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V.

So bald Julie ein wenig geruht hatte, folgten sie der Spur vor ihnen, und erreichten in kurzem ein kleines Dorf, wo sie Sicherheit und Erfrischung fanden. Allein Julie, deren Seele mit schrecklicher Angst um Ferdinanden erfüllt war, sah alles um sie her gleichgültig an. Selbst Hippolytus Gegenwart, die noch vor kurzem sie vom Elende zur Freude empor gehoben haben würde, konnte jetzt ihren Kummer nicht besänftigen. Die standhafte, edle Zuneigung ihres Bruders war tief in ihr Herz gedrungen, und Betrachtung vermehrte nur ihren Kummer. Doch hatten die Banditen fest darauf beharrt, daß er nicht in ihren Höhlen verborgen wäre, und diese Bekräftigung, die Hippolytus Furcht nur noch verfinsterte, warf einen Schimmer von Hoffnung auf Juliens Seele. Ein sie unmittelbarer betreffender Gegenstand zwang endlich ihre Gedanken von dieser traurigen Beschäftigung ab. Es war nothwendig, sich zu einem bestimmten Verfahren zu entschließen, denn sie befand sich jetzt an einem unbekannten Orte, und wußte keinen Zufluchtsplatz. Der Graf, der vor den Gefahren, die sie umringten, und vor der Wahrscheinlichkeit, daß sie ihm auf immer entrissen werden könnte, erbebte, glaubte jetzt die gefährliche Delicatesse überwinden zu müssen, die unter diesen traurigen Umständen ihm Stillschweigen auflegte. Er bath sie, die Möglichkeit einer Trennung zu zerstören, und einzuwilligen, unverzüglich die Seine zu werden. Er stellte ihr vor, daß man leicht einen Priester von einem benachbarten Kloster herbey schaffen könnte, der die Bande, welche längst ihre Herzen vereinigten, befestigen, und so auf ein Mahl dem Geschicke Grenzen setzen würde, welches so lange ihren Hoffnungen gedroht hatte. Dieser Vorschlag, obschon gleich lautend mit dem, welchen sie zuvor angenommen hatte, und obschon das sicherste Mittel, sie vor dem Schicksale, das sie fürchtete, zu retten, erfüllte sie jetzt mit Kummer und Niedergeschlagenheit. Sie liebte Hippolytus mit standhafter, zärtlicher Liebe, welche noch durch die Dankbarkeit, auf die er als ihr Erretter berechtigt war, erhöht wurde; allein sie sah es für eine Entweihung des Gedächtnisses des Bruders an, der so viel um sie gelitten hatte, Freude in den Schmerz zu mischen, worein die Ungewißheit seines Schicksals sie versenkte. Sie milderte ihre Verweigerung durch eine holde Zärtlichkeit, welche schnell Hippolytus aufsteigende, eifersüchtige Zweifel zerstreute, und seine hohe Bewunderung ihres Charakters vermehrte. Sie wünschte sich auf einige Zeit in ein einsames Kloster zurück zu ziehen, und da den Ausgang der Begebenheit zu erwarten, die für jetzt sie in Angst und Kummer verwickelte. Hippolytus kämpfte mit seinen Gefühlen, und enthielt sich, weiter auf die Bitte zu dringen, von deren Erfüllung jetzt seine ganze Glückseligkeit, ja beynahe sein Daseyn selbst abhing. Er erkundigte sich im Dorfe nach einem benachbarten Kloster, und hörte, daß im Umkreise von mehr als sechs Meilen keins läge, in der Nähe der Stadt Palini aber, oder doch in dieser Entfernung lägen zwey. Er verschaffte sich Pferde, überließ es den Gerichtsdienern, eine stärkere Wache von Palermo zu hohlen, und begab sich von Julien begleitet auf den Weg nach Palini. Julie war stille und tiefsinnig. Nach und nach sank Hippolytus in eben die Stimmung, und oft warf er ängstliche Blicke um sich her, als sie einige Stunden lang an dem Fuße der Gebirge reisten. Sie hielten stille, um unter den Schatten einiger Buchen Mittag zu halten; denn aus Furcht entdeckt zu werden, hatte Hippolytus sich gegen die Notwendigkeit, in vielen Wirthshäusern einzukehren, versehen. Nach geendigtem Mahle setzten sie ihre Reise fort; jetzt aber wurde Hippolytus zweifelhaft, ob er auf dem rechten Wege sey. Da er sich aber auf keine Art Gewißheit über diesen Punct verschaffen konnte, folgte er dem Wege vor ihm, der sich jetzt einen steilen Hügel hinan wand, von welchem sie in ein blühendes Thal hinab stiegen, wo des Schäfers Flöte süß von den Hügeln ertönte. Die Abendsonne goß einen sanften Schimmer über die Landschaft aus, und hauchte auf jeden Gegenstand einen Purpurglanz, der ein weniger bekümmertes Herz, als Juliens war, in gleichstimmige Friedensgefühle würde gesenkt haben. Der Abend brach jetzt an, und da sie des Wegs zweifelhaft waren, und sahen, daß es unmöglich seyn würde, Palini auf die Nacht zu erreichen, lenkten sie auf ein Dorf zu, das sie am Ende des Thals wahrnahmen. Sie waren kaum eine halbe Stunde weit fortgeritten, als sie plötzlich Stimmen von den Hügeln hinter ihnen erschallen hörten, und durch die Abenddämmerung einen Haufen Leute zu Pferde erblickten, die auf sie zueilten. So wie sie näher kamen, konnten sie die Worte unterscheiden, und Julie glaubte ihren eignen Nahmen nennen zu hören. Erschrocken zweifelte sie nicht, daß eine Partey von ihres Vaters Leuten sie entdeckt hatte, und flog mit Hippolytus das Thal hinab. Die Verfolgenden hatten sie indessen beynahe eingehohlt, als sie die Mündung einer Höhle erreichten, in welche sie eilends liefen, um sich zu verstecken; Hippolytus zog sein Schwert, erwartete die Feinde, und blieb stehen, um den Eingang zu besetzen. – Nach wenig Augenblicken hörte Julie Schwerter klirren; ihr Herz zitterte für Hippolytus, und sie war im Begriffe zurück zu kehren, sich der Gewalt ihrer Feinde auszuliefern, und so die Gefahr von ihm abzuwenden, als sie die laute Stimme des Herzogs erkannte. Sie fuhr bey diesem Laute unwillkürlich zusammen, folgte den Krümmungen der Höhle, und floh in ihre innersten Behältnisse. Noch nicht lange war sie hier gewesen, als die Stimmen durch die Höhle ertönten, und näher kamen. Es war nun gewiß, daß Hippolytus überwunden war, und daß ihre Feinde sie suchten. Sie warf einen Blick unaussprechlicher Angst um sich her, und entdeckte dicht neben sich bey dem plötzlichen Schimmer einer Fackel eine niedrige, tiefe Spalte in dem Felsen. Das Licht, welches von ihren Verfolgern kam, wurde stärker: auf den Knien kroch sie durch die Spalte; denn die überhangenden Klippen ließen ihr nicht zu, anders hinein zu kommen, und nach wenig Schritten fand sie eine Thür. Die Thür ging auf, wie sie sich anlehnte, und sie sah sich nun plötzlich in einer hohen, gewölbten Höhle, die ein schwaches Licht von den Mondstrahlen erhielt, welche durch eine Öffnung oben im Felsen hinein drangen. Sie machte die Thür zu und stand still, um zu horchen. Die Stimmen wurden lauter und deutlicher, und kamen endlich so nahe, daß sie unterschied, was gesagt wurde. Vor allen andern hörte sie die Stimme des Herzogs. »Es ist unmöglich, daß sie aus der Höhle gegangen seyn kann,« sagte er; »und ich will sie nicht eher verlassen, bis ich sie gefunden habe. Durchsucht diesen Felsen zur Linken; ich will hier weiter gehen.« Diese Worte waren für Julien genug; sie floh von der Thür quer durch die Höhle, und nachdem sie lange gelaufen war, ohne zum Ende zu kommen, stand sie stille, um Athem zu schöpfen. Alles war jetzt stille, und so wie sie umher sah, fiel die düstre Einsamkeit des Orts mit allen Schrecknissen auf ihre Fantasie. Sie übersah in wildem Staunen den weiten Umfang der Höhle, und fürchtete, daß sie sich aufs neue in die Hände der Banditen gestürzt hätte, für die allein dieser Ort ein angemessenes Behältniß zu seyn schien. Nachdem sie lange gehorcht hatte, ohne weiter Stimmen zu hören, bemühte sie sich, die Thür wieder zu finden, durch die sie herein gekommen war; allein die Dunkelheit, und der weite Umfang der Höhle machte ihr Bemühen hoffnungslos und vergebens. Nachdem sie lange in der Kluft umher geirrt hatte, gab sie den Versuch auf, und suchte sich in ihr Schicksal zu ergeben, und ihre zerstörten Gedanken zu sammeln. Die Erinnerung an ihre vorige wunderbare Rettung flößte ihr Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes ein. Aber Hippolytus und Ferdinand waren beyde für sie verloren – vielleicht auf immer dahin, und die Ungewißheit ihres Schicksals gab ihrer Fantasie vollen Raum, und ihrem Kummer Stacheln. – Gegen Morgen mußte der Schmerz der Natur weichen, und Julie sank in Ruhe. Die Strahlen der Sonne, die quer durch die Öffnung des Felsens herein brachen, und einige Stellen der Höhle erleuchteten, weckten sie auf. Ihre Sinne waren noch vom Schlafe umnebelt, und sie fuhr voll Entsetzen zusammen, als sie sich in dieser Lage sah. Nach und nach drang Besinnungskraft in ihre Seele; ihr Kummer kehrte zurück, und sie erkrankte bey dem schrecklichen Rückblicke. Sie stand auf, und erneute ihr Suchen nach einem Ausgange. So unvollkommen das Licht auch war, kam es ihr doch jetzt zu Nutzen, und sie fand eine Thür, die aber nicht die war, durch welche sie den Eingang gefunden hatte. Sie war stark befestigt; indessen fand sie das Schloß und die Riegel, welche sie hielten, und brachte sie endlich auf. Sie stieß in einen dunklen Gang, welchen sie betrat. – Sie tappte eine Zeit lang an den Wänden hin, als sie wahrnahm, daß etwas den Weg hemmte. Sie entdeckte, daß eine Thür ihr Weitergehen hinderte, und suchte nach den Riegeln, die sie befestigen könnten. Sie fand diese, und durch Verzweiflung gestärkt zwang sie sie zurück. Die Thür that sich auf, und sie sah in einem kleinen Zimmer, in welches durch ein Fenster von oben ein schwaches Licht fiel, die bleiche, abgezehrte Gestalt einer Frau mit halb geschloßnen Augen in einem Lehnstuhle sitzen. Als die Frau Julien wahrnahm, starrte sie von ihrem Sitze auf, und ihr Gesicht drückte ein wildes Erstaunen aus. Ihre Züge, von Kummer zernagt, trugen noch Spuren hoher Schönheit, und eine milde Würde, die Julien eine unwillkürliche Ehrfurcht einflößte, war über ihr Wesen ausgegossen. – Sie schien reden zu wollen – häftete mit innigem, starrem Blicke ihre Augen auf Julien, stand einen Augenblick in heißem Anstaunen da, rief plötzlich: »Meine Tochter!« – und sank zu Boden. – Juliens Erstaunen ließ ihr kaum zu, der Frau beyzustehen, die fühllos auf der Erde ausgestreckt lag. Ein Gewühl wunderbarer, unreifer Ideen stürmte in ihre Seele, und sie verlor sich in Verwirrung und Zweifeln; als sie aber die Züge der Fremden, die sich jetzt wieder belebten, näher betrachtete, däuchte ihr Emiliens Ebenbild zu sehen. – Die Frau stieß einen Seufzer aus, und schlug die Augen auf; sie richtete sie auf Julien, die in sprachlosem Erstaunen über ihr hing, und indem sie mit zärtlichem innigem Ausdruck sich auf sie häfteten, füllten sie sich mit Thränen. Sie drückte Julien an ihr Herz, und einige Momente voll unaussprechlicher Bewegung folgten.

»Dank dir, ewige Gottheit!« – sagte sie; »mein Gebeth ist erhört! Es ist mir vergönnt, eins von meinen Kindern noch zu umarmen, ehe ich dahin gehe. Sage mir, wer führte dich hierher? hat der Marquis sich endlich erweichen lassen, und mir erlaubt, euch noch nochmahls zu sehen? oder hat der Tod meine unglücklichen Fesseln gelöset?« – Wahrheit dämmerte jetzt in Juliens Seele, aber so schwach, daß sie, statt sie zu erhellen, sie nur noch tiefer verwickelte. »Lebt der Marquis von Mazzini noch?« fuhr die Dame fort. – Diese Worte ließen keinen Zweifel mehr zu. Julie warf sich zu den Füßen ihrer Mutter, und in krampfhaftem Entzücken ihre Knie umklammernd, konnte sie nur durch Schluchzen antworten.

Die Marquise fragte begierig nach ihren Kindern. – »Emilie lebt,« antwortete Julie; »aber mein theurer Bruder! –«

»O! sage mir alles!« rief die Marquise mit schneller Bewegung. – Eine Erklärung erfolgte nunmehr. Als die Marquise Ferdinands Schicksal hörte, seufzte sie tief, schlug ihre Augen gen Himmel auf, und kämpfte, einen Blick frommer Ergebung anzunehmen; allein der Kampf mütterlicher Gefühle war zu sichtbar, und überwältigte beynahe ihre Kraft. – Julie gab ihr eine kurze Nachricht von allen vorher gehenden Begebenheiten und von ihrem Eingange in die Höhle, und fand zu ihrer unbeschreiblichen Verwunderung, daß sie jetzt in einer unterirdischen Wohnung war, die zu den südlichen Gebäuden des Schlosses Mazzini gehörte. – Die Marquise wollte ihre Erzählung anfangen, als sie eine Thür von oben aufschließen, und Fußtritte nahen hörten. »Flieh!« rief die Marquise; »verbirg dich wo möglich; der Marquis kommt.«

Juliens Herz erbebte bey den Worten; sie besann sich nicht einen Augenblick, sondern zog sich durch die Thür zurück, durch die sie herein gekommen war. Kaum war sie hinaus, als eine andre Thür der Zelle sich aufthat, und sie die Stimme ihres Vaters hörte. Der Ton derselben durchbebte sie mit Entsetzen, und Furcht, entdeckt zu werden, wirkte so stark auf ihre Seele, daß sie in augenblicklicher Erwartung stand, den Marquis die Thür des Gangs aufschließen zu hören, und aller Macht beraubt war, in der Höhle Schutz zu suchen. – Endlich verlieh der Marquis, der Speise gebracht hatte, die Zelle, und schloß die Thür wieder zu, und Julie schlich sich aus ihrer Zuflucht hervor. Die Marquise umarmte sie aufs neue, und weinte über ihrer Tochter. Die Erzählung ihres Leidens, die sie nun anhob, klärte jetzt gänzlich das Geheimniß auf, welches so lange über dem südlichen Flügel des Schlosses geschwebt hatte. –

»O warum,« sagte die Marquise, »muß es mir auferlegt seyn, meiner Tochter die Laster ihres Vaters zu enthüllen! Indem ich meine Leiden erzähle, offenbare ich sein Verbrechen! So viel ich im Stande bin zu urtheilen, mögen es jetzt gegen funfzehn Jahre seyn, seit ich diese schreckliche Wohnung betrat. Mein Kummer, ach, fing nicht erst hier an; er schreibt sich von einem früheren Zeitpuncte her. Es mag genug seyn, zu bemerken, daß ich die Leidenschaft, von der alle mein Unglück sich herschreibt, lange zuvor entdeckte, ehe ich diese schreckliche Wirkung ihres Einflusses erfuhr. – Sieben Jahre waren seit meiner Vermählung verflossen, als die Reize der Donna Maria de Vellorno, eines jungen Frauenzimmers von außerordentlicher Schönheit, dem Marquis eine heftige Leidenschaft einflößten. Mit tiefem, schweigendem Kummer bemerkte ich meines Gemahls grausame Kälte gegen mich, und den schnellen Fortschritt seiner Leidenschaft für eine andere. Ich untersuchte strenge mein vergangnes Betragen, und dem Himmel sey Dank, es stellte mir nur einen Rückblick auf schuldlose Handlungen dar, und ich bemühte mich, durch sanfte Unterwerfung und zärtliche Aufmerksamkeiten die Zärtlichkeit zurück zu rufen, die, ach! auf immer dahin war. Er betrachtete meine sanfte Unterwerfung als Zeichen einer knechtischen, fühllosen Seele, und meine zärtliche Aufmerksamkeit; die sein Herz nicht mehr beantwortete, erregte nur Mißfallen, und entfernte den stolzen Geist, der aussöhnen sollte, nur noch mehr! Der geheime Kummer, den diese Veränderung in mir erzeugte, verzehrte meine Lebensgeister, und nagte an meiner Gesundheit, bis endlich eine schwere Krankheit meinem Leben drohte. Mit standhaftem Auge sah ich den Tod heran nahen, und bewillkommte ihn sogar als den Übergang zur Ruhe; allein ich war bestimmt, durch neue Scenen des Elends zu schmachten. – An einem Tage, welcher der Paroxismus meiner Krankheit zu seyn schien, sank ich in einen Zustand gänzlicher Betäubung, worin ich einige Stunden blieb. Es ist unmöglich, meine Gefühle zu beschreiben, als ich bey meinem Wiedererwachen mich in diesem schrecklichen Aufenthalte erblickte. Eine Zeit lang zweifelte ich an meinen Sinnen; dann glaubte ich, daß ich diese Welt mit einer andern vertauscht hatte. – Ich wurde nicht lange in meinem Irrthume gelassen; die Erscheinung des Marquis brachte mich zu einem vollen Gefühle meiner Lage. – Ich vernahm nun, daß ich auf seinen Befehl nach dieser Höhle des Schreckens gebracht war, wo er wollte, daß ich bleiben sollte. – Meine Bitten, mein Flehen war fruchtlos; sein hartes Herz warf meine Leiden auf mich selbst zurück; und da keine Bitten ihn bewegen konnten, mir zu sagen, wo ich wäre, aus was für Ursachen ich hierher gebracht sey, so blieb ich viele Jahre lang, ohne meine Nachbarschaft bey dem Schlosse, oder die Ursache meiner Einkerkerung zu wissen. – Von diesem unglücklichen Tage an bis ganz vor kurzem sah ich den Marquis nicht mehr, sondern wurde von einem Manne verpflegt, der seit verschiedenen Jahren von seiner Güte gelebt hatte, und den wahrscheinlich Noth, mit einem fühllosen Herzen vereinigt, diesen Dienst zu übernehmen bewog. Er brachte mir zu bestimmten Zeiten gewöhnlich auf eine Woche Lebensmittel, und ich bemerkte, daß seine Besuche immer in der Nacht geschahen. – Gegen meinen Wunsch oder Erwartung that die Natur für mich, was Arzeney nicht konnte, und ich genas, als sollte ich mit Verdruß und Angst meinen grausamen Tyrannen strafen. In der Folge erfuhr ich, daß Vincent, des Marquis Befehlen gehorsam, mich in der Nacht hierher gebracht hatte, und daß mein leerer Sarg mit allem meinem Range gebührenden Pompe in einer benachbarten Kirche beygesetzt war.« – Bey dem Nahmen Vincent starrte Julie auf. Die zweydeutigen Worte, die er auf seinem Todbette aussprach, waren nun aufgeklärt; die Wolke von Geheimniß, welche so lange über den südlichen Gebäuden schwebte, brach auf ein Mahl hinweg, und jeder einzelne Umstand, der ihre vergangenen Schrecken erzeugte, stand nun völlig aufgeklärt durch der Marquise Worte vor ihr da. Die lange, gänzliche Verödung dieses Flügels; das Licht, welches durch das zerbrochene Fenster schimmerte; die Gestalt, die sie aus dem Thurme hervor gehen sah; das mitternächtliche Geräusch, das sie hörte, waren Umstände, die augenscheinlich mit dem Gefängnisse der Marquise zusammen hingen; das Geräusch war entweder durch Vincent oder durch den Marquis entstanden, wenn sie in der Marquise Kerker gingen. – Wenn sie die langen, schrecklichen Leiden ihrer Mutter erwog, die so viele Jahre in ihrer Nähe lebte, ohne daß sie ihr Elend, ja ihr Daseyn sogar wußte, so verlor sie sich in Erstaunen und Mitleid. –

»Meine Tage,« fuhr die Marquise fort, »verstrichen in todter Einförmigkeit, die mir schrecklicher war, als die bittersten Abwechselungen des Unglücks, und die gewiß meine Vernunft zerstört haben würde, hätten nicht die festen Grundsätze frommen Glaubens, die ich in früher Kindheit einsah, mithin den Stand gesetzt, dem stillen aber gewaltsamen Drucke meines Elends zu widerstehen. – Vincents unempfindliches Herz wurde endlich durch mein Unglück erreicht. Er brachte mir verschiedene Bequemlichkeiten, woran es mir bisher gefehlt hatte, und beantworten einige Fragen nach meiner Familie. Mich aus meiner Lage zu befreyen, selbst wenn er geneigt dazu gewesen wäre, stand nicht in seiner Macht, da er diese vermeinte Verletzung seiner Pflicht gewiß mit dem Leben hätte abbüßen müssen. – Jetzt erst erfuhr ich, daß ich dem Schlosse so nahe war. Ich erfuhr ebenfalls, daß der Marquis Maria de Vellorno geheirathet hatte, mit der er zu Neapel wohnte, daß aber meine Töchter zu Mazzini zurück gelassen wären. Diese letzte Nachricht erweckte in meinem Herzen Regungen warmer, mütterlicher Zärtlichkeit, und auf meinen Knien flehte ich ihn, mich sie sehen zu lassen. Ich flehte so inständig, und versprach so feyerlich, ruhig wieder in mein Gefängniß zurück zu gehen, daß endlich Klugheit dem Mitleide wich, und Vincent meine Bitte bewilligte. – Am folgenden Tage kam er in meine Zelle, und sagte mir, meine Kinder wären ins Holz gegangen, und ich könnte sie durch ein Fenster sehen, bey dem sie vorbey kommen müßten. Meine Nerven bebten bey diesen Worten, und kaum konnte ich mich nach dem so sehnlich erwünschten Orte hinschleppen. So viel ich aus den häufigen Drehungen schließen konnte – denn meine Augen waren verbunden –führte er mich durch lange, verwickelte Gänge bis in einen Saal der südlichen Gebäude. Ich folgte ihm in ein oberes Zimmer, wo das volle Licht des Tages noch ein Mahl in mein Auge strahlte, und mich beynahe überwältigte. Vincent stellte mich in ein Fenster, das nach dem Holze zuging. O! was für Augenblicke peinlicher Ungeduld waren diese, worin ich eure Ankunft erwartete! Endlich erschienet ihr: ich sah euch – ich sah meine Kinder, und durfte sie nicht in meine Arme schließen, mit ihnen reden. Du lehntest dich auf den Arm deiner Schwester, und die Fröhlichkeit der Unschuld und Jugend strahlte aus euren Gesichtern. Ach! ihr kanntet das elende Schicksal eurer Mutter nicht, die jetzt euch anstarrte. Ob ihr gleich zu weit entfernt waret, als daß meine schwache Stimme euch erreichen konnte, enthielt ich mich doch nur schwer, das Fenster aufzureißen, und mich zu erkennen zu geben. Die Erinnerung an mein feyerliches Versprechen, und daß Vincents Leben das Opfer werden würde, hielt allein mich zurück. Ich kämpfte eine Zeit lang mit Bewegungen, die für meine Natur zu gewaltsam waren, und sank endlich zu Boden. Als ich wieder zu mir selbst kam, rief ich wild nach meinen Kindern, und rennte ans Fenster. Keine Bitten von Vincent konnten eine lange Zeit über mich von dieser Stelle bringen, wo ich in thörichter Hoffnung euch wieder zu sehen wartete – Ach! ihr erschienet nicht mehr! Endlich ging ich mit einem tobenden Jammer, an welchen nur zurück zu denken ich zittre, in meine Zelle. Dieses so begierig gesuchte, so widerstrebend gewahrte Sehen ward mir nur eine Quelle neuen Elends. Statt meine Seele zu beruhigen, zerriß es sie mit rastloser Verzweiflung, die meiner stärksten Kraft widerstand. Ich raste unaufhörlich von meinen Kindern, flehte unaufhörlich sie wieder zu sehen. – Allein Vincent hatte zu viel Ursache gefunden, seine erste Nachsicht zu bereuen, um mir eine zweyte zu gewähren. Ungefähr um diese Zeit ereignete sich ein Umstand, der mir eine baldige Erlösung von meinem Elende zu versprechen schien. Über eine Woche verstrich, und Vincent erschien nicht. Mein kleiner Vorrath von Lebensmitteln war verzehrt, und ich hatte zwey Tage ohne Nahrung zugebracht, als ich wiederum die Thüren meines Gefängnisses an ihren Angeln krachen hörte. Ein unbekannter Fußtritt nahte heran, und nach wenig Minuten trat der Marquis in meine Zelle. – Mein Blut erstarrte bey seinem Anblicke, und ich schloß meine Augen, wie ich hoffte, zum lezten Mahle. Der Ton seiner Stimme rief mich zurück. Sein Gesicht war finster und mürrisch, und es schien mir, als ob er zitterte. Er sagte mir, daß Vincent nicht mehr sey, und daß er in Zukunft seinen Dienst selbst übernehmen würde. Ich enthielt mich, ihm Vorwürfe zu machen, wo Vorwürfe nur neue Leiden würden erzeugt haben, und hielt mein Flehen zurück, wo es nur das Gewissen getroffen, Rache aufgereizt haben würde. Ich verbarg ihm, daß ich etwas von seiner zweyten Vermählung wußte. Er kam gewöhnlich, wenn die Nacht am besten seine Besuche verhehlen konnte; doch waren sie unregelmäßig. Seit kurzem, warum, kann ich nicht rathen, hat er seine nächtlichen Besuche eingestellt, und kommt nur am Tage.«

»Einst, als die Mitternacht die Dunkelheit meines Gefängnisses vermehrte, und die schauerlichen Schrecken der Stunde die Stille furchtbarer zu machen schienen, goß ich mein Elend in lauten Klagen aus. O! nie werde ich vergessen, was ich empfand, als ich eine ferne Stimme auf mein Winseln antworten hörte! Ein wildes Erstaunen, wunderbar mit Hoffnung vermischt, ergriff mich, und ich würde in der ersten Bewegung auf den Ruf geantwortet haben, wenn nicht eine Erinnerung mich durchdrungen hätte, die plötzlich jede halb aufsteigende Regung von Freude erstickte. Ich erinnerte mich, daß der Marquis schreckliche Rache an mir auszuüben geschworen hatte, wenn ich je durch irgend ein Mittel den Ort meines verborgenen Aufenthalts kund zu machen suchte; und obgleich das Leben mir längst zur Bürde gewesen war, wagte ich's doch nicht, mich einer gewissen Ermordung auszusetzen Auch wußte ich wohl, daß niemand, der auch meine Lage entdeckte, meine Befreyung bewerkstelligen könnte; ich hatte keine Verwandten, die mich durch Gewalt befreyen konnten, und der Marquis hat, wie du weißt, in seinem Gebiethe nicht nur Macht zu verhaften, sondern auch Recht über Leben und Tod. Ich enthielt mich also auf den Ruf zu antworten, ob ich gleich meine Klagen nicht ganz unterdrücken konnte. Lange verwirrte ich mich mit Nachsinnen, diesen seltsamen Umstand zu erklären, dessen Ursache ich noch bis diesen Augenblick nicht weiß.«

Da Julie sich erinnerte, daß Ferdinand in einem Kerker des Schlosses verhaftet gewesen war, so kam sie sogleich auf den Gedanken, daß sein und der Marquise Gefängniß vielleicht nicht weit von einander entfernt wären, und sie stand nicht an zu glauben, daß ihre Mutter Ferdinands Stimme gehört hatte. Sie vermuthete richtig; es war wirklich die Marquise, deren Winseln vormahls Ferdinand, so wohl in der marmornen Halle in den südlichen Gebäuden, als in seinem Kerker so sehr beunruhigt hatte. – Als Julie ihrer Mutter ihre Vermuthung mittheilte, und die Marquise die Stimme ihres Sohns gehört zu haben glaubte, gerieth sie in die äußerste Bewegung, und es verstrich einige Zeit, ehe sie ihre Erzählung wieder fortsetzen konnte. »Kurz darauf,« fuhr die Marquise fort, »brachte mir der Marquis auf vierzehn Tage zu essen, und sagte mir, daß ich ihn wahrscheinlich vor Verlauf dieser Zeit nicht wieder sehen würde. Du hast mir jetzt durch deine Erzählung der Begebenheiten in der St. Augustinerabtey die Ursache dieser Abwesenheit erklärt. Wie kann ich je die Verpflichtungen, welche ich meiner theuren, unscheinbaren Freundinn Menon schuldig bin, genug anerkennen? O! daß es mir vergönnt seyn möchte, ihr meine Dankbarkeit zu beweisen!«

Julie hörte mit schweigendem Erstaunen auf die Erzählung ihrer Mutter, und bezeugte ihr alle Theilnahme, welche der Kummer nur fordern kann. »Gewiß!« rief sie, hat die Vorsehung, auf die Sie so fest vertrauten, und deren Rathschlüsse Sie mit so edler Festigkeit erduldeten, mich durch ein Labyrinth von Unfällen nach diesem Orte geführt, um Sie zu befreyen. O! lassen Sie uns eilen, aus dieser schrecklichen Wohnung zu fliehen! Lassen Sie uns durch die Höhle, durch welche ich herein kam, zu entwischen suchen! – Sie hielt inne, und harrte in ängstlicher Erwartung auf eine Antwort.

»Wohin kann ich fliehen?« sagte tief seufzend die Marquise. – Diese Frage, mit dem Ausdrucke trostloser Verzweiflung gesprochen, rührte Julien bis zu Thränen, und sie saß lange schweigend da. –

»Der Marquis,« fuhr Julie fort, »würde nicht wissen, wo er Sie suchen sollte, und wenn er Sie außerhalb seinem Gebiethe fände, würde er's nicht wagen, Anspruch auf Sie zu machen. Ein Kloster kann Ihnen für jetzt eine sichre Zuflucht gewähren; und was Ihnen auch in der Folge zustößt, kann gewiß nicht schrecklicher seyn, als Ihr jetziges Geschick.« – Die Marquise gestand diese Wahrheit zu, doch setzten ihre von langem Kummer und Verhaftung gebeugten Lebensgeister sie außer Stand, einen schnellen Entschluß zu fassen, und eine gewisse kalte Verzweiflung in ihrem Blicke mahlte nur zu deutlich den Zustand ihrer Gefühle. Julie vermuthete gewiß, daß die Höhle, durch welche sie gegangen war, unter der Kette von Bergen hinliefe, denen gegen über das Schloß Mazzini stand; die ringsum aufsteigenden Hügel bildeten einen Schirm, der ihren Ausgang aus der Mündung der Höhle, und ihre Flucht vor allen im Schlosse gänzlich verbergen mußte. Sie stellte ihrer Mutter diese Umstände vor, und drang so nachdrücklich darauf, daß die Betäubung der Verzweiflung der Hoffnung Raum gab, und die Marquise sich der Führung ihrer Tochter anvertraute. »O lassen Sie mich Sie zu Licht und Leben führen!« rief Julie mit Feuer; »gewiß könnte der Himmel keinen größern Segen auf mich herab strömen, als mich zur Befreyerinn meiner Mutter zu machen!« – Sie knieten beyde nieder, und mit der rührenden Beredtsamkeit, welche wahre Frömmigkeit einhaucht, und mit dem Vertrauen,welches in so schwerem Elende sie unterstützt hatte, übergab die Marquise sich dem Schutze Gottes, und erflehte sein Beystand zu ihrem Unternehmen. – Sie standen auf; als sie aber weiter über ihren Plan zu Rathe gingen, erinnerte sich Julie, daß sie ganz von Gelde entblößt war, weil die Banditen ihr alles geraubt hatten. Der plötzliche Schreck, den diese Erinnerung erzeugte, überwältigte beynahe ihre Lebensgeister; nie bis diesen Augenblick, hatte sie den Werth des Geldes gekannt. Doch überwand sie ihre Gefühle, und beschloß, der Marquise diesen Umstand zu verhehlen, indem sie die Gefahr eines jeden Übels, das von außen ihr zustoßen könnte, dem gewissen Elende dieses schrecklichen Kerkers vorzog. – Sie packten die Lebensmittel, die der Marquis ihnen gebracht hatte, ein, verließen die Zelle, und betraten den dunklen Gang, in welchem sie mit vorsichtigen Schritten fortgingen. Julie ging voraus nach der Thür der Höhle; aber wer kann ihr Elend mahlen, als sie sie verschlossen fand! Alle ihre Versuche, sie aufzureißen, waren vergebens. Die Thür, welche hinter ihr zugesprungen war, wurde durch ein Federschloß gehalten, und konnte von dieser Seite nur durch einen Schlüssel geöffnet werden. Als die Marquise diesen Umstand vernahm, wendete sie mit einer ruhigen Ergebung, welche sie über die Menschheit empor zu heben schien, sich zum Himmel, und ging in ihre Zelle zurück. Hier hing Julie ohne Zurückhaltung und ohne Bedenken dem Übermaße ihres Schmerzens nach. Die Marquise weinte für sie. »Nicht um meinetwillen,« sagte sie, »härme ich mich; ich bin zu lange gegen Unglück abgehärtet, um unter seinem Drucke zu erliegen. Diese Vereitlung ist genau erwogen, vielleicht klein; ich hatte keine sichre Zuflucht vor der Widerwärtigkeit; und hätte ich sie auch gefunden, so würden nur wenige Jahre des Leidens mir erspart seyn. Für dich, meine Julie, die du so bitterlich mein Schicksal beklagst, die du, der Gewalt deines Vaters ausgeliefert, ein Schlachtopfer des Herzogs werden wirst, für dich schwillt mein Herz.« Julie konnte keine andere Antwort geben, als daß sie die Hand, die ihr dargereicht ward, an ihre Lippen drückte. Sie fühlte alles Elend ihrer Lage, und ihre ängstliche Ungewißheit um Hippolytus und Ferdinanden machte keinen geringen Theil ihres Kummers aus. – »Wenn du,« fuhr die Marquise fort, »ein Gefängniß mit deiner Mutter einer Verbindung mit dem Herzoge vorziehst, so kannst du dich immer in dem Gange, den wir eben verlassen haben, verbergen, und den Vorrath, der mir gebracht wird, theilen.«

»O! reden Sie nicht, meine Mutter, von einer Verbindung mit dem Herzoge! gewiß ist jedes Schicksal dem vorzuziehen. Allein wenn ich erwäge, daß ich durch mein Hierbleiben nur zu den Leiden verdammt bin, welche meine Mutter so lange erduldete, und daß diese Verhaftung mich in den Stand setzen wird, die Bitterkeit ihres Leidens durch zärtliche Theilnahme zu lindern; so würde ich mit Freuden meiner gegenwärtigen Lage mich unterwerfen, wenn auch eine Verbindung mit dem Herzoge mir weniger gehässig schiene.«

»Theures Mädchen!« rief die Marquise aus, und drückte Julien an ihren Busen; »die Leiden, welche du beklagst, sind durch diesen Beweis deiner Güte und Liebe beynahe vergolten! – Ach! warum mußte ich einer solchen Tochter so lange beraubt seyn?«

Julie bestrebte sich nunmehr, die Stärke ihrer Mutter nachzuahmen, und verbarg zärtlich ihre Angst um Ferdinanden und Hippolytus, deren Idee stets um ihre Einbildungskraft schwebte. Wenn der Marquis Speise in die Zelle brachte, zog sie sich immer in den Gang, der nach der Höhle führte, zurück, und entging seiner Bemerkung.


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