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Ferdinand erwartete die vom Marquis bestimmte Stunde mit ungeduldiger Neugier. Die feyerliche Miene, die er annahm, als er ihm befahl, zu ihm zu kommen, hatte sich seiner Seele tief eingeprägt. So wie die Zeit heran nahte, erhöhte sich seine Erwartung, und jeder Augenblick schien sich in Stunden zu verlängern. Endlich ging er in das Cabinett, wo nicht lange nach ihm der Marquis erschien. Seine Stimme war eben so zurück scheuchend feyerlich, als gestern. Er schloß die Thür des Cabinetts ab, setzte sich, und redete Ferdinanden in folgenden Worten an: »Ich bin jetzt im Begriffe, ein Vertrauen in dich zu setzen, welches ernstlich die Stärke deiner Ehre prüfen wird. Bevor ich dir aber ein Geheimniß offenbare, das bisher so sorgfältig verhehlt ward, und jetzt mit solchem Widerstreben gesagt wird, mußt du mir über diesen Gegenstand ewiges Schweigen schwören. Wenn du an deiner unverbrüchlichen Verschwiegenheit zweifelst, so sage es jetzt, und erspare dir die Schande und die unglücklichen Folgen, welche ein Bruch deines Eides über dich bringen muß. – Wenn du dich aber einer standhaften Beobachtung deines Versprechens fähig glaubst, so nimm die Bedingungen an, und empfange das Geheimniß!« –Ferdinand schauderte bey dieser Anrede; die Ungeduld der Neugierde wich auf einige Augenblicke, und er stand an, ob er auf solche Bedingungen ein Geheimniß annehmen sollte. Endlich bezeugte er seine Einwilligung; – der Marquis stand auf, und zog sein Schwert aus der Scheide. »Hier –«! sagte er, und hielt es Ferdinanden dar; »versiegle deine Gelübde. Schwöre bey diesem geheiligten Pfande der Ehre, nimmer zu wiederhohlen, was ich dir jetzt anvertrauen werde.«
Ferdinand neigte sich auf das Schwert, schlug feyerlich seine Augen zum Himmel auf, und schwor. Der Marquis setzte sich wieder auf seinen Platz, und fuhr fort: »Ich brauche dir nicht zu sagen, daß vor einem Jahrhunderte dieses Schloß im Besitz meines Großvaters, Vincent, dritten Marquis von Mazzini, war. Um diese Zeit herrschte ein aufgeerbter Haß zwischen unsrer Familie und den Della Campos. Es ist jetzt nicht die Zeit, mich über den Ursprung dieses Hasses auszulassen, oder die barbarischen Folgen desselben zu erzählen; genug, die Macht unsrer Familie setzte die Della Campos außer Stand, ihr voriges Gewicht in Sicilien zu behaupten, und sie verließen es, um in einem fremden Lande in ungestörter Sicherheit zu leben. –
Mein Großvater, der Ursache hatte, zu glauben, daß sein Feind Heinrich Della Campo ihm nach dem Leben trachtete, stellte Spione um ihn her. Er bediente sich einiger der vielen Banditen, die in seinem Dienste Schutz suchten, und nachdem sie einige Wochen auf eine Gelegenheit gelauscht hatten, ergriffen sie Heinrichen und brachten ihn insgeheim auf dieß Schloß. Er wurde eine Zeitlang in ein verborgenes Zimmer des südlichen Flügels eingesperrt, wo er umkam. – Durch was für Mittel, geziemt mir nicht zu erwähnen. Der Plan war so gut angelegt, und das Geheimniß wurde so strenge beobachtet, daß alles Bemühen der Familie, sein Verschwinden aufzuspüren, fruchtlos blieb. Wenn sie auch Verdacht auf unsre Familie hatten, konnten sie ihn doch durch keine Beweise unterstützen, und noch bis diesen Tag wissen die Della Campos die Art seines Todes nicht. Lange vor dein Tode meines Vaters ging ein Gerücht, daß die südlichen Gebäude des Schlosses von Geistern bewohnt würden. Ich glaubte nicht daran, und behandelte die Sache oben hin. Eines Nachts aber, als jedes menschliche Wesen im Schlosse, mich ausgenommen, in Ruhe lag, hatte ich solche starke und gräßliche Beweise der allgemeinen Behauptung, daß ich selbst diesen Augenblick nicht ohne Grausen daran denken kann. Laß sie mich, wo möglich vergessen! von dem Augenblicke an verließ ich diese Gebäude; sie sind seitdem immer verschlossen geblieben, und dieser Umstand ist die wahre Ursache, warum ich so wenig auf dem Schlosse gewohnt habe.«
Ferdinand horchte mit schweigendem Entsetzen dieser Erzählung zu. Er erinnerte sich an die Verwegenheit, womit er in jene Zimmer zu dringen gewagt hatte, an das Licht, an die Gestalt, an das unterirdische Winseln, und vor allem an seine Lage auf der Treppe im Thurme. Jede Nerve bebte in ihm, und die Schrecken der Erinnerung kamen beynahe denen der Wirklichkeit gleich. – Der Marquis erlaubte seinen Töchtern, ihre Zimmer zu vertauschen, band aber Ferdinanden ein, ihnen zu sagen, daß er bey Gewährung ihrer Bitte bloß ihre Ruhe Rathe zöge, und auf keine Weise von der Nothwendigkeit der Sache überzeugt sey. Sie wurden wieder in ihre vorigen Zimmer eingesetzt, und bloß das große Zimmer von Madame's Wohnung blieb für die Marquise, die den Marquis durch Spott und Klagen ihr Mißvergnügen fühlen ließ. Der Marquis warf insgeheim seinen Töchtern ihre kindischen Grillen, wie er es nannte, vor, und verlangte, daß sie das Schloß nie wieder damit beunruhigen sollten. Sie nahmen seinen Vorwurf mit schweigender Unterwerfung an, zu froh über die Erfüllung ihrer Bitte, um eine andere Empfindung, als Freude, fühlen zu können.
Wenn Ferdinand über diese letzte Entdeckung nachdachte, so kränkte ihn tief, was sich jetzt seinem Glauben aufzwang, daß er der Abkömmling eines Mörders war. Er wußte nun, daß unschuldiges Blut an den Mauern des Schlosses klebte, und daß sie noch immer die Wohnung eines unruhigen Geistes waren, der laut zu der Nachwelt um Rache über den zu schreyen schien, der seine ewige Ruhe zerstört hatte. Hippolytus sah seine Niedergeschlagenheit, und flehte ihn an, ihm seinen Kummer mitzutheilen. Allein Ferdinand, der bis jetzt frey und offen auch keinen Gedanken seiner Seele vor ihm verhehlt hatte, beobachtete jetzt ein unverbrüchliches Schweigen. »Dringe nicht auf eine Entdeckung von dem, was mir zu sagen verbothen ist; dieß ist der einzige Punct, worüber ich dich zu schweigen beschwöre; und auch selbst dieses kann ich dir nicht erläutern.«
Hippolytus erstaunte, und berührte die Sache nie wieder. – So beschämend auch die Umstände, welche Hippolytus ihre Liebe entdeckten, Anfangs für Julien waren, empfand sie doch, nachdem der erste Stoß vorüber war, eine mehr süße als schmerzhafte Regung. Dieses Gespräch hatte ihr in starken Farben die Liebe des Grafen gezeigt. Seine Zweifel, sein blödes Zögern, die Wirkung seines Verdienstes wahrzunehmen, sein Entzücken, als die Überzeugung endlich in seine Seele drang, sein Betragen, als er sie entdeckte, bewies ihr zugleich die Delicatesse und Stärke seiner Leidenschaft, und sie gab ihr Herz den Regungen eines reinen unvermischten Entzückens hin. Ein Befehl von dem Marquis, zu ihm in die Bibliothek zu kommen, schreckte sie aus diesem Taumel schwärmerischer Wonne auf. Ein so ungewöhnlicher Befehl überraschte sie, und sie gehorchte mit zitternder Erwartung. Sie fand ihn in tiefen Gedanken im Zimmer auf und abgehen, und hatte die Thür zugemacht, ehe er sie wahrnahm. Die ernste Strenge auf seinem Gesichte beunruhigte sie, und bereitete sie auf einen Gegenstand von Wichtigkeit vor. Er setzte sich zu ihr, und schwieg einen Augenblick. Endlich sagte er mit fest auf sie gehefteten Blicken: »Ich ließ dich rufen, mein Kind, um dir die Ehre kund zu thun, die auf dich wartet. Der Herzog von Luovo hat um deine Hand angehalten. Eine so glänzende Verbindung übersteigt meine Erwartung. Du wirst diesen Vorzug mit der Dankbarkeit aufnehmen, die er verdient, und dich zur Feyer der Hochzeit anschicken.«
Diese Rede drang wie der Pfeil des Todes in Juliens Herz. Ohne Bewegung versteinert und sprachlos saß sie da. Der Marquis bemerkte ihre Bestürzung, und mißdeutete die Ursache. »Ich gestehe,« sagte er, »daß die Sache etwas schnell zugegangen ist; allein die Freude, welche eine von deiner Seite so unverdiente Auszeichnung hervor bringen muß, sollte die kleinen weiblichen Schwachheiten, denen du zu einer andern Zeit immerhin nachhangen mögtest, überwinden. Geh, suche dich zu fassen, und bedenke« – setzte er mit finsterm Tone hinzu – »daß hier keine Zeit zu übertriebenen Scrupeln ist.«
Diese Worte weckten Julien aus ihrer schrecklichen Betäubung. »O Vater!« sagte sie, und warf sich zu seinen Füßen, »bedienen Sie sich nicht ihrer väterlichen Gewalt, mich zu zwingen, wo Gehorsam schrecklicher als Tod wäre; wo Gehorsam in der That unmöglich ist.« – »Lege diese kindische Ziererey ab,« sagte der Marquis; »und betrage dich, so wie es dir geziemt.«
»Vergeben Sie mir, Vater! mein Schmerz ist, ach! unerkünstelt. Ich kann den Herzog nicht lieben.«
»Fort! –« unterbrach sie der Marquis; – »reize nicht meinen Zorn durch so kindische, abgeschmackte Einwendungen.«
»O hören Sie mich, mein Vater!« sagte Julie, und Thränen stiegen in ihre Augen – »haben Sie Mitleiden mit den Qualen eines Kindes, das bis diesen Augenblick nie Ihre Befehle zu bestreiten gewagt hat.«
»Auch sollst du es jetzt nicht,« erwiederte der Marquis. »Was?wenn Ehre, Rang und Reichthum zu meinen Füßen gelegt werden, soll ich sie ausschlagen, weil ein thörichtes Mädchen, ein wahres Kind, das noch nicht Gutes und Böses zu unterscheiden versteht, weint, und sagt: daß sie nicht lieben kann? – Ich mag nicht weiter daran denken – mein gerechter Zorn könnte vielleicht die Schonung überlaufen, und mich reizen, deine Thorheit zu züchtigen. Nur noch ein Wort! – du heirathest den Herzog, oder verläßt dieses Schloß auf immer, und irrest, wohin du willst.« Mit diesen Worten riß er sich los, und Julie, die weinend an seinen Knien gehangen hatte, fiel auf die Erde nieder. Ihr heftiger Fall vermehrte die Wirkung ihres Schmerzens, und halb ihrer Sinne beraubt, blieb sie eine lange Zeit liegen. Als sie wieder zu sich selbst kam, brach die Betrachtung ihres Elends mit einer Gewalt auf sie ein, welche aufs neue sie überwältigte. Endlich stand sie auf, und versuchte nach ihrem Zimmer zu gehen; kaum aber hatte sie den großen Gang erreicht, als Hippolytus herein trat. Ihre zitternden Glieder wollten sie nicht länger tragen; sie ergriff einen Pfeiler, um sich zu halten, und Hippolytus war mit aller Schnelligkeit kaum im Stande, sie vom Niedersinken abzuhalten. Die Blässe auf ihrem Gesichte erschreckte ihn, und ängstlich fragte er, was ihr fehle. Sie konnte ihm nur durch Thränen antworten, die keine Gewalt zurück zu halten vermochte, und sanft sich losmachend, schwankte sie in ihr Cabinett. Hippolytus begleitete sie an die Thür, wagte aber nicht weiter in sie zu dringen. In zärtlichem Stillschweigen drückte er ihre Hand an seine Lippen, und ging voll Qual und Unruhe zurück. – Julie gab sich ganz der Verzweiflung hin, und hing in der Einsamkeit dem Übermaße ihres Schmerzens nach. Ein so schreckes Elend hatte sich ihrer Einbildungskraft noch nie dargestellt. Die vorgeschlagene Verbindung würde ihr an sich selbst gehässig gewesen seyn, wenn auch ihr Herz keine frühere Liebe gekannt hätte; was mußte also jetzt ihr Elend seyn, da sie ihr Herz demjenigen gegeben hatte, der es so ganz verdiente, und ihre Liebe in so vollem Maße erwiederte. – – Der Herzog von Luovo war im Charakter dem Marquis sehr ähnlich. Liebe nach Macht war seine herrschende Leidenschaft; kein sanftes oder großmüthiges Gefühl milderte die Härte seiner Gewalt, oder lenkte seine Handlungen zum Wohlwollen. Nackte, unversteckte Tyranney war sein Entzücken. Zwey Mahl war er verheirathet gewesen, und die unglücklichen, seiner Herrschaft unterworfenen Weiber fielen als Schlachtopfer der langsamen, aber verzehrenden Hand des Kummers. Er hatte einen Sohn, der vor einigen Jahren der Tyranney seines Vaters entwischte, und seitdem nicht wieder gesehen ward. – Bey dem letzten Feste hatte der Herzog Julien gesehen, und ihre Schönheit machte einen so tiefen Eindruck aufs ihn, daß er um ihre Hand anhielt. Der Marquis, entzückt über die Aussicht zu einer Verbindung, die seiner Lieblingsleidenschaft so schmeichelhaft war, gewährte bereitwillig seine Einwilligung, und versiegelte sie unmittelbar mit einem Versprechen. – Julie blieb den Rest des Tages in ihrem Cabinette verschlossen, wo Madame und Emilie sich aufs zärtlichste bemühten, ihren Kummer zu mildern. Gegen Abend kam Ferdinand. Hippolytus, über ihre Abwesenheit erschrocken, hatte ihren Bruder gebethen, sie zu besuchen, ihren Kummer zu besänftigen, und wo möglich die Ursache zu erforschen. Ferdinand, der seine Schwester zärtlich liebte, gerieth über Hippolytus Worte in die äußerste Unruhe, und suchte sie sogleich auf. Ihre Augen waren vom Weinen angeschwollen, und ihr Gesicht sprach nur zu deutlich die Angst ihrer Seele aus. Ferdinands Schmerz, als sie ihm ihres Vaters Erklärung sagte, war kaum schwächer, als der ihrige. Er hatte sich an der Hoffnung geweidet, die Schwester seines Herzens mit dem Freunde, den er liebte, zu vereinigen. Eine Handlung barbarischer Gewalt sollte nun den Feentraum von Glückseligkeit zerstören, den seine Fantasie geschaffen hatte, und den Frieden derer vernichten, die seinem Herzen am theuersten waren. Lange saß er schweigend und niedergeschlagen da; endlich starrte er aus seiner melancholischen Träumerey auf, wünschte Julien gute Nacht, und ging zu Hippolytus, der voll ängstlicher Ungeduld in der nördlichen Halle auf ihn wartete.
Ferdinand fürchtete die Wirkung der Verzweiflung, welche diese Nachricht in Hippolytus Seele hervor bringen würde. Er sann auf Mittel, die schreckliche Wahrheit zu mildern; allein Hippolytus, schnell das Übel zu ahnden, welches Liebe ihm fürchten lehrte, ergriff auf ein Mahl die Wahrheit. »Sage mir alles,« sprach er mit angenommener Festigkeit; »ich bin auf das Schlimmste gefaßt.«
Ferdinand eröffnete ihm nun den Entschluß des Marquis, und Hippolytus versank in einen Schmerz, der aller Kraft des Trostes, so sehr sie auch aufgebothen ward, Trotz both.
Julie zog sich endlich in ihr Schlafzimmer zurück; allein der Kummer, der auf ihrer Seele lag, verscheuchte den Segen des Schlafes von ihr. Mit zerrütteter Fantasie, rastlos stand sie auf, und öffnete leise das Fenster ihres Zimmers. Die Nacht war stille, und auch nicht ein Lüftchen trübte die Spiegelfläche des Wassers. Der Mond schüttete einen milden Strahl auf die Wellen herab, die in sanften Krümmungen auf dem Sande hinwallten. Unmerklich wiegte die Scene ihre Geister in Ruhe ein; eine stille, süße Melancholie goß sich über ihre Seele aus, und in gefühlvolles Sinnen versenkt, hörte sie das Plätschern entfernter Ruder. Einen Augenblick nachher sah sie ein kleines Boot auf der hellen Fläche des Wassers. Der Schall der Ruder hörte auf, und eine feyerliche Harmonie – so wie die Fantasie sie von den Wohnungen der Seligen herab weht – schlich sich durch das Schweigen der Nacht. Ein Chor von Stimmen schwoll jetzt durch die Lüfte, und erstarb in der Ferne. Julie erkannte die mitternächtliche Hymne an die Jungfrau, und heilige Begeisterung füllte ihr Herz. Der Chor wurde wiederhohlt, von dem feyerlichen Getöne der Ruder begleitet. Ein Seufzer himmlischer Andacht schlich sich aus ihrem Busen. Es ward stille. Die göttliche Melodie hatte den Tumult ihrer Seele eingewiegt, und sie sank in süße Ruhe. – Durch einen leichten Schlummer erquickt, stand sie früh Morgens auf; allein die Erinnerung an ihre traurige Lage kehrte bald mit erneueter Stärke wieder, und siechende Schwäche überwältigte sie. In diesem Zustande erhielt sie eine Bothschaft vom Marquis, sogleich zu ihm zu kommen. Sie gehorchte, und er befahl ihr, sich anzuschicken, den Herzog zu empfangen, der diesen Morgen aufs Schloß kommen würde. Er hieß sie, sich reich kleiden, und ihn freundlich bewillkommen. Julie unterwarf sich schweigend. Sie sah, daß der Marquis unwiderruflich entschlossen war, und zog sich zurück, um der Angst ihres Herzens freyen Lauf zu lassen, und sich auf diese verabscheute Zusammenkunft vorzubereiten.
Die Glocke hatte zwölf geschlagen, als ein Trompetenstoß die Annäherung des Herzogs verkündigte. Juliens Herz sank bey dem Schalle, und bestürmt von bittern Gefühlen, warf sie sich auf den Sopha hin. Bald rief eine Bothschaft vom Marquis sie ab. Sie stand auf, umarmte zärtlich Emilien, und vereint flossen ihre Thränen. Endlich rief sie alle ihre Stärke auf, und ging in die Halle herab, wo der Marquis ihr entgegen kam. Er führte sie in den Saal, wo der Herzog saß, hielt ein kurzes Gespräch, und ließ sie mit ihm allein. Juliens Bewegung in diesem Augenblicke übertraf alles, was sie noch gelitten hatte; plötzlich aber gab eine unerwartete Stärke, welche die Macht des äußersten Unglücks uns zuweilen gibt, nach der aber sein geringerer Grad von Schmerz vergebens strebt, ihr ihre Fassung wieder, und setzte sie in ihre natürliche Würde wieder ein. Sie erstaunte über sich selbst, und faßte den gefährlichen Entschluß, sich der Großmuth des Herzogs anzuvertrauen, ihm ihre Abneigung gegen die Verbindung einzugestehen, und ihn zu bitten, von seiner Bewerbung abzulassen.
Der Herzog trat mit einer Miene stolzer Herablassung zu ihr, faßte sie bey der Hand und setzte sich neben sie. Nach einigen steifen und allgemeinen Lobsprüchen ihrer Schönheit ging er weiter, und erklärte sich als ihren Bewunderer. Sie hörte einige Zeit seinen Erklärungen zu, und als er geneigt schien, sie reden zu lassen, wendete sie sich an ihn.
»Ich erkenne, wie ich soll, gnädiger Herr! die Ehre, die Sie mir antragen, und muß bedauern, daß ehrerbiethige Dankbarkeit die einzige Empfindung ist, die ich Ihnen zurück zu geben vermag. Nichts kann stärker mein Vertrauen in Ihre Großmuth beweisen, als daß freye Geständniß, daß väterliche Gewalt mich zwingt, meine Hand zu geben, wo mein Herz sie nicht begleiten kann.« Sie hielt inne; der Herzog schwieg – »Nur Sie, gnädiger Herr!« fuhr sie fort, »können aus einer so quälenden Lage mich befreyen; und an Ihre Güte und Gerechtigkeit wende ich mich, überzeugt, daß Nothwendigkeit mein sonderbares Betragen entschuldigen wird, und daß Sie mich nicht vergebens werden stehen lassen.«
Der Herzog war verlegen; eine fliegende Röthe des Stolzes überzog sein Gesicht, und er kämpfte sichtlich, die Empfindungen zurück zu halten, die sein Herz anschwellten.
»Ich war auf eine ganz andere Aufnahme vorbereitet,« sagte er, »und gestehe, ich glaubte nicht Ursache zu haben, zu erwarten, daß der Herzog von Luovo vergebens seufzen würde. Da Sie aber gestehen, Madame, daß Sie bereits über Ihre Neigungen bestimmt haben, werde ich gewiß sehr bereitwillig seyn, wenn der Marquis mich von unsern gegenseitigen Verpflichtungen frey sprechen will, Sie einem begünstigteren Liebhaber zu überlassen.«
»Verzeihen Sie, gnädiger Herr!« sagte Julie erröthend, »erlauben sie mir, Ihnen zu versichern –«
»Ich lasse mich nicht so leicht täuschen, Madame!« unterbrach sie der Herzog. – »Ihr Betragen kann nur aus einer frühern Neigung entspringen; und obgleich dieser Umstand bey einem so jungen Frauenzimmer allerdings ein wenig sonderbar ist, so habe ich doch zuverlässig kein Recht, Ihre Wahl zu censiren. Erlauben Sie mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen.« Er verneigte sich tief und ging aus dem Zimmer. Julie fühlte nun eine neue Pein; sie fürchtete den Zorn des Marquis, wenn er ihre Unterredung mit dem Herzoge erführe, dessen Charakter sie nur zu gut beurtheilte, um nicht das in ihn gesetzte Vertrauen zu bereuen. – Der Herzog ging, als er Julien verließ, zu dem Marquis, mit dem er sich einige Stunden lang unterhielt. So bald er das Schloß verlassen hatte, ließ der Marquis seine Tochter rufen, ergoß seinen Zorn gegen sie in den heftigsten Drohungen und mit aller Bitterkeit der Verachtung. Er verspottete ihre Verschenkung ihres Herzens in so harten Ausdrücken, drohte ihr so schreckliche Ahndung ihres Ungehorsams an, daß sie sich kaum in seiner Gegenwart sicher glaubte. Zitternd und betroffen stand sie da und hörte seine Vorwürfe an, ohne Vermögen, eine Antwort hervor zu bringen. Endlich sagte er ihr, daß die Hochzeit am dritten Tage vom heutigen an sollte gefeyert werden, und so wie er das Zimmer verließ, kam eine Fluth von Thränen ihr zu Hülfe, und befreyte sie von einer Ohnmacht.
Julie brachte den übrigen Tag in ihrem Cabinette mit Emilien hin. Die Nacht kam wieder, brachte aber ihr keinen Frieden mit. Lange, nachdem Emilie fort war, saß sie noch da, nahm ein Buch in die Hand, um ihren Gedanken zu entgehen, und bemühte sich die Empfindungen wieder aufzuregen, welche vormahls das Lesen desselben in ihr hervor gebracht hatte. Sie schlug eine Stelle auf, deren zärtlicher Ausdruck mit ihrer Lage sympathisirte, und ihre Thränen flossen aufs neue. Bald trat Furcht an die Stelle des Schmerzens. Eine Todesstille hatte bisher im Schlosse geherrscht, die nur zu Zeiten vom Winde unterbrochen wurde, der in tiefen Tönen durch die langen Gänge pfiff. Jetzt glaubte sie einen Fußtrit an ihrer Thüre zu hören; gleich darauf aber war alles stille; und sie glaubte, daß der Wind sie getäuscht hatte. Der Augenblick nachher aber überzeugte sie, daß sie nicht geirrt hatte; sie hörte deutlich in der Gallerie leise flüstern. Ihr Muth, den der Kummer bereits geschwächt hatte, verließ sie; gleich nachher rief eine leise Stimme sie bey Nahmen, und Ferdinand öffnete die Thür. – Sie schrie und sank um. Als sie sich wieder erhohlte, fand sie sich in Ferdinands und Hippolytus Armen, die sich diesen Augenblick der Stille und Sicherheit zu Nutze gemacht hatten, sich zu ihr zu schleichen. Hippolytus kam, um ihr einen Vorschlag zu thun, den die Verzweiflung allein eingehen konnte.
»Fliehen Sie, meine Julie!« sagte er, »von der Gewalt eines Vaters, der seine Macht mißbraucht, und behaupten Sie die Freyheit der Wahl, welche die Natur ihnen angewiesen hat. Lassen Sie den verzweifelnden Stand meiner Hoffnungen die anscheinende Kühnheit dieser Bitte entschuldigen, und lassen Sie den Mann, der nur für Sie lebt, das Mittel seyn, Sie vom Verderben zu retten. Ach Julie! Sie schweigen; vielleicht habe ich durch diesen Vorschlag das Vertrauen verscherzt, welches zu besitzen ich noch vor wenig Tagen mir schmeichelte. Wenn das ist, so will ich mich schweigend meinem Geschicke unterwerfen, und morgen einen Aufenthalt verlassen, der meiner Seele nur Bilder der Qual darbiethet.«
Julie konnte nur durch Thränen antworten. Ein Gewühl starker und streitender Leidenschaften kämpfte in ihrer Brust, und raubte ihr die Kraft zu sprechen. Ferdinand unterstützte des Grafen Vorschlag.
»Es wäre überflüssig, meint Schwester!« sagte er, »dir das Elend zu schildern, welches hier deiner wartet. Ich liebe dich zu zärtlich, um dich geduldig dem Ehrgeize und einer noch verhaßteren Leidenschaft aufgeopfert zu sehen. Ich setze meinen Stolz darein, Hippolytus meinen Freund zu nennen; laß mich nicht lange mehr zögern, ihn als Bruder zu begrüßen. Ich kann keinen stärkern Beweis meiner Achtung für seinen Charakter darbringen, als diesen Wunsch. Glaube mir, er hat ein Herz, des deinigen werth, edel und groß, wie dein eignes.«
»O Ferdinand!« – sagte Julie;–– »höre auf von einem Herzen zu reden, dessen Werth ich innig empfinde. Deine Güte und sein Verdienst können nie von der vergessen werden, an deren Schicksal du so großmüthigen Antheil nimmst.«
Sie hielt inne, und sann schweigend nach. Ein Gefühl von Delicatesse verzögerte die Entscheidung, wozu ihr Herz sie drängte. Wenn sie mit Hippolytus floh, so entging sie einem Übel, um dem andern in die Arme zu stürzen. Sie entfloh dem schrecklichen Geschicke, welches ihrer wartete, mußte aber vielleicht den Ruf beflecken, der ihr theurer als das Daseyn war. In einer Seele, wie die ihrige, hoch empfänglich für den Stolz der Ehre, vermochte diese Furcht jeder andern Rücksicht entgegen zu wirken, und sie zwischen peinlichen Zweifeln hin und her zu treiben. Sie seufzte tief, und schwieg noch immer. Die qualvolle Verwirrung auf ihrem Gesichte stürzte Hippolytus in die schrecklichste Unruhe. »O meine Julie!« rief er; »befreyen Sie mich von dieser fürchterlichen Ungewißheit! – reden Sie mit mir – erläutern Sie dieses Stillschweigen.« Sie blickte ihn klagend an; ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut drang hervor: als er seine Bitte wiederhohlte, winkte sie mit der Hand, und sank in ihren Stuhl zurück. Sie sank in keine Ohnmacht, aber in einen Zustand starrer Betäubung, der nicht weniger beunruhigend war. Die Wichtigkeit der Frage, die sie beantworten sollte, hatte ihrer schon von Kummer überwältigten Seele die Besinnung geraubt. In unaussprechlicher Angst hing Hippolytus über ihr, und Ferdinand wiederhohlte umsonst ihren Nahmen. Endlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus, richtete sich auf, und blickte, als aus einem tiefen Traume erwachend, um sich her. Hippolytus dankte Gott mit heißer Empfindung.
»Sagen Sie mir nur, daß Sie wohl sind,« rief er, »Seele meines Lebens! und daß Sie mir nicht zu hoffen verbiethen, und wir wollen Ihre Ruhe nicht länger stören.«
»Meine Schwester!« sagte Ferdinand, »zieh deine eignen Wünsche zu Rathe, und überlaß das Übrige mir. Laß dein Vertrauen auf mich die Zweifel zertheilen, die auf deinem Herzen liegen.«
»Ferdinand!« sagte Julie mit Wonne, »wie soll ich dir das Gefühl des Danks ausdrücken, das deine Güte in mir erregt hat?«
»Du wirst mir deinen Dank,« antwortete er, »am besten beweisen, wenn du deine eignen Wünsche zu Rathe ziehst. Sey versichert, daß alles was, nur deine Glückseligkeit befördert, wesentlich zu der meinigen beyträgt. Laß nicht die Vortheile der Erziehung dich elend machen. Glaube, daß eine Wahl, bey der das Glück oder Elend deines ganzen Lebens auf dem Spiele steht, nur durch dich selbst entschieden werden muß.«
»Laß uns jetzt,« sagte Hippolytus, »nicht weiter auf diesen Gegenstand dringen – Sie bedürfen der Ruhe, meine Julie! und ich will nicht, daß meine eigennützige Ungeduld Sie länger davon zurück halte. Gewähren Sie mir nur diese einzige Bitte, daß ich morgen Nachts um diese Stunde wieder hierher kommen darf, um mein Urtheil zu empfangen.«
Julie willigte ein, ihn und Ferdinand anzunehmen, und sie verließen sogleich das Cabinett. Als sie sich in den großen Gang drehten, erschraken sie, ein Licht zu sehen, das auf die Wand strahlte, die ihre Aussicht hemmte. Es schien von einer Thür zu kommen, die auf eine schwarze, steinerne Treppe ging. Sie schritten eilends darauf los; aber es war fast augenblicklich verschwunden, und auf der Treppe war alles stille. Sie trennten sich nun, und gingen in ihre Zimmer, allerdings unruhig über einen Umstand, der sie argwöhnen ließ, daß ihr Besuch bey Julien bemerkt war. – Julie brachte die Nacht in unterbrochenem Schlummer Das Original hat hier »ununterbrochenem Schlummer«, was nur einer von zahlreichen Satzfehlern ist; in der englischen Originalausgabe ist von »broken slumbers« die Rede. – Anm.r.Hrsg., und ängstlichem Nachsinnen hin. Die Krisis ihres Schicksals hing an ihrer jetzigen Entscheidung. Ihr Bewußtseyn, welchen Einfluß Hippolytus über ihr Herz behauptete, machte sie furchtsam, dem Triebe desselben zu folgen, der ihr Urtheil bestechen konnte. Sie schrak vor dem schimpflichen Gedanken einer Flucht zurück; und doch sah sie kein Mittel diese zu vermeiden, außer sich in das Schicksal zu stürzen, das schrecklich über ihrer Einbildungskraft hing.