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Das Schloß Mazzini war noch immer der Schauplatz der Zwietracht und des Jammers. Des Marquis Befremdung und Ungeduld stieg von Tage zu Tage durch die verlängerte Abwesenheit des Herzogs; er schickte Bediente in den Wald von Marentino, um nach der Ursache dieser Verzögerung zu forschen. Sie kamen mit der Nachricht zurück, daß weder Julie, noch der Herzog, noch irgend jemand von seinem Gefolge daselbst wäre. Er schloß also, daß seine Tochter von der Annäherung des Herzogs Nachricht bekommen, und die Hütte verlassen hätte, und daß der Herzog noch im Nachsehen begriffen sey. Gegen Ferdinanden, der noch immer in seinem Kerker schmachtete, blieb seine Strenge ungemildert. Er fürchtete, daß sein Sohn, wenn er befreyet wäre, bald Juliens Aufenthalt ausspüren, und sie durch Rath und Beystand in ihrem Ungehorsame bestärken würde. – Ferdinand brütete in seinem stillen, einsamen Kerker in finstern, unwirksamen Klagen über das vergangenen Unglück. Das Bild seines Hippolytus, seines gemordeten Hippolytus stieg rastlos vor seiner Einbildungskraft auf, und überwältigte die stärksten Versuche seiner Kraft. Auch Julien sah er, seine geliebte, unbeschützte, unbefreundete Schwester, die in eben dem Augenblicke, wo er sie beklagte, unter den schrecklichsten Leiden der Menschheit erlag. Die Luftplane künftiger Glückseligkeit, die er einst aus der Vereinigung zweyer ihm so theuren Wesen sich schuf – die frohen Erscheinungen verschwundener Wonne schwirrten vor seiner Fantasie, und der Glanz, den sie zurückstrahlten, erhöhte nur durch den Contrast, die düstre Finsterniß seiner jetzigen Aussichten. Dennoch fand er neuen Stoff zum Erstaunen, der oft seine Gedanken von dem gewohnten Gegenstande abzog, und eine weniger schmerzvolle, obwohl kaum weniger mächtige Empfindung an die Stelle desselben setzte. – Eines Nachts, als er da lag, in traurigem Tiefsinne an der Vergangenheit wiederkäuend, wurde die Stille des Orts plötzlich durch einen tiefen, schrecklichen Laut unterbrochen. In hohlen Seufzern kehrte er von Zeit zu Zeit wieder, und schien aus einer schmerzlich gefolterten Brust zu kommen. Furcht wirkte so mächtig auf seine Seele, daß er ungewiß war, ob diese Töne von innen oder außen aufstiegen. Er sah rings in seinem Kerker umher, konnte aber durch die undurchdringliche Finsterniß keinen Gegenstand unterscheiden. So wie er in tiefem Erstaunen horchte, erschollen die Töne in noch dumpferm Geheule wieder. Grausen ergriff ihn, und umwölkte seine Vernunft; er starrte von seinem Lager auf, und entschlossen, heraus zu bringen, ob jemand außer ihm im Kerker sey, tappte er mit ausgestreckten Armen längs den Wänden hin. Der Ort war leer; als er aber an einen gewissen Fleck kam, drang der Schall deutlicher in seine Ohren. Er rief laut, und fragte: wer da sey – erhielt aber keine Antwort. Bald nachher ward alles stille, und nachdem er lange gehorcht hatte, ohne die Töne wieder zu hören, legte er sich zum Schlafen nieder. – Am folgenden Morgen erzählte er dem Mann, der ihm zu essen brachte, was er gehört hatte, und fragte nach der Ursache des Geräusches. Der Bediente schien sehr zu erschrecken, konnte ihm aber keine Nachricht geben, welche nur das mindeste Licht auf die Sache warf, bis er endlich erwähnte, daß der Kerker nahe bey den südlichen Gebäuden läge. Die schreckliche Erzählung, die ihm der Marquis anvertrauet hatte, fiel Ferdinanden sogleich in den Sinn, und er stand nicht an zu glauben, daß das Gewinsel, das er gehört hatte, von dem rastlosen Geiste des ermordeten Della Campo sey. Schauder durchbebte seine Nerven; allein er erinnerte sich an seinen Eid und schwieg. Doch unterlag sein Muth dem Gedanken, noch eine Nacht allein in diesem Gefängnisse hinzubringen, wo Entsetzen ihn tödten könnte, wenn der Rache dürstende Geist des Ermordeten erschiene. – Ferdinands Seele war über den gewöhnlichen Wahn des Aberglaubens weit erhaben; allein hier zeigten sich solche zusammen treffende Umstände, daß sie selbst den Unglauben zum Weichen zu zwingen schienen. Er selbst hatte seltsame und schreckliche Töne in den südlichen Gebäuden gehört – er vernahm von seinem Vater ein schreckliches Geheimniß, das sich darauf bezog; ein Geheimniß, woran seine Ehre, ja sogar sein Leben gebunden war. Auch hatte sein Vater gestanden, daß er selbst Erscheinungen gesehen hätte, an die er sich nicht ohne Entsetzen erinnern könnte, und die ihn bewogen hätten, diesen Flügel des Schlosses zu verlassen. Alle diese Erinnerungen stellten Ferdinanden eine Kette von Beweisen dar, die zu stark war, um ihr zu widerstehen, und er konnte nicht zweifeln, daß es für ein Mahl dem Geiste des Todten erlaubt worden sey, die Erde zu besuchen, und Rache auf die Abkommen des Mörders herab zu rufen. – Diese Überzeugung schuf in ihm ein Entsetzen, welches keine Furcht vor einer sterblichen Macht erregt haben könnte, und er beschloß, wo möglich, Petern zu bewegen, die Stunden der Mitternacht mit ihm in seinem Kerker zuzubringen. Peters strenge Treue gab Ferdinands Überredungen nach, obgleich keine Bestechung ihn reizen konnte, sich dadurch, daß er ihn entwischen ließe, der Rache des Marquis auszusetzen.
Ferdinand brachte den Tag in zögernder, ängstlicher Erwartung hin, und die Zurückkunft der Nacht führte Petern in den Kerker. Seine Gefälligkeit setzte ihn einer Gefahr aus, die er nicht vorher gesehen hatte; wie leicht hätte sein Gefangener, da er mit ihm allein im Kerker saß, ihn überwältigen, die Flucht ergreifen, und sein Leben der Wuth des Marquis Preis geben können! Ferdinands Menschlichkeit erhielt ihn; er nahm zwar sogleich seinen Vortheil wahr, verachtete es aber, einen unschuldigen Mann ins Verderben zu stürzen, und verbannte den Gedanken aus seinem Herzen. – Peter, dessen Freundschaft stärker war, als sein Muth, zitterte vor Angst, als die Stunde heran kam, in welcher in der vorhergehenden Nacht das Gewinsel sich hören ließ. Er erzählte Ferdinanden eine Menge schrecklicher Umstände, die nur in der mehrsten Einbildungskraft seiner Kameraden ein Daseyn hatten, aber als Thatsachen von ihnen verfochten wurden. Unter dem übrigen ermangelte er nicht, des Lichtes und der Gestalt, die in der Nacht, als Julie entfliehen wollte, aus dem südlichen Thurme hervorgegangen war, zu erwähnen; ein Umstand, den er mit unzähligen Zusätzen der Furcht und Verwunderung verschönerte. Er schloß damit, die allgemeine Bestürzung, die dadurch verursacht sey, und das nachherige Betragen des Marquis zu beschreiben, der die Furcht seiner Leute verlachte, und sich doch herab ließ, sie durch eine förmliche Besichtigung der Gebäude, aus welchen ihr Schrecken entsprang, zu beruhigen. Er erzählte den Umstand mit der Thür, die nicht nachgeben wollte, die Töne, welche von innen aufstiegen, und die Entdeckung des eingefallenen Daches, erklärte aber, daß weder er, noch irgend einer von seinen Kameraden glauben könnte, daß das Getöse, oder die Versperrung des Wegs daher entstanden sey; »denn, gnädiger Herr!« fuhr er fort –»es schien, als wenn die Thür blos an einer Stelle gehalten würde, und das Getös – o mein Gott! ich werde nie vergessen, was für ein Getös das war – tausend Mahl ärger, als was Steine machen können.« – Ferdinand hörte mit stiller Verwunderung dieser Erzählung zu; eine Verwunderung, die nicht das Abenteuer selbst, sondern die Kühnheit und anscheinende Unbesonnenheit des Marquis in ihm erregte, der auf solche Art den schrecklichen Ort, den er selbst aus Erfahrung die Wohnung eines gekränkten Geistes zu seyn wußte, der Besichtigung seiner Leute Preis gegeben hatte; ein Ort, den er bisher sorgsam vor dem menschlichen Auge und menschlicher Neugier verbarg, und den er seit so vielen Jahren selbst nicht zu betreten gewagt hatte. – Peter fuhr weiter fort, ward aber alsobald durch ein dumpfes Winseln, das aus der Erde herauf zu steigen schien, unterbrochen: »Heilige Jungfrau!« rief er aus. Ferdinand horchte in schauderlicher Erwartung. Länger und gräßlicher ward das Geheul wiederhohlt, als Peter von seinem Sitze aufsprang, die Laterne aufraffte, und aus dem Kerker sprang.
Ferdinand, der in gänzlicher Finsterniß zurück blieb, folgte ihm zur Thür, die der erschrockne Peter sich nicht Zeit genommen hatte, zu verschließen, die aber von selbst eingesprungen war, und durch ein Schloß gehalten zu werden schien, das nur von außen geöffnet werden konnte. – Ferdinands Empfindungen, als er sich so gezwungen sah, im Kerker zurück zu bleiben, sind unbeschreiblich. Die Schrecken der Nacht, was sie auch seyn mochten, mußte er allein ertragen; nach und nach erlangte er den Muth der Verzweiflung. Beynahe eine Stunde lang ließen sich die Töne von Zeit zu Zeit wieder hören; dann aber kehrte Stille zurück, und er blieb die ganze Nacht über ungestört. Keine Erscheinung schreckte Ferdinanden, und endlich sank er, von Angst und Wachen ermattet, in Schlummer.
Am folgenden Morgen kehrte Peter in den Kerker zurück, kaum wissend, was er erwarten sollte; dennoch aber etwas sehr Seltsames, vielleicht die Ermordung, vielleicht die übernatürliche Verschwindung seines jungen Herrn erwartend. Mit diesen wilden Schreckbildern erfüllt, wagte er sich nicht allein hinzugehen, sondern überredete einige von den Bedienten, denen er seine schreckliche Geschichte erzählt hatte, ihn bis zur Thür zu begleiten. Unter Weges erst fiel ihm ein, daß er sie zu verschließen vergessen hatte, und er fing nun an zu fürchten, daß sein Gefangener ohne Wunder entwischt sey. Er eilte zu der Thür, und erstaunte aufs höchste, sie verschlossen zu finden. Er hielt dieses für das Werk einer übernatürlichen Macht, als auf sein lautes Rufen eine Stimme von innen ihm antwortete. Seine unsinnige Furcht ließ ihm nicht zu, Ferdinands Stimme zu erkennen; auch ließ er sich nicht träumen, daß Ferdinand unterlassen haben könnte, zu entwischen; er schrieb also die Stimme dem Wesen zu, welches er in der vorher gehenden Nacht gehört hatte, sprang von der Thür zurück, und floh mit seinen Kameraden in die große Halle. Hier rief der Lärm, den ihr plötzliches Eindringen verursachte, eine Menge Menschen zusammen, worunter sich auch der Marquis befand, der alsobald von der Ursache des Aufruhrs und von der langen Geschichte der vorigen Nacht unterrichtet wurde. Bey dieser Nachricht nahm der Marquis einen sehr finstern Blick an, verwies Petern seine Unbesonnenheit aufs strengste, und warf zugleich den andern Bedienten ihr unpflichtmäßiges Betragen vor, daß sie so seine Ruhe störten. Er erinnerte sie, wie gütig er sich herab gelassen hatte, ihre Furcht zu zerstreuen, und an den Ausgang der Untersuchung, und versicherte sie dann, da Nachsicht nur ihre Unverschämtheit aufgemuntert hätte, würde er in Zukunft strenger verfahren, und daß der erste, der ihn wieder mit diesen lächerlichen Besorgnissen beunruhigte, oder den Frieden des Schlosses durch Verbreitung solcher einfältigen Mährchen zu stören wagte, aufs strengste gestraft, und aus seinem Gebiethe verbannt werden sollte. Sie erschraken bey dieser Drohung, und schwiegen. »Bringt mir eine Fackel,« sagte der Marquis, »und leuchtet mir in den Kerker! Ich will noch ein Mahl mich herab lassen, euch zu widerlegen.« – Sie gehorchten, und stiegen mit dem Marquis herab, der so, wie er vor den Kerker kam, die Thür aufriß, und den erstaunten Augen seiner Begleiter – Ferdinanden zeigte. – Ferdinand starrte befremdet auf, als er seinen Vater in solcher Begleitung herein treten sah. Der Marquis schoß einen strengen Blick auf ihn, den er vollkommen verstand. –»Nun,« rief er, und wendete sich zu seinen Leuten; »was seht ihr jetzt?– Meinen Sohn, den ich selbst hierher brachte, und dessen Stimme, als sie eurem Rufen antwortete, ihr in unerhörte Töne umgeschaffen habt. – Sprich, Ferdinand, und bestätige was ich sage!« – Ferdinand that's. »Was für ein furchtbarer Geist erschien dir in der vorigen Nacht?« fuhr der Marquis fort, und sah ihn fest an. »Ergetze diese Burschen mit einer Beschreibung desselben; denn sie können nicht ohne etwas Wunderbares leben.«
»Ich sah keinen Geist, gnädiger Herr!« antwortete Ferdinand, der des Marquis Betragen nur zu wohl verstand.
»Es ist gut,« rief der Marquis, »und dieß ist das letzte Mahl gewesen,« indem er sich zu seinen Bedienten wendete, »daß eure Thorheit so gelinde behandelt worden.« Er redete nicht weiter von der Sache, und enthielt sich, Ferdinanden in Gegenwart der Bedienten nur eine Frage über die nächtlichen Töne, welche Peter beschrieben hatte, vorzulegen. Er verließ den Kerker, indem er feste Blicke voll Zorn und Argwohn auf Ferdinanden schoß. Er fürchtete, daß sein Sohn sich durch sein Schrecken hätte verleiten lassen, Petern einen Theil des ihm anvertrauten Geheimnisses zu verrathen, und suchte schlau mit anscheinender Gleichgültigkeit Petern über die Umstände der vorher gehenden Nacht auszuforschen; allein seine Antwort sprach Ferdinanden ehrenvoll von aller Unbesonnenheit frey, und befreyte den Marquis von seinen quälenden Besorgnissen.
Die folgende Nacht verstrich ruhig; kein Schall, keine Erscheinung störte Ferdinands Frieden. Den andern Tag aber hielt es der Marquis für zuträglich, die Härte seiner Leiden zu mildern, und ließ ihn aus seinem Kerker in ein Zimmer bringen, das zwar mit starken Gittern versehen, aber doch dem Lichte des Tages zugänglich war. –Indessen ereignete sich ein Umstand, der die allgemeine Zwietracht vermehrte, und Emilien mit dem Verluste ihres letzten Trostes bedrohte – der Rath, die zärtliche Theilnahme der Madame de Menon. Die Marquise, deren Leidenschaft für den Grafen Vereza endlich der Abwesenheit und dem Drange der gegenwärtigen Umstände wich, beglückte jetzt einen jungen, italiänischen Cavalier, der zum Besuche auf dem Schlosse war, und zu viel von dem Geiste der Galanterie besaß, um eine Dame vergebens schmachten zu lassen, mit ihrem Lächeln. Der Marquis, dessen Seele mit andern Leidenschaften erfüllt war, bemerkte das sträfliche Betragen seiner Gemahlinn nicht, die zu allen Zeiten Verschlagenheit genug besaß, ihre Laster unter dem Anstriche von Tugend und unschuldiger Freyheit zu verbergen. Das Schicksal wollte, daß Madame diese Liebschaft entdeckte. Eines Tages, da sie im Sprachzimmer ein Buch hatte liegen lassen, ging sie hinunter, um es zu suchen. So wie sie die Thür öffnete, hörte sie den Cavalier in sehr leidenschaftlichen Ausrufungen, und als sie herein trat, sah sie ihn in großer Bestürzung von den Füßen der Marquise aufstehen, die einen bittern Blick auf Madame schoß, und von ihrem Stuhle ebenfalls aufstand. Madame, betroffen über das, was sie gesehen hatte, zog sich schnell zurück, und begrub in ihren Busen ein Geheimniß, welches unfehlbar des Marquis Ruhe vergiftet haben müßte.
Die Marquise, welche von dem Edelmuthe, der Madame de Menons Betragen lenkte, keinen Begriff hatte, zweifelte nicht, daß sie den Augenblick der Wiedervergeltung ergreifen, und ihr Betragen an dem Orte kund machen würde, wo sie es bekannt zu wissen am meisten fürchtete. Das Bewußtseyn der Schuld quälte sie mit unaufhörlicher Furcht, verrathen zu werden, und von diesem Augenblicke an sann sie nur darauf, die Person, welcher ihr Charakter bekannt geworden war, aus dem Schlosse zu treiben. Dieses ward ihr nicht schwer. Madame's feines Gefühl ließ sie schnell ein Betragen, daß der natürlichen Würde ihres Charakters so wenig gemäß war, fühlen, und sich demselben entziehen. Sie setzte sich vor, das Schloß zu verlassen; weil sie es aber verachtete, selbst einen siegenden Feind zu beschämen, so beschloß sie, über einen Punct zu schweigen, welcher augenblicklich den Triumph von ihrer Feindin ab, und auf sie gebracht haben würde. Sie enthielt sich, dem Marquis auf sein inständiges Fragen nach der Ursache ihres Entschlusses die Wahrheit Im Original an dieser Stelle ein Setzfehler: »wahre« statt »Wahrheit«. – Anm.d.Hrsg. zu sagen, und ließ ihn in Ungewißheit und Kränkung zurück.
Emilien verursachte dieser Vorsatz einen Schmerz, welcher beynahe Madame's Entschlossenheit überwältigte. Ihre Thränen und Bitten sprachen mit der kunstlosen Stärke des Kummers. Sie verlor in Madame ihre einzige Freundinn, und wußte ihren Werth zu gut zu schätzen, um sie ohne die tiefste Trauer abreisen zu sehen. Fortdauernde Zärtlichkeit für das Andenken ihrer Mutter hatte Madame bewegt, die Erziehung ihrer Töchter zu übernehmen, deren gefällige Gemüthsart gleichsam eine erbliche Zuneigung auf sie fortgepflanzt hatte. Nur Achtung und Rücksicht für Emilien und Julien hatten sie seit einiger Zeit auf dem Schlosse zurück gehalten; jetzt aber überwältigten andere zu starke Betrachtungen diese Gefühle. – Weil sie nur ein kleines Einkommen besaß, so war es ihr Plan, sich nach ihrem Geburtsorte, der in einem entfernten Theile der Insel lag, zurück zu ziehen, und daselbst in einem Kloster ihre Wohnung aufzuschlagen. – Emilie sah mit wachsendem Kummer die Zeit von Madame's Abreise heran nahen. Mit einem gegenseitigen Schmerz, der ihrem Herzen Ehre machte, verließen sie einander. Als nun auch ihre letzte Freundinn dahin war, wanderte die trostlose Emilie mit einer schmerzhaften Sehnsucht, welche nur diejenigen sich denken können, die einst eine ähnliche Lage erfuhren, durch die verlaßnen Zimmer, wo sie mit Julien zu sprechen, Trost und Theilnahme von ihrer mütterlichen Freundinn zu empfangen gewohnt war. Auch Madame setzte ihre Reise mit beklemmtem Herzen fort. Getrennt von den Gegenständen ihrer zärtlichsten Liebe, von den Scenen und Beschäftigungen, an welche lange Gewohnheit sie gekettet hatte, schien sie keine Theilnahme, keinen Bewegungsgrund zur Thätigkeit mehr in sich zu fühlen. Die Welt schien ihr eine weite, dunkle Wüste, wo kein Herz freundlich sie bewillkommte, kein Gesicht bey ihrer Annäherung sich in Lächeln erheiterte. Seit vielen Jahren hatte sie Calini verlassen, und in der Zwischenzeit hatte der Tod die wenigen Freunde, die sie dort ließ, hinweg gerafft. Die Zukunft both ihr nur eine finstre Aussicht dar; nur der Rückblick auf Jahre, die in ehrenvoller Thätigkeit, in strenger Rechtschaffenheit verlebt wurden, strahlte Heiterkeit und einen Schimmer von Hoffnung in ihr Herz. – Nur vermochte ihr äußerstes Bestreben nicht, die Angst zu unterdrücken, womit Juliens ungewisses Schicksal sie erfüllte. Wilde, schreckliche Bilder stiegen vor ihrer Einbildungskraft auf. Fantasie zeichnete die Scene; sie vertiefte die Schatten, und der schreckliche Anblick der Gegenstände, welche sie darstellte, ward noch durch die Dunkelheit, worein sie gehüllt waren, erhöht.