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Vgl. Hermann Heller, Sozialismus und Nation, 1925; Paul Natorp, Der Deutsche und sein Staat, 1924; auch Lothar Erdmann, Die Gewerkschaften im Ruhrkampf, 1924, besonders S. 86 ff.
Sozialismus leugnet nicht die Ungleichheit der einzelnen Menschen. Sozialistische Demokratie als Führerauslese will jeden in seiner Eigenart auf seinen Platz gestellt wissen. Ebensowenig leugnet Sozialismus die Ungleichheit und Eigenart der Nationen. Wie ja Demokratie nicht ein Ziegelbau aus lauter gleichen einzelnen ist, sondern ein Quaderbau aus ungleichen sozialen Gruppen ungleicher einzelner, so ist die Internationale ein Quaderbau aus Nationen, nicht ein Ziegelbau aus Einzelmenschen. Nicht die »graue Internationale« eines Weltstaates (Lagarde), in dem die schöne Vielfarbigkeit der Nationen zu einer gräulichen Misch- und Mißfarbe verschmilzt, zu einer »riesigen Mittelmäßigkeit, in der die Charaktere und die Geister Form und Farbe verlieren würden« (Jaurès), sondern ein Weltbund der Völker, von dem das Wort von Jaurès gilt, »alle Vaterländer schwingende Saiten an der Lyra der Menschheit«. Wenn Sozialismus sein Ziel sieht in der Werkgemeinschaft, so vermag er nicht zu übersehen, daß der einzelne nur in der nationalen Gemeinschaft kulturschöpferisch ist. Die Internationale muß ihm eine internationale Arbeitsgemeinschaft mit nationaler Arbeitsteilung sein.
Aber ebensowenig vermag er zu übersehen, daß die Kulturaufgaben selbst internationaler Art sind: es gibt keine besondere deutsche Wahrheit, Schönheit und Sittlichkeit als Aufgaben des Kulturwirkens. Kulturnation und nationale Kultur sind keine Zweckgedanken; wie die persönliche Note, so darf auch die nationale Färbung nicht einmal ein Nebengedanke der Kulturarbeit sein. Wer nicht die Sache sucht, sondern das Seine, den eitlen Ausdruck individueller oder nationaler Eigenart, der verfehlt die Sache, ohne doch zur Persönlichkeit oder zur Nation zu gelangen. Wie die Persönlichkeit, so gehört auch die Nation zu jenen Werten, die man nur erreicht, wenn man sie nicht erstrebt – nur durch selbstvergessene Hingabe an die Sache. Es ist ein Zeichen, aber nicht ein Heilmittel unreifen und schwachen Nationalbewußtseins, in allen seinen Äußerungen nationalen Charakter zu erstreben. Man hat gesagt, deutsch sein heiße etwas um der Sache selbst willen tun; man kann hinzufügen: was ein Deutscher nur um der Sache selbst willen tut, ist unentrinnbar deutsch. Der Gedanke der nationalen Kultur bedeutet nicht ein vorgenommenes Ziel der Kulturarbeit, sondern ein nachkommendes Urteil über das Kulturwerk. Das Leben, während es gelebt wird, steht unter den Gesetzen des Guten, des Wahren, des Schönen; nur das gelebte Leben verfällt den Wertungen »Persönlichkeit« und »Nation«. Sie gehören der Geschichte, und es ist das Kennzeichen eines historistischen Zeitalters, daß es Wertungen, welche ausschließlich der nachträglichen geschichtlichen Betrachtung angehören, als Zielsetzungen in das Leben übertragen zu können glaubt. Auch hier dient zur Widerlegung des Historismus die Geschichte selber. Das Nationalbewußtsein war immer dann das stärkste, wenn sich eine Nation zur Mission einer übernationalen Idee berufen fühlte. Das moderne Nationalbewußtsein nimmt seinen Anfang bei jenen französischen Revolutionsheeren, welche die Ideen von 1789 gegen die Koalition des europäischen Despotismus verteidigten. In und mit der französischen Nation wollten sie etwas größeres als diese erretten und über die Welt ausbreiten: die neue Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In und mit der deutschen, der russischen Nation gilt es heute, den Weltgedanken des Sozialismus der Welt zu erhalten und zu gestalten. Das ist die Struktur des Nationalbewußtseins: das Bewußtsein eines Volkes, erstgeborener Träger eines Menschheitswertes, »Menschheitsvolk« zu sein. Das Nationalbewußtsein selbst weiß also nichts von der nationalen Eigenart des Geforderten und Erreichten – dessen nationale Bedingtheit und Gefärbtheit festzustellen ist eine spätere Obliegenheit der Geschichte. Menschheitswerte, nicht mit dem Spiegel in der Hand nationale Sonderkultur zu schaffen und es nachkommenden Geschlechtern zu überlassen, im sachlich Wertvollen auch noch die nationale Charakterhandschrift zu erkennen: das allein ist die Art eines selbstbewußten Volkes.
Um der Vielstimmigkeit der Kultur willen muß jede nationale Stimme erhalten bleiben. Deshalb muß jede nationale Kultur in eine feste Schale nationaler Macht eingeschlossen werden, Macht nicht, um fremden Nationen die eigene Kultur aufzunötigen, sondern um die eigene Kultur vor der Gefährdung durch fremde Macht zu schützen. Von jener chauvinistischen Auffassung aber, die nationale Macht als bewußten Eigenzweck erstrebt wissen möchte, grenzt sich die sozialistische Auffassung der Nation bewußt und scharf ab. Nation ist ein Volk in seiner Eigenart. Diese Eigenart drückt sich aus in seiner Kultur. Die Nation ist also wesentlich Kulturnation. Der chauvinistischen Auffassung aber sind die Nationen »Mächte«, nach der Quantität ihrer Macht voneinander verschieden und miteinander vergleichbar, also qualitativ einander gleich. Der Höhepunkt chauvinistischer Staatsauffassung, der Krieg, ist zugleich der Tiefpunkt nationaler Besonderung. Es ist ein Sinnbild, daß die vielfältige Buntheit der nationalen Friedensuniformen im Kriege für alle Nationen in der fast gleichen Erdfarbe unterging. Jede kämpfende Nation zwingt der andern die gleichen Kampfmittel auf, ja, die Psychologie der Kämpfer wird diesseits und jenseits des Drahtverhaues die völlig gleiche – »Das Feuer« von Barbusse ist nicht nur die Geschichte einer französischen, sondern zugleich auch jeder beliebigen deutschen Korporalschaft an der Front. Man hat freilich in der Machtquantität der Staaten die Indexziffer für die Kulturqualität der Nationen sehen wollen, eine Proportionalität von Kultur und Macht behauptet, den Krieg, in dem sich die Mächte messen, zugleich als das Examen rigorosum der Kulturen und (bis zur eignen Niederlage) den Sieg als dessen stets gerechten Ausgang gepriesen. In der Tat kann sich der Höhengrad der Naturwissenschaft und der Technik, der Wirtschafts- und Verkehrsorganisation, des Bildungswesens und der Sozialethik in einem entsprechenden Maße militärischer Überlegenheit ausdrücken, aber keineswegs läßt sich der ganze und nicht einmal der wesentlichste Kulturbesitz in militärische Energie umsetzen. Die Kulturwerte Goethe, Dante, Shakespeare, Molière können nicht als Torpedos verschossen, als Giftgase Verblasen werden und wenn dennoch Torpedos und Giftgase darüber entscheiden, welche Ausbreitung in der Welt eine Sprache und damit eine Kultur genießen soll, so entscheidet nicht das Gottesgericht des Krieges, sondern das Würfelspiel des Zufalls, und wenn die nachmalige Geschichtsschreibung die Weltgeschichte als das Weltgericht preist, so ist es nur, weil der Sieger stets auch die Geschichte schreibt. Die höchsten Kulturwerte lassen sich nicht in militärischen Machtziffern, sie lassen sich überhaupt nicht in Quantitätsbestimmungen ausdrücken Kultur ist nicht meßbare Quantität, sondern reine, unvergleichbare Qualität, und wer die Nationen nur sehen kann als konkurrierende oder gar kämpfende Kulturmassen verschiedener Größe, hat die Kulturnation aus seinem Gesichtskreise überhaupt ausgeschlossen.
Aus dem gleichen Grunde der Vernichtung der Kulturqualitäten und ihrer Verwandlung in Geltungsquantitäten heraus, aus dem der Sozialismus den wirtschaftlichen Wettbewerb der einzelnen bekämpft, bekämpft er die kriegerische Auseinandersetzung der Völker. Sozialismus und Pazifismus sind einer Grundlage und eines Geistes.