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Außer Paul Tillichs »Die sozialistische Entscheidung« gibt es nur ein Buch in der deutschen sozialistischen Literatur, das im Thema ebenso zeitnahe wie im Gehalt überzeitlich ist: die »Kulturlehre des Sozialismus« von Gustav Radbruch. Die »Kulturlehre« erschien zuerst im Jahre 1922. Es war das Jahr, in dem Walther Rathenau ermordet wurde. Im nächsten Jahr folgte der Versuch Hitlers, durch einen Gewaltstreich die Staatsmacht an sich zu reißen. Die »Kulturlehre« setzt sich mit diesen und anderen Zeugnissen eines wachsenden fanatischen Nationalismus jener Zeit nicht unmittelbar auseinander, aber sie enthält trotzdem eine der stärksten Gegenpositionen zum unmenschlichen Terror des Nazismus wie jedes anderen Tolitarismus. Die überzeugende Kraft und geschichtliche Wirksamkeit dieser Sicht hat sich vor allem im Jungsozialismus erwiesen. Dieser Zusammenstrom von Arbeiterbewegung und Jugendbewegung hätte ohne die geistige Leistung und – nicht zuletzt – das menschliche Vorbild Radbruchs nicht die Tiefe haben können, die einmal eine große Hoffnung für den deutschen Sozialismus war. Es war die geschichtliche Tragik der sozialistischen Bewegung, daß sie es nicht verstand, die in dieser Grundhaltung enthaltenen geistigen Kräfte rechtzeitig und ausreichend zu entfalten und als politische Potenz zu aktivieren.
Neben den Arbeiten des jungen Marx und den Schriften von Eduard Heimann und Paul Tillich ist Radbruchs »Kulturlehre« wohl der stärkste Beweis dafür, daß der Sozialismus, wenn in genügender Tiefe und universal gewollt, mit innerer Notwendigkeit Humanismus sein muß. Der Humanismus unserer Zeit kann jedoch im Sinne des jungen Marx nur realer Humanismus sein, das heißt, er muß die gesellschaftliche Wirklichkeit sehen wie sie ist, und er muß eine gerechte Neuordnung dieser Gesellschaft wollen, die den Menschen aus seiner Selbstentfremdung löst und ihn zu sich selbst, zu Sinn und Würde seines Lebens kommen läßt.
Es mag überraschen, daß Radbruch, obwohl er in diesem Sinne gewiß Marxist ist, seine »Kulturlehre« als »ideologische Betrachtungen « bezeichnet, daß er darüber hinaus offen den Mut zur Ideologie fordert und sich dadurch mit einem Begriff belastet, der im besonderen in der sozialistischen Literatur verfemt ist und als Beweis einer »bürgerlichen« Denkart gilt. Aber die Ausweitung, die Radbruch dem Begriff der Ideologie gibt, rechtfertigt nicht nur seine Verwendung, sondern gibt ihm eine überzeugende positive Bedeutung. Dies ist kennzeichnend für Radbruchs Denken überhaupt und macht es besonders wertvoll für unsere Zeit, in der ein nihilistischer Drang zur Auflösung und Zerstörung noch immer weit verbreitet ist.
Der wesentliche Grund dafür, daß dieses Buch Geltung hat weit über die Zeit seines Entstehens hinaus und aller Voraussicht nach noch in weiteren Jahrzehnten starke Wirkungen ausüben wird, ist wohl, daß es in den entscheidenden Teilen nicht von einem Gelehrten erdacht, sondern von einem ganz in der vorwärtsdrängenden Bewegung seiner Zeit stehenden, den Geist dieser Zeit in ihren Menschen und vor allem in ihrer Jugend erfühlenden geistigen Menschen mitgelebt und danach gestaltet wurde. Dem widerspricht nicht, daß Radbruch wichtige Gedankengänge der »Kulturlehre« schon früher in seiner Rechtsphilosophie und in anderen Veröffentlichungen dargestellt hat. Schöpferisches Denken ist stets ein Vor-Denken. Wirklich fruchtbar, Menschen und ihre Welt formend aber ist nur ein Denken, das in der Fülle des Lebens steht, aus ihm schöpft und ihm im verantwortungsbewußten Dienst Weg und Richtung zu geben sucht. Die »Kulturlehre des Sozialismus« ist aus einem solchen Denken geboren, und sie lehrt deshalb nicht nur die Kultur des Sozialismus, indem sie die sozialistischen Ideale der verschiedenen Kulturgebiete auf ihren einheitlichen Grundsatz zurückführt und zu einem geschlossenen System sozialistischer Weltauffassung erhebt, sie schafft vielmehr zugleich die Grundlagen einer werdenden sozialistischen Kultur in den geistigen und sittlichen Überzeugungen, die sie hervorruft.
Diese neue Ausgabe der »Kulturlehre« ist die unveränderte Wiedergabe der zweiten, 1927 erschienenen Auflage. Es wurden lediglich die Aphorismen »Von deutscher Politik« aus dem Jahre 1931 eingefügt. Im Nachwort des Verfassers wird die unmittelbare Beziehung zur Gegenwart hergestellt.
Berlin, im März 1949.