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III.

Der von Julien so lange und ungeduldig ersehnte Tag des Festes brach endlich an. Der ganze Adel aus der Nachbarschaft war dazu eingeladen, und die Thore des Schlosses wurden zu einem allgemeinen Freudenfeste geöffnet. Ein prächtiges Gastmahl, das aus den leckersten und kostbarsten Gerichten bestand, wurde in den Sälen aufgetragen. Sanfte Musik flötete längs den gewölbten Decken; die Wände waren mit Verzierungen behangen, und die Hand eines Magikers schien dieses vormahls düstere Gebäude plötzlich in einen Feenpallast umgewandelt zu haben. Nur der Marquis saß oft mit abwesender Seele mitten unter allem Genuß, und die Beklemmung seines Herzens war mit sichtlichen Zügen auf sein Gesicht geprägt. – Gegen Abend war großer Ball. Die Marquise, die sich noch immer durch Schönheit und durch einnehmendes Betragen auszeichnete, erschien in glänzendem Putze. Ihr Haar war reich mit Juwelen geschmückt, aber so geordnet, daß es ihrer ganzen Gestalt ein wollüstiges Ansehen gab. So bewußt sie sich auch ihrer Reize war, sah sie doch mit neidischem Auge Emiliens und Juliens Schönheit, und mußte heimlich eingestehen, daß die einfache Eleganz ihres Anzugs bezaubernder war, als alle studierte Kunst eines glänzenden Putzes. Sie waren beyde gleich in leichte sicilianische Tracht gekleidet, und nur einige Perlenschnuren hielten die üppige Fülle ihres fliegenden Haares zurück. – Ferdinand und Donna Mathilda Constanza eröffneten den Ball. Emilie tanzte mit dem jungen Marquis della Fazelli, und benahm sich mit der Ungezwungenheit und Würde, die ihr so natürlich war. Julie empfand eine gemischte Regung von Furcht und Vergnügen, als der Graf von Vereza, den sie für eben den Cavalier erkannte, welchen sie vom Fenster ab bemerkt hatte, sie zum Tanze führte. Die Grazie ihrer Bewegungen, das schöne Ebenmaß ihrer Gestalt erregten in der Gesellschaft ein leises Murmeln des Beyfalls, und die sanfte Röthe, die sich auf ihre Wangen schlich, gab ihren Reizen noch einen Zusatz mehr. Als aber die Musik sich veränderte, und sie nach dem sanften sicilianischen Tactmaße tanzte, verwandelte die schwebende Anmuth ihrer Bewegung, der süße, zärtliche Ausdruck auf ihrem Gesichte, die Aufmerksamkeit in bewundrungsvolles Schweigen, welches noch fortdauerte, als längst schon der Tanz aufgehört hatte. Die Marquise bemerkte die allgemeine Bewunderung mit erkünsteltem Vergnügen und geheimem Grimm. Sie hatte die peinlichste Angst ausgestanden, als der Graf von Vereza Julien zur Tänzerinn wählte, und verfolgte ihn den ganzen Abend hindurch mit dem forschenden Auge der Eifersucht. Ihr Busen, der vorher nur von Liebe glühte, ward jetzt von andern heftigern und zerstörendern Leidenschaften zerwühlt. Unruhig irrten ihre Gedanken umher. Die Scene vor ihr konnte ihre Seele nicht beschäftigen, und es erforderte alle ihre Kunst, ein ruhiges Äußeres zu zeigen. Sie sah, oder glaubte einen leidenschaftlichen Blick bey dem Grafen zu sehen, so oft er Julie anredete, und dieser Wahn nagte mit wüthender Eifersucht an ihrem Herzen. – Um zwölf wurden die Schloßthore geöffnet, und die Gesellschaft wanderte hinaus in das prächtig erleuchtete Gehölz. Schwibbogen von Licht liefen die langen Alleen hinab, die sich mit Pyramiden von Lampen endigten, welche dem Auge eine glänzende Flammensäule darstellten. In unregelmäßiger Entfernung waren Gebäude errichtet, mit bunten Lampen behangen, die in mannigfaltigen, fantastischen Formen geordnet waren. Unter den Bäumen standen Tische mit Erfrischungen. Die Musikanten hatten sich an den entlegensten, belaubtesten Plätzen gelagert, um sich dem Auge zu verbergen, und die Einbildungskraft zu täuschen. Der ganze Schauplatz schien bezaubert zu seyn; das Auge sah nichts als Schönheit und romantischen Glanz; das Ohr fing nur Töne der Freude und Harmonie auf. Der jüngere Theil der Gesellschaft formirte Gruppen, die bald durch die Waldung hervor schlüpften, bald wieder verschwanden. Julie schien die Zauberköniginn des Orts zu seyn. Ihr Herz hüpfte vor Freude, und goß einen Ausdruck reinen, wohlgefälligen Entzückens über ihre Züge. Ein edles, freymüthiges und hohes Gefühl funkelte aus ihren Augen, und beseelte ihr Wesen. Ihr Busen glühte von wohlwollender Zärtlichkeit, und sie schien allem, was um sie war, eine eben so reine Glückseligkeit, als sie selbst genoß, mittheilen zu wollen. Wohin sie nur ging, folgte Bewunderung ihren Schritten: Ferdinand war eben so froh, als die Scene rings um ihn. Emilie war vergnügt, und der Marquis schien seine Melancholie im Schlosse zurück gelassen zu haben. Die Marquise allein war elend. Sie speiste mit einer ausgewählten Gesellschaft in einem Pavillon am Seeufer, den man mit besonderer Eleganz ausgeschmückt hatte. Er war mit weißer Seide behangen, die mit Blumenkränzen aufgebunden und mit reichen goldenen Fransen besetzt war. Die Sopha's waren von eben dem Stoff, und abwechselnde Kränze von Rosen und Lampen umwanden die Säulen. Eine Reihe kleiner Lampen um das Gesimse formirte einen Lichtsaum rings um die Decke, der nebst den andern unzähligen Lichtern in einer glänzenden Flamme aus den großen Spiegeln, die das Zimmer schmückten, wiederstrahlte. Der Graf Muriani war mit von der Gesellschaft. Er becomplimentirte die Marquise über die Schönheit ihrer Töchter, und nachdem er scherzhaft die Gefangenen, welche ihre Reize fesseln würden, beklagt hatte, kam er auf den Grafen von Vereza.

»Gewiß,« sagte er, »verdient dieser junge Mann am besten unter allen Donna Julie zu besitzen. Als sie tanzten, dünkte mich, ich sähe ein vollkommenes Ebenbild der Schönheit beyder Geschlechter, und wenn ich nicht sehr irre, so haben sie einander gegenseitige Bewunderung eingeflößt.«

Die Marquise suchte ihren Unmuth zu verbergen und antwortete: »Ich will dem Grafen keinesweges das Verdienst abstreiten, das Sie ihm zuschreiben; allein nach dem, was ich von ihm gesehen habe, zu urtheilen, ist er zu flüchtig zu einer ernsthaften Verbindung.«

In eben dem Augenblicke trat der Graf in den Pavillon.

»Sieh da, Graf!« sagte Muriani lachend; »eben waren Sie der Gegenstand unsrer Unterhaltung, und sind gerade zur rechten Zeit gekommen, die Ehre, die Ihnen angethan worden, zu vernehmen. Ich verwendete mich bey der Marquise für Sie um Donna Julie, allein sie lehnt es durchaus ab; ob sie gleich Ihr Verdienst anerkennt, schützt sie vor, daß Sie von Natur leichtsinnig und unbeständig wären. Was sagen Sie dazu? – würde nicht Donna Juliens Schönheit Ihr unstätes Herz fesseln?«

»Ich weiß nicht, wodurch ich's verdient habe, bey der Marquise in diesem Credite zu stehen,« sagte der Graf lächelnd; »allein das Herz müßte in ungewöhnlichem Grade krank oder fühllos seyn, das in Donna Juliens Gegenwart sich der Freyheit rühmen könnte.«

Die Marquise, empfindlich gekränkt bey dem ganzen Gespräche, fühlte alle Stärke von Vereza's Antwort, die ihr mit besonderem Nachdrucke auf sie gerichtet zu seyn schien.

Das Fest endigte sich mit einem großen Feuerwerke, das am Seeufer angestellt war, und die Gesellschaft trennte sich erst, als der Morgen andämmerte. Julien that es weh, die Scene verlassen zu müssen. Sie war bezaubert von der neuen Welt, die sich ihr jetzt eröffnete, und nicht kalt genug, die lebhafte Gluth der Einbildungskraft von den Farben wirklichen Glücks zu unterscheiden. Sie glaubte, daß das Vergnügen, welches sie jetzt empfand, stets und in gleichem Maße durch die Gegenstände, die zuerst es erregten, müßte erneuet werden. Jugendliche Seelen sind nie geneigt, die Schwäche der Menschheit wahrzunehmen. Es ist eine schmerzhafte Wahrheit, daß Gegenstände auf uns wirken, deren Eindrücke eben so veränderlich als unerklärlich sind, und daß wir dasjenige, was gestern tief uns bewegte, heute nur schwach, morgen vielleicht gar nicht mehr fühlen. Wenn endlich diese unwillkommne Wahrheit in das Herz eindringt, so verwerfen wir im ersten Augenblicke mit Ekel allen Anschein des Guten; wir verschmähen es, eine Glückseligkeit zu kosten, über die wir nicht gebiethen können, und sinken nicht selten in eine vorüber gehende Verzweiflung. Weisheit oder Zufall rufen uns endlich von unserm Irrthume zurück, und biethen uns einen Gegenstand dar, welcher fähig ist, eine angenehme und doch dauernde Wirkung hervor zu bringen, welche wir Glückseligkeit trennen können. Glückseligkeit ist darin wesentlich von dem, was wir gewöhnlich unter Vergnügen verstehen, verschieden, daß Tugend ihre Basis ausmacht, und daß man von ihr, als dem Resultate der Vernunft, eine gleichförmige Wirkung erwarten darf.

Die Leidenschaften, die bisher in Juliens Herzen geschlummert hatten, brachen, zufällig berührt, in voller Kraft hervor, und ließen sie den Schmerz und das Entzücken erfahren, das mit ihrem Erwachen verbunden ist. Vereza's Schönheit und Vorzüge erregten in ihr eine neue, mannigfaltige Bewegung, welche aufzumuntern die Vernunft sie zurück hielt, und die dennoch zu süß war, um ihr ganz widerstehen zu können. Einem Gefühle von Entzücken entgegen klopfend, noch durch keine getäuschte Hoffnung zurück gescheucht, bewillkommt das junge Herz jedes Gefühl, das nicht geradezu schmerzhaft ist, mit einer romantischen Erwartung, es in Seligkeit aufgelöst zu sehen. – Mit ängstlicher Sorgfalt suchte Julie Vereza's Gesinnung gegen sie zu ergrübeln; sie rief sich alle Ereignisse des Tages wieder hervor: allein sie gewährten ihr wenig Befriedigung; sie warfen nur ein schimmerndes trügliches Licht zurück, welches statt sie zu führen, sie nur noch mehr verwirrte. Jetzt erinnerte sie sich eines Beweises besonderer Aufmerksamkeit und jetzt wieder eines Zeichens anscheinender Kälte. Sie verglich sein Betragen mit dem Betragen des andern jungen Abels, und es schien ihr, als wenn jeder sich um den Beyfall jedes gegenwärtigen Frauenzimmers eben so viel Mühe gegeben hatte. Doch dünkte ihr, alle Frauenzimmer hätten um Vereza's Aufmerksamkeit gebuhlt, und sie zitterte, daß er zu sehr die Auszeichnung gefühlt haben möchte. Sie konnte keinen festen Schluß aus diesen Betrachtungen ziehen; aber wenn sie gleich zwischen ängstlichen Zweifeln schwebte, so war doch selbst dieß Gefühl so innig mit Entzücken verwebt, daß sie nicht wünschen konnte, es mit ihrer vorigen Ruhe zu vertauschen. Rastlos, von Gedanken zu Gedanken irrend, flog der Schlaf von ihren Augen, und mit Ungeduld harrte sie dem Morgen entgegen, der sie wieder zu Vereza führen, und in Stand setzen würde, weiter zu forschen. Sie stand früh auf, und kleidete sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt an. In ihrem traulichen Cabinette erwartete sie die Frühstücksstunde, und wollte lesen; aber ihre Gedanken schweiften von ihrem Buche ab. Ihre Laute, ihre Lieblingsarien konnten ihr nicht mehr gefallen; der Tag schien stille zu stehen – sie fiel in Schwermuth, und glaubte, die Frühstücksstunde würde nimmer anbrechen. Liebe lehrte sie Verstellung. Bis diesen Augenblick hatte sie Emilien jeden Gedanken ihrer Seele mitgetheilt; jetzt gingen sie schweigend ins Frühstückszimmer hinunter, und Julie fürchtete beynahe, ihrer Schwester Auge zu begegnen. Sie fanden das Zimmer noch leer; Julien war es unmöglich, ein Gespräch mit ihrer Schwester auszuhalten, deren Bemerkungen, weil sie den Lauf ihrer Gedanken unterbrachen, ihr uninteressant und beschwerlich waren. Sie stand eben im Begriffe, wieder hinauf in ihr Cabinett zu gehen, als der Marquis herein trat. Seine Miene war stolz, sein Blick strenge und trocken. Kalt begrüßte er seine Töchter, und sie hatten kaum Zeit, auf seine allgemeinen Fragen zu antworten, ehe die Marquise, und bald nach ihr, die andere Gesellschaft herein trat. Julie, die mit so schmerzhafter Ungeduld auf den Augenblick gewartet hatte, wo sie Vereza sehen würde, seufzte nun, daß er da war; kaum wagte sie, ihre furchtsamen Blicke von der Erde aufzuschlagen; und wenn sie zufällig die seinigen traf, ergriff sie ein sanftes Beben, und die Furcht, daß er ihre Empfindungen entdecken würde, machte ihre Verwirrung nur noch sichtbarer. Endlich rief ein Blick von der Marquise ihre verirrten Gedanken wieder zurück; eine andre Furcht unterdrückte die Furcht der Liebe, und sie gewann nach und nach ihre Fassung wieder. Sie konnte in Vereza's Betragen keine Merkmahle besonderer Aufmerksamkeit entdecken, und beschloß, mit strenger Sorgfalt über ihre eigenen Bewegungen zu wachen.

Dieser Tag war wie der vorige der Freude gewidmet. Abends wurde ein Concert gehalten, worin sich hauptsächlich der junge Adel hervor that. Ferdinand spielte das Violoncell, Vereza die Flöte, und Julie den Flügel, den sie mit einem Geschmacke und Ausdrucke berührte, welche jeden Zuhörer fesselten. Man denke sich Juliens Bestürzung, als Ferdinand ein schönes Duett auswählte und Vereza bath, mit seiner Flöte seine Schwester zu begleiten. Doch überwand das Bewußtseyn ihrer Geschicklichkeit bald ihre Furcht, und setzte sie in den Stand, alle ihre Kräfte aufzubiethen. Die Arie war einfach und rührend, und sie gab ihr alle Reize des Ausdrucks, die sie so ganz in ihrer Macht hatte. In schöner Begleitung berührte sie die Saiten ihres Piano Forte; gegen das Ende der zweyten Stanze ruhte ihre Stimme auf einer Note, schwoll zu einer solchen Höhe hinan, und stieg dann zu einigen einfachen Tönen herab, die sie mit so leidenschaftlicher Zärtlichkeit berührte, daß jedes Auge um sie sich feuchtete. Der Hauch der Flöte bebte, und Hippolytus fortgerissen, vergaß zu spielen. Eine tiefe Stille folgte beym Schlusse des Stückes, und dauerte fort, bis ein eintöniger Seufzer die Versammlung aus ihrer Bezauberung aufzuwecken schien. Unter dem allgemeinen Beyfalle schwieg Hippolytus. Julie bemerkte es, schlug sanft ihre Augen gegen ihn auf, und las die Empfindungen, die sie ihm eingeflößt hatte. Ein hohes Gefühl durchbebte ihr Herz, und sie erfuhr einen dieser seltnen Augenblicke, die das Leben mit einem Strahle von Seligkeit erleuchten, der seine gewohnte Finsterniß durchbricht. Furcht, Zweifel, alle ängstlichen Gefühle verschwanden, und den übrigen Abend hindurch fühlte sie nur Entzücken. Eine furchtsame Ehrerbiethung bezeichnete Hippolytus Betragen, und war Julien schmeichelnder, als die feurigste Erklärung. Ein Ball schloß den Abend, und sie war wiederum die Tänzerinn des Grafen. Als der Ball aufbrach, zog sie sich in ihr Zimmer zurück, nicht aber um zu schlafen. Freude ist eben so rastlos, als Furcht oder Kummer. Sie schien in eine neue Existenz eingetreten zu seyn – jenes feine Triebwerk zärtlicher Empfindungen, das bisher verborgen lag, war nun berührt, und ließ sie ein Entzücken genießen, höher als alles, was je ihre Einbildungskraft gemahlt hatte. Sie dachte an die Ruhe ihres vergangenen Lebens zurück, verglich sie mit der hoch fliegenden Wonne dieser Stunde,und frohlockte über den Abstand. Alle ihre vorigen Vergnügungen schienen ihr nur unschmackhaft; sie erstaunte, daß sie je sie fesseln konnten, und daß sie so ruhig die langweilige Einförmigkeit ertragen hatte, zu der sie bisher verdammt war. Jetzt erst schien sie zu leben. Versenkt in den einzigen Gedanken, geliebt zu seyn, schwebte ihre Einbildungskraft in den Regionen romantischer Seligkeit, und hob sie hoch hinaus über die Möglichkeit des Leidens. Von Hippolytus geliebt, konnte sie nur glücklich seyn. Der Ton einer Musik gerade unter ihrem Fenster weckte sie aus diesem bezaubernden Zustande. Es war eine Laute, von einer Meisterhand berührt. Nach einer milden melancholischen Symphonie schwoll eine Stimme von mehr als Zauberklang zu einer so rührenden, zärtlichen Arie an, daß sie die Seele der Liebe selbst zu athmen schien. Die Saiten der Laute wurden in leiser, süßer Begleitung berührt. Julie horchte, und unterschied folgende Worte: »Still ist der Hauch der Nacht; kein einsamer Fußtritt schleicht sich durch das Schweigen dieser grausigen Stunde; tiefer Schlaf schwebt über diesen hohen Zinnen, und senkt auf alle seine süße, betäubende Kraft; nur nicht auf mich! –Vergebens erfleh' ich seinen Thau, in kurze Vergessenheit meine Sorgen zu senken. Der erschrockne Gott flieht, wo Liebe verfolgt, und verweigert des unglücklichen Liebenden Flehn.« An dieser Stelle befindet sich im englischen Original folgender Text:

Sonnet.

Still is the night-breeze! – not a lonely sound
   Steals through the silence of this dreary hour;
O'er these high battlements Sleep reigns profound,
   And sheds on all, his sweet oblivious power.
On all but me – I vainly ask his dews
   To steep in short forgetfulness my cares.
Th' affrighted god still flies when Love pursues,
   Still – still denies the wretched lover's prayers.
– Eine Pause folgte; die Arie wurde wiederhohlt, und die Musik verschwand. Wenn Julie vorher nur wähnte, von Hippolytus geliebt zu seyn, so war sie jetzt von der süßen Wahrheit überzeugt. Endlich fiel der Schlaf auf ihre Sinnen, und die Luftgestalten idealischer Wonne schwebten nicht länger vor ihrer Einbildungskraft. Der Morgen kam, und leicht und erquickt stand sie auf. Wie verschieden waren ihre Gefühle von denen des vorigen Tages! Ihre Angst hatte sich in entzückende Gewißheit aufgelöst, und sie schwebte in dem Taumel des Geistes, der alles zur Wonne mit sich fortreißt, und mit einer Macht, gleich der Berührung einer Zauberruthe, Wüsten in Paradiese umschaffen würde. Sie flog in das Frühstückzimmer, kaum fühlend, daß sie sich bewegte; als sie aber hinein trat, überwältigte sie eine süße Beschämung; sie fühlte ihre Wangen glühen, und fürchtete beynahe Vereza's Augen zu begegnen. Sie wurde bald von ihrer Angst befreyt; Vereza war nicht da; die Gesellschaft versammelte sich – Julie sah ängstlich auf, so oft jemand herein trat; er, nach dem sie blickte, erschien nicht. Betroffen und unruhig haftete sie ihre Augen auf die Thür, und so oft sie aufging, klopfte ihr Herz von einer Erwartung, die eben so oft vereitelt wurde. Trotz all ihres Bestrebens sank ihre Lebhaftigkeit in Schmachten, und sie fühlte nun, daß Liebe auch andere, als Empfindungen des Entzückens, hervor bringen kann. Sie fand es möglich, unglücklich zu seyn, obgleich Hippolytus sie liebte, und mußte mit einem schmerzhaften Seufzer sich eingestehen, daß jetzt ihr Friede von ihm abhinge. Er erschien nicht beym Frühstücke; eben so wenig wurde seiner gedacht: Delicatesse hielt sie ab, nach ihm zu fragen; das Sprechen wurde ihr lästig, und sie zog sich in Madame de Menons Zimmer zurück. Hier beschäftigte sie sich mit Zeichnen, und suchte die Zeit bis zur Mittagsstunde zu tödten, wo sie Hippolytus zu sehen hoffte. Madame war, wie gewöhnlich, freundlich und offen; allein sie bemerkte eine Zurückhaltung in Juliens Betragen, und errieth leicht die Ursache. Nur wußte sie den Gegenstand nicht, der ihrer Pflegetochter Herz aus seinem Gleichgewichte gebracht zu haben schien. Endlich kam die so heiß erwünschte Stunde, und mit klopfendem Herzen trat Julie in den Saal. Der Graf war nicht da, und sie hörte nur zufällig, daß er früh Morgens nach Neapel gereist war. Die Scene, die noch vor kurzem ihrem Auge bezaubert schien, veränderte nun ihre Farbe; mitten in der Gesellschaft, von Freude umgeben, war sie einsam und traurig. Sie klagte sich selbst an, daß sie ihr Urtheil von ihren Wünschen irre leiten lassen, Galanterie für ein zärtlicheres Gefühl gehalten hätte. Sie fing an zu glauben, daß der Sänger unter ihrem Fenster nicht der Graf gewesen sey, und so schwand auf ein Mahl das idealische Gebäude ihrer Glückseligkeit hin. Welch eine kurze Zeit stürzt oft den Gang unserer Empfindungen um, macht das, was wir gestern verachteten, uns heute wünschenswerth! Den ruhigen Zustand, den sie noch vor wenig Stunden zu verlassen frohlockte, erseufzte sie jetzt zurück. Ihr einziger Trost war der Gedanke, daß der Graf ihre Empfindungen nicht kannte, und daß süße Bewußtseyn, einem feinen Gefühle von Anstand und Sittlichkeit gemäß gehandelt zu haben.


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