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Nachwort

Wer von uns hätte wohl, angesichts der von uns erlebten Katastrophe, den traurigen Ehrgeiz, recht behalten, das heißt den Mut zu der Behauptung, durch die ungeheuerlichsten Ereignisse der Weltgeschichte nichts hinzugelernt zu haben! Aber niemand, der am politischen Denken jener Zeit mitbestimmenden Anteil gehabt hat, darf die Spuren seiner früheren Schritte verwischen – nur deshalb erscheint dieses im Jahre 1927 veröffentlichte Buch in unveränderter Gestalt, jedoch mit einem Nachwort, das die Spannung zwischen meinem heutigen und dem damaligen Denken erkennbar macht. Nicht aus biographischem Interesse natürlich soll dieser Gegensatz hier zum Ausdruck kommen, vielmehr deshalb, weil der Verfasser ihn für zeittypisch hält.

Freilich: dem aufmerksamen Leser werden schon in den damaligen Ausführungen dialektische Spannungen nicht entgangen sein. Der Verfasser ging aus von den damals in der Sozialdemokratischen Partei herrschenden Anschauungen, um durch ihre eigene Dialektik ihre Fortbildung herbeizuführen. So wird in der materialistischen Geschichtsauffassung der immanente Idealismus sichtbar gemacht, so wird der auch dem Sozialismus unaustilgbar innewohnende Individualismus aufgezeigt, so wird selbst in atheistischem Freidenkertum noch die in ihm unbewußt verborgene Religiosität nachgewiesen. Deshalb braucht dieses Nachwort nicht die Substanz der früheren Gedanken zu verändern, vielmehr nur die Akzente anders zu setzen, nur das, was dort noch im Schatten stand, ins volle Licht zu rücken.

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Es gibt viele Wege zum Sozialismus; es gibt nicht nur den »wissenschaftlichen« Sozialismus, vielmehr, mit gleichem Recht, auch einen »utopischen«, einen »ideologischen«, einen »idealistischen« Sozialismus. Ich höre noch heute, wie der treffliche Eduard David in einer Sitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion mit unvergeßlichem Nachdruck sagte: »Was ist es, das unsere Genossen an die Partei bindet? ›Der Erde Glück, der Sonne Pracht, / des Geistes Licht, des Wissens Macht, / dem ganzen Volke sei's gegeben!‹ Das ist's – und nicht der wissenschaftliche Sozialismus.« Auch der Verfasser selbst muß gestehen, daß er nicht durch den wissenschaftlichen Sozialismus für die Partei gewonnen wurde, vielmehr durch das Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit.

Es gibt viele Wege zum Sozialismus, unter anderen auch den Weg, der von der Religion zum Sozialismus führt. Wir zeigten, daß auch die inbrünstige Diesseitigkeit den Kern der Religiosität enthalten kann. Religiöses Bedürfnis aber findet seine Ruhe erst in Gott – warum den Namen Gottes unterdrücken, wenn er sich unwiderstehlich auf die Lippe drängt! Gemeinschaftsbildende, überlieferungsfähige Gestalt erhält aber die Religiosität erst in einer der positiven Religionen: der abendländische Mensch ist, mag er es wollen oder nicht, »von Natur Christ«. Christentum aber ist keineswegs nur in der Gestalt denkbar, die Tolstoi der wörtlich verstandenen Bergpredigt entnahm: als ein metaphysischer Individualismus der allein wichtigen menschlichen Einzelseele, als eine anarchische Gleichgültigkeit gegen alle sozialen Lebensformen der diesseitigen Welt. Es gibt ein christliches Naturrecht und einen christlichen Sozialismus. Die päpstliche Enzyklika Quadragesimo anno will zwar von dem Namen Sozialismus nichts wissen, erklärt aber die Sozialisierung von Wirtschaftsunternehmungen für zulässig und unter Umständen für geboten. Auch im Protestantismus sind Bestrebungen entstanden zur christlichen Begründung des Rechts und zur Forderung eines christlichen Sozialismus.

Wenn also auch auf christlicher Grundlage Sozialismus als zulässig oder notwendig erkannt wird, wird der Sozialismus nicht, wie vielfach wohl bisher, die unchristliche, die weltliche oder Weltanschauungs-Schule als seine Schule oder zum mindesten die Abmeldung vom Religionsunterricht als die folgerichtige Haltung eines Sozialisten ansehen dürfen. Niemand darf zum Christentum gezwungen, niemand aber auch ihm ferngehalten werden. Die christliche Gemeinschaftsschule ist ebensowohl »unsere« Schule wie die weltliche oder die Weltanschauungs-Schule, die überdies eine entsprechende Weltanschauung als ausgebildete Gemeinschaftsform voraussetzt, wie sie jedenfalls heute noch nicht besteht.

Niemand soll zur Erziehung seiner Kinder in einer bestimmten Religion, Konfession oder Weltanschauung genötigt werden. Wir haben den auch gegen den Willen der Eltern geübten Zwang einer nationalsozialistischen Zwangserziehung mit zu tiefer Bitterkeit erlebt, um die Gefahren einer Formulierung zu verkennen, nach der Familienerziehung »anvertrauten Gemeinschaftserziehung« wäre. In der Bonner Verfassung (Art. 6, Abs. 2) heißt es mit Recht, daß die Erziehung der Kinder ein »natürliches Recht« der Eltern sei. Die ausnahmsweise Zulässigkeit einer Entziehung dieses Rechts kann niemals gegründet werden auf die Wahl der Religion, Konfession oder Weltanschauung, in der Eltern ihre Kinder erziehen wollen, nicht also auf weltanschauliche Gründe, vielmehr nur auf pädagogisches Versagen, nicht auf das Ziel, sondern nur auf unrichtige Mittel und Wege der Erziehung, z. B. auf Fanatismus und Intoleranz der weltanschaulichen Erziehung. Insofern muß auch die elterliche Erziehung eine demokratische Erziehung sein, aber Demokratie ist nicht sowohl eine Weltanschauung als eine Verfahrensweise, die für den Austrag weltanschaulicher Gegensätze in der Gesellschaft gilt.

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Der Sozialismus ist nicht an eine bestimmte Weltanschauung gebunden, er ist die gleichartige Folgerung aus mannigfach verschiedenen Weltanschauungen. Die Sozialdemokratie ist deshalb heute keine Weltanschauungspartei mehr, vielmehr eine politische Zweckpartei, eins im Ziel, vielfältig in der Begründung. Ich weiß sehr wohl, was es heißt, von der alten Weltanschauungspartei Abschied zu nehmen, von der sich die sozialistischen Arbeiter mit ihrem gesamten Wesen und Leben geborgen und getragen fühlten, aber der Übergang zu der neuen Form der Partei hat sich bereits unwiderruflich vollzogen. Er ist auch dadurch bedingt, daß die SPD aufgehört hat eine rein proletarische Klassenpartei zu sein. Der Sozialismus bedeutet heute nicht nur eine Forderung des Proletariats, vielmehr auch die Rettung des deklassierten Bürgertums, das in der Wirtschaftslage dem Proletariat gleichsteht, in der psychischen Haltung sich aber von ihm erheblich unterscheidet. Man wird trotzdem das Wort Klassenkampf aus dem Vokabular der Partei nicht streichen dürfen, solange der aktive Klassenkampf des Kapitals den seinem Wesen nach defensiven Klassenkampf des Proletariats fordert. Wir dürfen nicht vergessen, daß die nationalsozialistische Machtergreifung eine neue Form jenes aktiven Klassenkampfes war, und daß dieser Kampf seither die Form internationaler Machtausübung angenommen hat.

Politische Zweckpartei, nicht Weltanschauungspartei – daraus folgt auch dies, daß die Partei sich nicht an ein weltanschaulich begründetes Totalprogramm binden soll. Man tut nicht gut daran, sich erst selbst an einen Baum zu binden, um dann sagen zu müssen: Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Aktionsprogramm, kurzfristige Wahlparolen genügen, durch ein Programm auf lange Sicht schnitte man sich selbst die Möglichkeit ab, von unvoraussehbaren Ereignissen zu lernen und neuen Situationen sich anzupassen – wann wäre wohl die Zukunft unvoraussehbarer gewesen, als gerade jetzt! Die Aufstellung eines Totalprogramms muß auch dazu verführen, alle Fragen, die je begegnen können, im voraus lösen zu wollen, auch solche, die mit den Zentralforderungen in lockerem oder keinem Zusammenhang stehen. Das politische Leben und die persönliche Verantwortung würde Gewinn davon haben, wenn man künftig häufiger als bisher in solchen Fragen die Abstimmung freigäbe.

Ein totales Programm kennzeichnet eine Partei, die darauf rechnet, nach Art des Einparteienstaates unter Ausschließung der anderen Parteien für die Dauer im Besitz der Staatsgewalt zu bleiben – eine Partei, die nach dem Wesen demokratisch-parlamentarischer Parteien sich darauf einrichten muß, nur im Wechsel mit anderen Parteien zu regieren und deshalb nur Teilreformen durchführen zu können, bedarf nur eines Aktionsprogramms von Fall zu Fall.

Und sind wir wirklich auch nur über unser Ziel so sehr im klaren, um uns für alle Zeiten binden zu wollen? Über die Frage vor allem, ob wir an einem totalen Sozialismus marxistischer Prägung festhalten wollen, oder ob es genüge, die Feldherrenhügel der Wirtschaft zu besetzen, etwa Großbanken, Urproduktion, Schlüsselindustrien zu sozialisieren, das heißt, ob das Wesen des Sozialismus die restlose Austilgung jedes Unternehmerprofits, jeder Mehrwerts-Aneignung, jeder Ausbeutung sei oder nur die Überwindung der Wirtschaftsanarchie. Wir empfinden nach den gemachten Erfahrungen die Totalitätsgefahr eines totalen Sozialismus mehr als früher und müssen daran denken, ihr zu begegnen durch einen »freien Sozialismus« (nach der Terminologie Alfred Webers). Der Totalitarismus in beiderlei Gestalt glaubt den Rechtsstaat als »liberalistisch«, als »bürgerlich« zum alten Eisen werfen zu können – wir haben die Folgen erlebt. Auch der Sozialist muß sich deshalb mit der Überzeugung durchdringen, daß der demokratische Volksstaat zugleich ein Rechtsstaat sein muß, aufgebaut nach dem Prinzip der Gewaltenteilung und verpflichtet, menschliche Grundrechte zu achten und zu schützen. Wir wollen den Rechtsstaat, die Freiheit der Person und keine Diktatur, nenne sie sich auch Diktatur des Proletariats. Wir wollen die Freiheit der Wissenschaft und keinen Dogmenzwang, sei er auch der Zwang eines angeblich wissenschaftlichen Sozialismus. Wir wollen die Freiheit der Presse – auch der Parteipresse, denn nur die ungebundene Äußerung überzeugt über den Kreis der ohnehin Überzeugten hinaus: so konnte die alte Parteipresse, weil sie nur als ein selbst willenloses Sprachrohr der Partei galt, den Sektencharakter nicht überwinden, Einfluß auf die öffentliche Meinung der ganzen Gesellschaft nicht gewinnen. Wir bejahen diese individualistischen Freiheiten, weil der Sozialismus den Individualismus in sich trägt, gleichgültig, ob man ihn innerhalb des dialektischen Verhältnisses von Gemeinschaft und Freiheit als Vorbedingung oder als Endzweck ausdrückt: »Persönlichkeit in Gemeinschaft, Gemeinschaft im Werke«. Es darf nie wieder heißen: »Du bist nichts, dein Volk ist alles«. Dies haben wir freilich durch bittere Erfahrungen gelernt, daß wir es in Zukunft nicht dulden dürfen, wenn individualistische Rechte dazu benutzt werden sollten, den Individualismus gänzlich auszurotten, wenn die verfassungsmäßige Freiheit dazu mißbraucht werden sollte, diese Freiheit selbst endgültig zu beseitigen, kurz: wenn sich die Intoleranz noch einmal der Toleranz bedienen sollte, um sie völlig vernichten zu können (Vergl. Bonner Staatsgrundgesetz Art. 21, Abs. 2).

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Auch die hier vorgetragene Kulturlehre hatte von vornherein einen individualistischen Einschlag, ja, einen individualistischen Kern. Kulturlehre bedeutete uns nicht Kulturprogramm, vielmehr Kultursoziologie. Zur Frage stand, welchen Beitrag zur Kultur innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft die Masse leisten könne. Ich verstehe, wenn man diese Ausführungen heute mit einem heilsamen Schrecken liest. Wir haben in der nationalsozialistischen Vermassung Sprechchöre nach Art der heulenden Derwische und bewegliche Teppichbeete aus marschierenden braunen Uniformen und roten Armbinden als Symbole der Entmenschlichung mit Grauen erlebt. Aber die Frage bleibt, ob Kultur der Masse wirklich nur Unkultur sein könne oder ob Masse, zur Gemeinschaft veredelt, nicht auch Anlaß zu großen Schöpfungen werden könne, nämlich in jenen Kunstformen, die von der Gemeinschaft und zu der Gemeinschaft sind: in der Oper und in der Symphonie, im Drama und in der Architektur. Urquell kulturellen Schaffens bleibt jedoch die Persönlichkeit und ein menschliches Grundrecht, das freilich keine Verfassung bisher verbrieft hat, das Recht auf Einsamkeit.

Unsere Selbstkritik berührt nur einzelne Punkte dieses Buches. Sie richtet sich im wesentlichen nicht gegen die sozialistische Weltanschauung, wie sie hier geschildert wurde, vielmehr gegen die Auffassung der Partei als einer Weltanschauungspartei. So hofft der Verfasser, daß dieses Buch auch in der neuen Auflage seinen Weg finde zu allen, denen an einer weltanschaulichen Klärung gelegen ist, vor allem zu den jungen Menschen, die aus geistiger Not heraus eine weltanschauliche Entscheidung suchen.

Heidelberg, im Juli 1949.

Gustav Radbruch


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