Hofleute war. Schon im ersten Viertel dieses Jahrhunderts besorgte man hier gute Ausgaben der Alten, die zur Entwicklung des Genies überall mehr beitrugen als die besten Regeln und Theorien.
Die Prachtliebe und der Aufwand für Kunstsachen der sächsischen Auguste trugen ohne Zweifel sehr viel zur frühern Verfeinerung des Geschmackes und zur Ermunterung des Genies in diesem Lande bei. Die Künste haben eine schwesterliche Liebe gegeneinander, und selten lassen sie sich lange trennen. Die Malerei, Bildhauerei, Musik, Baukunst und alle mit ihnen verwandten Künste waren an dem Hof August des Dritten blühender als an irgendeinem europäischen Hofe. Aus der Schule der Künstler, die sich damals hier bildeten, kamen MengsRaphael Mengs, ital. Maler, schuf das Altarbild der katholischen Hofkirche zu Dresden, der größte Maler unsers Jahrhunderts, Hasse, dessen musikalisches Genie mit dem dichterischen eines Metastasio wetteiferte, Gluck, Hiller und andere mehr. Es war sehr natürlich, daß sich zu diesen vielen Künsten auch endlich die Dichtkunst gesellte. Die Opern machten die Sachsen mit italienischen Dichtern bekannt, so wie sie die Hofsprache mit den französischen bekannt gemacht hatte. Endlich machten sie selbst einige Versuche in ihrer Sprache, und sie gelangen ihnen. Gellert, Rabener und andere mehr haben sich offenbar nach den Franzosen, Italienern und Engländern gebildet.
Seit dieser Zeit hatte Sachsen nach dem Verhältnis immer die meisten schönen Geister unter den übrigen Provinzen Deutschlands. In der Zahl der Handlanger der schönen Literatur übertrifft es das übrige Deutschland zusammen. Der Übersetzer, Journalisten, Magazinen-, Almanachen- und Verzeichnismacher und anderen dergleichen ist eine unendliche Menge. Es gibt hierzulande viel Leute, die mit der alten und neuen Literatur der Franzosen, Italiener und Engländer so bekannt sind als die Gelehrten dieser Völker selbst. Man hat auch ein "Magazin der spanischen und portugiesischen Literatur". Sogar im tiefen Norden, auf dem dänischen, schwedischen, russischen und polnischen Parnaß, fouragieren sie. Vorteile, welche Deutschland vor allen andern Ländern voraus hat.
In Rücksicht auf das Mechanische der Literatur, die Verhantierung der ersten Materien und den Verkauf der Manufakturen dieser Art, wird Sachsen deswegen noch lange dem übrigen Deutschland überlegen bleiben, allein sein Genie selbst scheint erschöpft zu sein. Die neue Zucht seiner schönen Geister ist die Frivolität selbst, indessen erst in andern Provinzen Deutschlands das Genie in seiner Jugendstärke erwacht. – Es verhält sich mit dem dichterischen Genie wie mit der physischen Zeugungskraft des Menschen, mit welcher es auch ohne Zweifel eine natürliche und wesentliche Verbindung hat, und ich getraue mir zu wetten, daß, wenn es jemand untersuchen wollte, die gutwilligen Mädchen sich an jedem Ort mit den Schöngeistern in gleichem Verhältnis gemehrt haben. Das Dichten ist wirklich eine Debauche des Geistes, oder, wie Swift in der Vorrede zu der bekannten "Bücherschlacht" sagt und welches eins ist: "Witz ist eine Abschäumung des Rahmes, welcher sich oben im Hirn ansetzt." Nun hat das Hirn bekanntlich mit den Zeugungssäften des Menschen eine sehr enge Verbindung, und beide Substanzen werden durch das öftere Rahmen verdünnert und endlich gar zu einem Pfützenwasser gemacht. Durch einige Debauchen, die im Anfang vielleicht die Wirkung des Übermaßes der Zeugungssäfte waren, läßt sich der Geist leicht zur Geilheit hinreißen, und anstatt sich nach den Gesetzen mit einer Wissenschaft zu verheiraten, die ihn in Zucht und Ehren und mit Maß und Ziele abrahmen könnte, verschwendet er in der Geilheit seine Säfte, nimmt bei der Abnahme derselben Schokolade, Stanza marina und dergleichen, die seine gänzliche Entkräftung beschleunigen, und schwindet endlich zu einem Schatten zusammen. Ich seh es an den Waden der hiesigen Literatoren, daß ihr Geist unvermögend ist. – Eben diese ansteckende Geilheit des Geistes, die bei Annäherung der Kunstepoche bei allen Nationen einriß und bei allen Völkern der Nachwelt in diesem Fall einreißen muß, weil die Bastarden, die sie auf die Welt setzt, wie alle Bastarden, eher ihr Glück machen als ehrliche Kinder, und sie durch den Beifall der andern Menschen begünstigt und zu ihren Ausschweifungen ermuntert wird, macht mich der sogenannten schönen Literatur überhaupt so abgeneigt. Die Polizei sollte darauf sehn, daß sich der Witz allzeit mit der Vernunft begattete, und sollte die literarischen Bordells nicht Mode werden lassen, die im Anfang einige hübsche Kinder der Liebe liefern, aber für die Waden der jungen Leute gefährlich sind. – Aus meiner Republik schließ ich, wie ein kluger Alter, alle Dichter, Musikanten und dergleichen für immer aus. Haben meine Untertanen Witz, so soll nie zu den sogenannten schönen, sondern bloß zu den nützlichen Wissenschaften und Künsten Gebrauch davon gemacht werden. In meinen Augen (ich weiß, du wirst wieder auf einen Augenblick böse) hat der unbekannte Mann, der die Nähnadel erfand, mehr Verdienst als Homer, Virgil und alle alten und neuen Dichter zusammen.
Ich tat von hier einen Ausfall nach Weimar und Gotha. Dieser Strich Landes ist der angebauteste und im politischen Betracht der schönste, den ich noch in Deutschland gesehn. Alle zwei bis drei Meilen hat man eine Stadt, und fast in allen blühen Manufakturen. Die Dörfer sind unzählig, und der Feldbau ist auf dieser Seite mannigfaltiger als gegen Dresden hin. Die Natur scheint auch dieser Gegend günstiger gewesen zu sein.
Weimar ist ein artiges Städtchen. Der Hof ist äußerst populär, und der regierende Herzog treibt die Popularität und Philosophie vielleicht zu weit. Er setzt sich mit allen Menschen parallel und nimmt Rollen in gesellschaftlichen Schauspielen, welche die schönen Geister und Bedienten seines Hofes unter sich aufführen. Er liebt das Romantische und erkletterte nicht sonder Lebensgefahr in Gesellschaft seines ebenso ritterlichen Busenfreundes, Herrn Goethe, auf seiner letzten Schweizerreise den sturzdrohenden Felsen mitten im Fall des Rheines unter Schaffhausen, an dem die Gewalt des Sturzes schon große Stücke weggerissen hat und der immerfort bis in seine Grundfeste erbebt: eine Tat, die des berühmtesten Ritters aus den vorigen Jahrhunderten würdig wäre. Mit diesem liebenswürdigen Gefühl für das Kühne und Abenteuerliche verbindet er einen ausgebildeten Geschmack an allem, was Kunst heißt. Sein Hof besteht fast bloß aus schönen Geistern, und sogar sein Generalsuperintendent (welcher dir ganz unbekannte Titel soviel als ein kleiner Papst heißt) ist ein schöner Geist, der das erste Buch Moses als eine poetische Rhapsodie erklärt und auch in der neuern rhapsodischen Gestalt unter dem Titel "Urkunde der Menschheit" herausgegeben hat.
Die vortreffliche Bildung des Herzogs ist ein Werk des berühmten Wielands,Christoph Martin Wieland – Schriftsteller, schrieb "Der Streit um des Esels Schatten", † 1813 den romantischen Zug seines Charakters ausgenommen, den er Herrn Goethe größtenteils zu verdanken hat. Wieland ist ohne Widerrede der beste Kopf unter den Schriftstellern Deutschlands. Keiner verbindet soviel Studium mit soviel Genie als er, den einzigen Lessing ausgenommen. Er hat nicht nur sein literarisches Augenmaß durch anhaltendes und durchdringendes Anschauen der Schönheiten des Altertums geübt und fixiert, sondern umfaßt auch die ganze Literatur der Franzosen, Italiener und Engländer. Seine Werke sind keine Rhapsodien im Geschmack der neuern deutschen Dichterlinge, sondern haben das wahre Gepräge der Kunst. Auch die flüchtigen Produkte seiner frohen und launichten Augenblicke verraten eine Meisterhand, die im Zeichnen geübt ist und ihren gewissen Pinselstrich hat. Man sagt von den großen Malern, daß man sie sogar in den Zügen erkennt, die sie mit dem Abwischen ihrer Pinsel machen. Wieland ist einer von den wenigen deutschen Schriftstellern, welche die Nachwelt unter die klassischen setzen wird, nachdem die Schriften der meisten andern zum Düngen der Felder werden verbraucht sein. Man macht ihm den Vorwurf, er wiederhole sich zu oft. Ich meinesteils hab in seinen Schriften wenig eigentliche Wiederholungen bemerkt, wohl aber, daß er, wie alle großen Schriftsteller, seine Lieblingsideen hat, die er immerfort dreht und wendet, um sie den Lesern auf allen Seiten und in jedem Licht zu zeigen. Ich wüßte nichts an ihm zu tadeln, als daß er sein Studium zu wenig versteckt, seine ungeheure Lektüre zu viel auskramt und manchmal vergißt, daß seine Leser in gewisse Vorstellungen nicht so verliebt sein mögen als er, und dann auch, daß er ehedem, als er noch nicht Hofrat und Prinzenhofmeister war, wahrscheinlicherweise manchmal schreiben mußte. Seine Epoche ist nun vorüber. Sein ungemeiner Scharfsinn und seine unbeschreibliche Tätigkeit, alle Vorteile, welche die Umstände seinem Beutel darbieten, soviel als möglich zu benutzen, brachten ihn auf den Einfall, ein Journal in die Abschnitte seines großen Ruhms zu emballieren, um im Alter seinen literarischen Handel nicht ganz aufgeben zu müssen. Keiner der deutschen Schriftsteller kennt sein Publikum so gut als Wieland. Er ist unerschöpflich in Erfindungen, seinem "Merkur", der immer noch soviel wert ist als der unsrige, durch abwechselnde Kleinigkeiten den Abgang zu erhalten. Bald klebt er, wie die holländischen Tobakshändler auf ihre Päckchen, ein Bildchen auf die Emballage, bald verspricht er, in folgenden Bänden Schlüssel zu Dingen in den vorhergegangenen zu liefern, und gibt dann dem Publikum anstatt des Schlüssels eine Rassel oder ein Pfeifchen, womit die Kinder zu spielen pflegen, in die Hand; bald dehnt er ein Stück durch einen ganzen Jahrgang aus, bald füllt er ganze Bände auf einmal damit an. Rätsel, Zeitungen, Anekdoten, Zänkereien anderer Schriftsteller, kurz, alles mögliche nahm er zu Hülfe, um seiner Ware immer den Anstrich von Neuheit zu geben und das Publikum zu – amüsieren. In Deutschland kann man es einem großen Mann weniger übelnehmen, wenn er zu all den schriftstellerischen und buchhändlerischen Pfiffen und Kniffen seine Zuflucht nimmt, als in andern Ländern; denn der größte Mann könnte da Hungers sterben, wenn er nicht die Industrie aufs äußerste treibt.
Wieland ist, was sonst wenige Dichter sind, ein guter Hausvater. Wirklich lebt er jetzt mehr für seine Familie als für das Publikum. Er ist ein neuer Beweis von dem Satz, der den Schluß meines letzten Briefes ausmachte, nämlich daß die Zeugungskräfte des Menschen mit dem Genie in einem Verhältnis stehn und daß es gut ist, wenn man den zum Zeugen erforderlichen Vorrat von Säften ebenso vorsichtig und ordentlich abrahmt als den Witz vom Hirn. Er hat sieben oder acht eheliche Kinder. So viel hat kein Dichter je zur Welt gebracht, wie er selbst versichert, indem er die Lebensbeschreibungen der Dichter bloß in der Absicht, um sich dieses Vorzugs zu vergewissern, nachgeschlagen hat. Eine artige Pension vom Hofe setzt ihn, nebst dem Gewerbe mit seinem "Merkur", in den Stand, seinem herannahenden Alter mit Ruhe entgegenzusehn, die Freuden des Lebens bis an sein Ende zu schmecken.
Sein Charakter hat viel Sonderbares. Ich will dir nur einige Züge von ihm mitteilen, die mit seiner Schriftstellerei in Verbindung stehn. Aus allen seinen Schriften leuchtet eine große Weltkenntnis, und man sollte ihn nach denselben für einen ausgedienten Hofmann halten. Er ist aber nichts weniger als dieses. Er weiß sich weder in großen und feinen Gesellschaften noch in irgendeiner Intrige des alltäglichen Lebens, die einige Dreistigkeit erfodert, so zu fassen, als man von einem gewöhnlichen Weltmann erwarten sollte. Man weiß Fälle, wo er vis-à-vis von einer Dame in seinem Reden und Betragen verlegen war, ob er gleich damals schon den "Agathon" und eine Menge Werke herausgegeben hatte, die ihm unter den politesten Schriftstellern einen Rang anweisen. Seine Kenntnis der feinern Welt ist bloß theoretisch, und man muß ihm etwas Zeit lassen, wenn er Gebrauch davon machen soll. Er ist nicht einmal im alltäglichen Leben ganz abgeründet. Der Mangel an Umgang mit der großen Welt und ein anhaltendes Studieren scheinen nicht die einzige Ursache davon zu sein. Sein Temperament mag viel dazu beitragen. Er ist von Natur sehr lebhaft, aber nicht sehr entschlossen, mißtrauisch auf sich selbst und leichtgläubig gegen andre und, kurz, einer von denen, welchen die Natur alle Anlage zur Süffisance im menschlichen Leben versagt hat, von welcher doch eine kleine Dosis sehr nützlich ist. Seine Weltkenntnis ist, wie MontaigneMontaigne – frz. Moralist und Schriftsteller, begründete die lit. Gattung des Essays, † 1592 von einem seiner Art sagt, en fieu d'où il l'emprunte, et non en lui. Das Gefühl hievon in Fällen, wo er Blöße gab, mag ihn vollends zu einem Poltron gemacht haben. Daraus muß man die schnellen Übergänge in seiner Denkensart, die Schmeicheleien gegen Leute, die ihm den Rücken decken können, das Nachgiebige gegen die, welche ihm die Stirne bieten, seine verträgliche Art gegen jene, deren Grundsätze von den seinigen himmelweit entfernt sind, seine Liebe zum Parteimachen und alle die Retiraden erklären, zu denen er seine Zuflucht nahm, sooft er seinen Ruhm in Gefahr glaubte, für welchen er doch nie etwas Wichtiges zu befürchten gehabt hätte, wenn er seine Stärke besser gefühlt hätte.
Vor Goethes Epoche stand Wieland, wie er es verdiente, an der Spitze des Heeres der deutschen Pallas. Das Schicksal fügte es, daß sich gegen seinen Willen eine ungeschickte Rezension des "Götzes von Berlichingen" in seinen "Merkur" einschlich. Goethe rächte sich durch eine Farce, nach seiner Gewohnheit auf eine – starke Art. Wieland, immer bereit, auf den ersten Wink ins Bockshorn zu kriechen, suchte den Fehler durch eine zweite, geschicktere Rezension gutzumachen. Zum Glück für ihn reisete sein Eleve, der regierende Herzog, bald darauf nach Frankfurt, wo er Herrn Goethe besuchte, ihn mit sich nach Weimar nahm und natürlicherweise mit seinem ehemaligen Hofmeister aussöhnte. Der geschmeidige Wieland nahm hierauf nicht nur etwas von Goethes Ton an, sondern schrieb auch Apologien für Leute von der Partei desselben, auf welche doch fast alle seine vorhergehenden Schriften Satiren waren. Überhaupt ist er einer der größten Sophisten unsers Jahrhunderts, der auf alles eine Apologie und Satire fertig hat und das hergibt, was man ihm bezahlt.
Goethe ist der Liebling des Herzogs. Sie sind Du zusammen. Was die Natur Herrn Wieland gänzlich versagte, das gab sie Herrn Goethe im Übermaß. Ehedem verleitete ihn seine Süffisance wirklich zu Ausschweifungen; allein er hat sich seit einigen Jahren merklich geändert. Er ist nicht nur ein Genie, sondern hat auch wirklich viel Ausbildung. Einige sonderbare Grundsätze trugen mehr dazu bei als seine natürliche Raschheit, daß er – gewiß gegen seine Erwartung – einer Kalmückenhorde das Signal gab, den deutschen Parnaß, der in voller Blüte stand, vor einigen Jahren zu verheeren. Er ist in allen Dingen – aus Grundsatz – für das Ungezierte, Natürliche, Auffallende, Kühne und Abenteuerliche. Er ist der bürgerlichen Polizei ebenso feind als den ästhetischen Regeln. Seine Philosophie grenzt ziemlich nahe an die Rousseauische. Ich will mich nicht damit aufhalten, sie zu zergliedern. – Als das Gefühl seines Genies in ihm erwachte, ging er mit abgekremptem Hut und unfrisiert, trug eine ganz eigne und auffallende Kleidung, durchirrte Wälder, Hecken, Berg und Tal auf seinem ganz eignen Weg; Blick, Gang, Sprache, Stock und alles kündigte einen außerordentlichen Mann an. Auch in seinen Schriften hielt er eine gewisse Nachlässigkeit für anständiger als eine gesuchte Delikatesse. Er kürzte seine Perioden auf die seltsamste Art ab, nahm veraltete und vulgare Wörter an und apostrophierte die Hälfte der Vokalen, welches für die so vokalenarme deutsche Sprache eben kein Freundschaftsdienst war. Seitdem er sich aber auch seine Waden und Backen apostrophiert hat, ist er in allen Sachen geschmeidiger und gelassener geworden. – Seine Schriften enthalten sehr viele von den glücklichen Zügen, die eine richtige Menschenkenntnis mit einer starken und reichen Phantasie und einer pikanten Laune vereinbaren. In allen sieht man auch, daß er einen Plan anlegen und übersehen kann und Herr von den Mitteln ist, ihn auszuführen, wodurch er sich von allen seinen Nachahmern auffallend unterscheidet. Wenn irgendwo ein Teil nicht sehr genau mit dem Ganzen zusammenhängt, so sieht man, daß es nicht aus Ungeschicklichkeit geschah, sondern er sich nur die Mühe nicht nehmen wollte, denselben besser anzuknüpfen. Er hat viel Studium, ist ein Kenner der alten und bekanntesten neuen Sprachen, zeichnet, ist Musikant, ein guter Gesellschafter, Bonmotist und herzoglicher Legationsrat.
Ohne Zweifel sieht er jetzt selbst ein, daß er der deutschen Literatur viel geschadet hat. Viele junge Leute glaubten, es wäre bloß um Dreistigkeit, Unverschämtheit, Verunstaltung der Sprache und Vernachlässigung alles dessen, was Ordnung und Wohlstand heißt, zu tun, um Genies zu werden. Sie behaupteten öffentlich, daß alles Studieren, alle Regel und aller Wohlstand Unsinn und alles, was natürlich ist, schön wäre, daß ein wahres Genie keine Bildung nötig hätte, sondern, wie Gott, alles aus seinem Wesen schöpfen und sich selbst genug sein müßte, daß ein Genie berechtigt wäre, sich im bloßen Hemd oder auch nach Belieben in puris naturalibus auf dem offenen Markt und bei Hofe zu produzieren, daß die kalte Vernunft die Menschen zu Schöpsen, eine unbezähmte Phantasie aber zu Halbgöttern machte, daß Träumen, Entzücktsein und Rasen der natürliche und glückliche Zustand des Menschen wäre, daß alle Beschäftigungen, wodurch der Mensch sein tägliches Brot verdiente, ihn unter seine Natur und Würde erniedrigten, daß in der besten Weltsiehe Fußnote 14 im Kapitel "Wien" die Menschen auf allen vieren gehen und Eicheln fressen müßten usw. Du mußt nicht glauben, ich übertreibe. Ich kann dir das alles urkundlich vor Augen legen. Goethe hatte das mit Rousseau gemein, daß seine Philosophie, die auf (falschen oder wahren) Grundsätzen beruhte, der Liederlichkeit und Ausgelassenheit schmeichelte und deswegen von Leuten ausgeübt ward, die gar keine Grundsätze hatten, sondern durch blinden Glauben an ihren Propheten selig werden wollten. Seine Jünger begingen die lächerlichsten Ausschweifungen, indessen er immer seiner selbst Meister war und das Eigensinnige seines Betragens durch eine Übereinstimmung desselben mit seinen Grundsätzen, durch eine gewisse Mäßigung und durch eine Umgänglichkeit mit allen Menschen rechtfertigte. Nun erschien ein Schwall von dem elendesten Geschmiere, das je die Welt gesehen. Ich glaube, viele dieser Herren wären selbst nicht imstand, von manchen Stellen ihres Geschreibsels eine Erklärung zu geben. Der platteste Unsinn ward von Kritikern dieser Partei als die Quintessenz des menschlichen Witzes und der menschlichen Phantasie (dem menschlichen Verstand kündigten sie, wie ich dir oben sagte, öffentlich und ausdrücklich den Krieg an) ausgeschrien. Wenn man den Beifall des Publikums, im großen genommen, will verachten lernen, so muß man die Produkte mancher dieser Herren lesen, die zum Teil noch jetzt für Wunder gehalten werden. Diese Kalmückenhorde rekrutierte unter allen Klassen Künstler. Es gab Ärzte, die ihr System nach den Glaubensartikeln dieser Schwärmersekte einrichteten und lehrten, sich im Schnee wälzen, im kältesten Wasser baden, Bocksspringe machen, sich auf den Kopf stellen, abstürzige Felsen erklettern, nichts Warmes zu sich nehmen, sondern bloß von den rohen Früchten der Erde leben, der Natur nicht den geringsten Zwang antun, sondern sich der Naturlast stehenden Fußes an jedem Ort und zu jeder Zeit entbürden und dergleichen mehr wäre alles, was der Mensch sowohl zur Erhaltung als zur Wiederherstellung seiner Gesundheit tun könnte. Ein bekannter Doktor, welcher verschiedene Leute durch diese Kur zugrunde gerichtet, berief sich in seinen Vorschriften bloß auf das Beispiel der großen Geister Deutschlands. Wenn er einem Kranken das kälteste Bad verordnete und dieser aus Erfahrung befürchtete, er möchte ein Fieber oder einen Fluß holen, so versicherte ihn der Herr Doktor, er habe nichts von allem dem zu befürchten, denn der große Goethe ging mitten im Winter ins Wasser und ins Eis. – Die jungen Maler malten nichts mehr als Stürme, Blitze und Alpengebirge, Elefanten, Löwen und Tiger, Didonen auf den Scheiterhaufen, Lucretien und Medeen, die ihre Kinder zerrissen. Alle sanftern Landschaften, die alltäglichen Tiere und die gewöhnlichern Situationen der Menschen schloß jeder aus seinem verschiedenen Fach aus. Um Zeichnung, Haltung und Wahrheit war es ihnen nicht zu tun. Diese Kleinigkeiten überließe ein Genie, sagten sie, den kalten Vernunftmenschen und Brotarbeitern. Die Kunst bestand nach ihren Begriffen darin, daß alles, was sie machten, außerordentlich wäre. Je unnatürlicher ein Dido die Arme zerränge, je gewaltsamer sie die Augen verdrehte und je mehr Unordnung im Haar und in die Draperie herrschte, desto schöner wäre sie. – Auf diese Art mißbrauchten Künstler jeder Gattung Goethes Theorie. Seine Anhänger ahmten ihm auf die lächerlichste Art in der Kleidung, im Gange und sogar im Reden nach.
Ganz unschuldig ist er nicht an diesen Ausschweifungen. Er entdeckte bei einigen seiner Freunde, z. B. Lenz, Klinger und andern, Funken von wahrem Genie, die durch einige Aufmunterung in lichte Flammen zu bringen wären. Da er aber einmal angefangen hatte, den Protektor zu machen, so drängten sich auch Leute an ihn zu, die seiner Protektion ganz unwürdig waren und die er geraden Weges wieder zu ihren Brüdern auf die Weide hätte zurückweisen sollen. Der Kitzel des Ruhms mochte ihm aber vielleicht nicht mißbehagt haben, und er schämte sich nicht, wenigstens einige Zeit lang wirklich an der Spitze der Rotte zu stehen. Rousseau war hierin sehr verschieden von ihm. Der protegierte nicht und kommandierte nicht. – Jetzt scheint sich Goethe um das Literaturwesen überhaupt wenig mehr zu bekümmern. Er arbeitet an einer Lebensbeschreibung des berühmten Bernhards von Weimar und genießt das Leben, insoweit es sich mit ziemlich welken Lenden genießen läßt. Er wird, wie man mir in Weimar sagte, von allen Seiten her unablässig mit Rekommandationen bestürmt, und aus Osten, Süden, Westen und Norden besuchen ihn zuzeiten Jünger seiner Apostel, in der Hoffnung, angebrachthier: durch Vermittlung einen fetten Posten zu erlangen zu werden. Er hat es sich aber jetzt zur Regel gemacht, mit seiner Protektion sehr haushälterisch zu sein; und da tut er wohl daran. Die Sottisen dieser Leute würden alle auf ihn fallen. Es ist auch keine Folge, daß, wenn die Minister, Räte und Kabinettssekretäre eines Hofes schöne Geister sind, auch die Küchen- und Kellermeister, Kammerdiener, Lakaien, Jäger und endlich auch die Stallknechte schöne Geister sein müssen.
Gotha ist viel größer, reicher und schöner als Weimar. Man schätzt die Anzahl der Einwohner auf 9- bis 10.000 Menschen, die einige beträchtliche Manufakturen treiben. Der Hof ist so populär und artig gegen Fremde als der zu Weimar. Der Herzog hatte eines der besten deutschen Theater, dankte aber die ganze Gesellschaft vor einigen Jahren ab, weil der Aufwand ein wenig zu groß ward, er sich satt gesehen hatte und die Herren Schauspieler den Kavalierton übertrieben.
Die Untertanen beider Herzoge befinden sich sehr wohl. Die Abgaben sind mäßig und regliert . Die Verwaltung der Gerechtigkeit und Polizei ist vortrefflich. Beide Herren haben die Schwachheit anderer Fürsten Deutschlands nicht, den größten Teil ihrer Revenuen an ein oder zwei Regimenter Soldaten zu wenden und die gesamte junge Mannschaft ihrer Lande anstatt pflügen exerzieren zu lassen. Die Einkünfte eines jeden derselben sollen sich auf beinahe 500.000 rheinische Gulden belaufen. Ihre Länder sind sehr fruchtbar und außerordentlich stark bewohnt.
Erfurt ist eine sehr große, alte, finstre und schlecht bewohnte Stadt. Sie hat beinahe zwei Stunden im Umfang und enthält kaum 18.000 Menschen. Das merkwürdigste hier ist der Gartenbau, der an keinem Ort in Deutschland, den ich gesehen, so hoch getrieben ist als hier. Man treibt mit verschiedenen Pflanzen und Früchten einen ziemlich beträchtlichen Handel. Die Einwohner sind, so wie in ganz Sachsen, sehr artige, gesellige und freundschaftliche Leute. Der jetzige Statthalter des Kurfürsten von Mainz, welchem die Stadt nebst etlichen und siebzig umliegenden Dörfern zugehört, ist ein Baron von Dalberg, Domherr von Mainz, den du vielleicht zu Paris sahest. Er war in dem Haus des Marquis de V ... te und, wenn ich nicht irre, auch bei dem Herzog von Choiseul nebst dem Baron von Gr ... g, mainzischen Gesandten, wohlbekannt. Er ist ein Mann von ungemeiner Weltkenntnis, ein Gelehrter im ganzen Umfang des Worts, ein Menschenfreund und Patriot. Er hat in allen Geschäften der höhern Welt und in allen Fächern der Staatsverwaltung außerordentlich viel Routine, beschützt die Wissenschaften und Künste und steht mit den besten Köpfen Deutschlands in Verbindung. Er hat Hoffnung, mit der Zeit der erste Fürst des deutschen Reichs und nach dem Papst der reichste und angesehenste Prälat in der katholischen Welt zu werden. – Der Staat von Erfurt soll jährlich gegen 180.000 Gulden rheinisch abwerfen. Er zählt in allen gegen 36.000 Menschen.