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Vgl. Anton Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890, 4. Aufl. 1908; Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, 1929; Gustav Radbruch, Ihr junge Juristen! 1919; Der Mensch im Recht, 1927; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. Aufl. 1927; Ernst Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, 1927; Anatol Rappoport, Die marxistische Rechtsauffassung, Riga 1927; Emmanuel Lévy, La Vision socialiste du droit, Paris 1926.
Das liberale Zeitalter hat so gründliche und eindringliche Geistesarbeit getan, daß uns der vereinzelte Mensch, von dem es ausgeht, nicht mehr als eine Abstraktion, sondern als eine Realität erscheint, die einfache Tatsache aber, daß es den vereinzelten Menschen gar nicht gibt, daß der einzelne in allen seinen Beziehungen und Eigenschaften durch und durch vergesellschafteter Mensch ist, erst wieder dem Bewußtsein nahegebracht werden muß. Das liberale Zeitalter hat uns in einen Geisteszustand versetzt, in dem wir recht eigentlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen vermögen. Wir haben diese Tatsache aufgewiesen an der liberalen Kulturidee, an der demokratischen Ideologie; am beweiskräftigsten aber tritt sie uns in der individualistischen Rechtsauffassung entgegen, die heute das Rechtsdenken beherrscht und erst langsam durch eine neue soziale Rechtsauffassung verdrängt zu werden beginnt.
Wir können diese individualistische Rechtsauffassung als die privatrechtliche Rechtsauffassung bezeichnen, denn vom Privatrecht, dem Recht des einzelnen, geht sie aus. Das Privatrecht, insbesondere das Privateigentum, ist ihr die Herzkammer alles Rechts, das öffentliche Recht, das Recht des Staates, nur ein schmaler, schützender Rahmen, der sich um Privatrecht und Privateigentum legt. Der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ist die Krone ein Amt im Dienste der Allgemeinheit, das Privateigentum aber ein unverletzliches, unverjährbares, geheiligtes Recht – den Thron, den die absolute Monarchie räumen muß, besteigt das absolute Kapital! Privateigentum und Vertragsfreiheit sind nun die Grundsäulen des Rechtssystems. Die ganze Rechtswelt wird ideologisch als ein Gewebe freiwillig eingegangener gegenseitiger Verpflichtungen aufgefaßt. Man verkennt, daß Privateigentum und Vertragsfreiheit zueinander in Widerspruch stehen, daß Privateigentum, verbunden mit Vertragsfreiheit, nicht nur eine Macht über Sachen, sondern eine Macht über Menschen bedeutet und Vertragsfreiheit Freiheit wohl für denjenigen, der diese Macht besitzt, Wehrlosigkeit aber für den, gegen den diese Macht sich richtet. Gestützt auf sein Privateigentum, kann der Besitzende warten, bis sich ihm die arbeitenden Hände zu den ihm genehmen Arbeitsbedingungen anbieten, während der Nichtbesitzende früher oder später genötigt ist, seine Arbeitskraft um den Preis zu verkaufen, den ihm der Besitzende bietet. Wir nennen Privateigentum, insofern es nicht nur über Sachen Macht verleiht, sondern über Menschen, Kapital. Das kapitalistische Rechtssystem bedeutet unter dem Scheine einer auf Freiheit und Gleichheit aller gegründeten Ordnung in Wahrheit nichts anderes als das von ihm überwundene System der Hörigkeit der Werktätigen – nur daß dieses, indem es in verschiedenen Rechtsformen Hintersassen ihrem Grundherrn zu eigen gab, diesem eben damit auch Pflichten der Treue und Fürsorge gegen die ihm anvertrauten Menschen auferlegte, während das System des dem Rechtsscheine nach nur auf Sachen bezogenen Privateigentums und der dem Rechtsscheine nach bestehenden Vertragsfreiheit die Beziehungen zwischen Kapitalisten und Werktätigen ohne jeden sozialethischen Hintergrund lediglich auf die letzten Endes von der einen Seite diktierten Vertragspflichten beschränkte. Das Hörigkeitsverhältnis war zwar ein menschenunwürdiges Rechtsverhältnis gewesen, aber doch ein Rechtsverhältnis, das, weil es unverhohlen Menschen zu seinem Gegenstand hatte, auf Menschen als seinen Gegenstand zugeschnitten, von sozialer Sittlichkeit durchdrungen war. Das System des auf Sachen beschränkten Privateigentums und der Vertragsfreiheit zwischen Menschen sieht im Arbeitsverhältnis nur noch den Austausch zweier als gleichartig angesehener Vermögensgüter, Arbeit und Lohn, verkennt also, daß Arbeit nicht ein Vermögensgut wie andere Vermögensgüter ist, sondern nichts anderes als der ganze Mensch, und gestaltet das Arbeitsverhältnis dementsprechend, d. h. so, als wenn Arbeitskraft eine Sache wäre und nicht ein Mensch. Nicht ohne Grund wendet die juristische Bezeichnung des Arbeitsverhältnisses als Dienstmiete, als Werkmiete auf die Arbeitskraft den gleichen Rechtsbegriff an wie auf Sachgüter, den Begriff der Miete. Die geschilderte Auswirkung des kapitalistischen Privatrechts kann aber letzten Endes dahin ausgedrückt werden, daß die individualistische Rechtsauffassung sowohl in dem Besitzenden als auch in dem Nichtbesitzenden nur den isolierten Einzelmenschen, nicht den vergesellschafteten Menschen, die soziale Machtposition und die soziale Ohnmachtsposition erblickte.
Diese individualistische Rechtsauffassung durchdrang aber nicht nur das Privatrecht, sondern alle Rechtsgebiete, vor allem auch das Strafrecht. Wie im Arbeitsverhältnis Arbeit und Lohn sich gegenübertreten, so stellt überkommenes Vergeltungsstrafrecht Verbrechen und Strafe als Äquivalente einander gegenüber. Wie dort die Arbeit, so wird hier das Verbrechen, losgelöst aus dem Gesamtzusammenhang der Persönlichkeit, als ein Sachwert betrachtet, den man mit anderen Sachwerten ausgleichen könne, wird verkannt, daß nicht ein Verbrechen sich selbst verwirklicht, sondern ein Mensch ein Verbrechen begangen hat und ein Mensch der Strafe unterzogen werden soll, erst recht verkannt die Einbettung dieses Menschen in die gesamte Gesellschaft und die gesellschaftlichen Wurzeln seines Verbrechens. Dem überkommenen Strafrecht ist der Verbrecher lediglich der »Täter«. Wie die Arbeiter nur »Hände« sind, nicht, wie sogar nach dem Sprachgebrauch der russischen Leibeigenschaft, »Seelen«, also lediglich als Täter ihrer Arbeit vom Privatrechte ins Auge gefaßt werden, so sieht das überkommene Strafrecht den Verbrecher lediglich in der Beziehung auf seine Tat, nicht in seiner überwiegendenteils gesellschaftlich bedingten Gesamtpersönlichkeit.
Schon hat aber das Bild des vergesellschafteten Menschen begonnen, sich auch im heutigen Rechte Geltung zu verschaffen. Es ist der Sinn der gegenwärtigen Strafrechtsentwicklung, das Verbrechen als den Menschen selbst in einer einzelnen Auswirkung, den verbrecherischen Menschen als die Gesellschaft in einer einzelnen Auswirkung und das Strafrechtsverhältnis als einen durch und durch gesellschaftlichen Vorgang: als die Selbstheilung des kranken Gesellschaftskörpers anzusehen. Das aber ist, dem Wort wie dem Sinn nach, die »sozialistische« Auffassung von Verbrechen und Strafe. Freilich, in einer ungerechten Gesellschaft kann auch das gerechteste Strafrecht immer nur relativ gerecht sein, muß die Hauptlast auch des gerechtesten Strafgesetzbuches immer auf die Schultern der Besitzlosen fallen. In einer Gesellschaft der Ungleichheit bedeutet gerade gleiches Strafrecht für alle die erschütterndste Ungleichheit gegen die Besitzlosen. »Das Gesetz verbietet in seiner majestätischen Gleichheit dem Reichen wie dem Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen«, sagt Anatole France, und mit dem Zynismus der Selbstverständlichkeit sagt schon ein altes deutsches Sprichwort: »Zum Müßiggange gehören entweder hohe Zinsen oder hohe Galgen«. Wenn nach Franz v. Liszts berühmtem Wort eine gute Sozialpolitik zugleich die beste Kriminalpolitik ist, dann holt das Strafrecht im Grunde zum Schaden des Verbrechers nach, was die Sozialpolitik im Dienste an ihm versäumt hat. Gewiß wird es auch in der besten Gesellschaftsordnung noch ein Verbrechertum und eine Gegenwirkung der Gesellschaft gegen dieses Verbrechertum geben müssen, ein Verbrechertum, das nicht nur auf der proletarischen Lage, sondern auf biologischer Entartung beruht. Das Proletariat ist durch eine bestimmte Stellung im Produktionsprozeß gekennzeichnet, diese Stellung wird sich durch die sozialistische Umbildung der Gesellschaft von Grund aus ändern, und mit dieser Änderung wird auch die durch die proletarische Lage bedingte Kriminalität verschwinden. Das biologisch bedingte Verbrechertum aber gehört zum großen Teil dem »Lumpenproletariat« an, rekrutiert sich keineswegs nur aus dem Proletariat, sondern gleichermaßen aus Deklassierten aller Gesellschaftsklassen, die sich infolge ihrer biologischen Entartung in den Produktionsprozeß nicht einzuordnen vermochten, es steht also ganz außerhalb des Produktionsprozesses – keine noch so zweckmäßige Regelung des Produktionsprozesses kann es zum Verschwinden bringen. Vgl. Oda Olberg, Die Entartung in der Kulturbedingtheit, 1926. Die Entwicklungsrichtung des Strafrechts schon in der gegenwärtigen Gesellschaft aber muß die sein, die dem heutigen Strafrecht entsprechende Gegenwirkung immer mehr auf diese Kerntruppe des Verbrechertums zu beschränken, der mit keinerlei Sozialpolitik beizukommen ist, dem Verbrechen gegenüber aber, das aus der Unvollkommenheit unserer sozialen Zustände entspringt, das Strafrecht immer mehr durch die Fürsorge zu ersetzen. Ein solcher fortschreitender Abbau des Strafrechts, zumal der Freiheitsstrafe, ist auch bereits im Gange. In geringfügigen Fällen wird immer mehr die Möglichkeit eröffnet, von Strafe abzusehen oder die Anklageerhebung überhaupt zu unterlassen. Die Geldstrafe ist im fortschreitenden Vormarsch gegenüber der Freiheitsstrafe. Binnen kurzem wird es in den Strafgesetzen keine ununterschreitbaren Mindeststrafen mehr geben. Durch Bewährungsfristen wird wenigstens der Vollzug der Freiheitsstrafen in zahlreichen Fällen erspart. Sichernde Maßnahmen, Unterbringung in Anstalten aller Art, sind im Begriffe, die Strafe immer mehr zu verdrängen. Die sogenannte kleine Kriminalität der Bettler, der Landstreicher, der Dirnen wird schon in absehbarer Zukunft nicht mehr unter Strafgesetze, sondern unter Verwahrungsgesetze fallen. Es gibt schon heute einen Strafgesetzentwurf, der das ferne Ziel der Strafgesetzentwicklung vorwegzunehmen sich erkühnt: der italienische Entwurf des Sozialisten Enrico Ferri kennt nur noch Maßnahmen zur Besserung und Sicherung oder, wie er sie nennt, Sanktionen, aber keine Strafen mehr.
Am sichtbarsten aber zeigt sich die Hinwendung schon des heutigen Rechtes zum vergesellschafteten Menschen in der Neugestaltung des Arbeitsverhältnisses. Das überkommene Privatrecht, das »bürgerliches« Recht auch im Klassensinne heißen könnte, kannte nur gleiche Rechtssubjekte, die in beiderseits freiem Entschlüsse miteinander Verträge eingingen, nicht den Arbeiter in seiner Machtunterlegenheit gegenüber dem Unternehmer. Es wußte auch nichts von der Solidarität der Arbeiterschaft, welche diese Machtunterlegenheit des einzelnen Arbeiters gegenüber dem Unternehmer auszugleichen suchte, nichts von den großen Berufsverbänden, die mit ihren Tarifverträgen die eigentlichen Vertragschließenden des Arbeitsvertrages sind, es sah ausschließlich den einzelnen Kontrahenten und den einzelnen Arbeitsvertrag. Es wußte schließlich nichts von der Verbandseinheit des Betriebes; das bürgerliche Recht vermochte nur eine Vielheit von Arbeitsverträgen desselben Arbeitgebers mit untereinander durch keinerlei Rechtsband verbundenen Arbeitnehmern zu sehen, aber nicht die Belegschaft des Betriebes als eine geschlossene soziologische Einheit. Dies aber ist das Wesen des neuen Arbeitsrechts, daß es nicht wie das abstrakte bürgerliche Recht nur Personen, sondern Unternehmer, Arbeiter, Angestellte, nicht nur Einzelpersonen sieht, sondern Verbände und Betriebe, nicht nur die freien Verträge, sondern auch die schweren wirtschaftlichen Machtkämpfe, die den Hintergrund dieser angeblich freien Verträge bilden, daß es die Einzelmenschen als Glieder ihres Verbandes, ihres Betriebes, letzten Endes der ganzen Wirtschaft und Gesellschaft sieht mit all den Motiven, die sich daraus ergeben, den Motiven des Gemeinsinns oder zum mindesten jenes kollektiven Egoismus, den wir Solidarität nennen. Nicht nur der Arbeiter, auch der Unternehmer wird als Organ eines Kollektivgebildes erkannt. Hinter der Einzelperson des Unternehmers taucht das Kollektivgebilde der Unternehmung auf. Der Unternehmer von ehedem durfte von seinen Arbeitern sagen, was Mephisto von seinen Pferden sagt:
»Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
sind ihre Kräfte nicht die meinen?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
als hätt' ich vierundzwanzig Beine.«
Jetzt erst wird die Tatsache wiederentdeckt, daß die »Hände«, mit denen der Unternehmer arbeitet, nicht seine Hände sind. Konnte nach bisherigem Recht der Unternehmer das Wort Ludwigs XIV. abgewandelt auf sich anwenden: »Der Betrieb bin ich«, so kann schon heute auf Grund des Betriebsrätegesetzes in gewissem Sinne jeder Arbeiter sagen: »Der Betrieb sind wir alle«. Im Betriebsrätegesetz hat sich die gedanklich größte Rechtsrevolution seit 1789, freilich nur in den ersten Anfängen, zu vollziehen begonnen.
Den Kollektivmenschen als Gegenstand der Rechtsforderung denken, heißt aber gleichzeitig ein Stück kollektiver Sittlichkeit in ihn mit eindenken. Eine neue Versittlichung des Rechts ist im Begriff, sich zu vollziehen, eine neue Erfüllung des Rechts mit ethischem Pflichtgehalt. »Eigentum verpflichtet«, sagt die Reichsverfassung, »sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.« Schon beginnt diese Anschauung, wo nicht zum wirklichen Ethos, so doch zur konventionellen Lüge zu werden, die bekanntlich den Tribut des Lasters an die Tugend bedeutet. Schon scheut sich das Kapital, sich selber Kapital zu nennen und damit seine bloß eigennützige Funktion einzugestehen. Immer lieber hört es sich die »Wirtschaft«, hört sich der Kapitalist »Wirtschaftsführer« nennen und gibt so wenigstens theoretisch der Ansicht Ausdruck, daß nur in der volkswirtschaftlichen Funktion des Kapitals und des Kapitalisten ihre Rechtfertigung gesucht werden könne. Privateigentum und Vertragsfreiheit erscheinen immer mehr als ein der Privatinitiative innerhalb des allumfassenden öffentlichen Rechts vorläufig und bedingt gewährter Spielraum, gewährt in der Erwartung, daß die Privatinitiative, indem sie ihren Nutzen sucht, zugleich dem Allgemeinwohl dienen werde, entziehbar, sobald diese Erwartung sich als unzutreffend erweisen sollte. Und so zeichnen sich schon in der gegenwärtigen Rechtsordnung Grundlinien einer zukünftigen sozialistischen Rechtsordnung ab, einer Rechtsordnung, in der das Privatrecht, heute mehr und mehr vom öffentlichen Recht beherrscht und durchdrungen, im öffentlichen Recht völlig aufzugehen bestimmt ist.
Diese Auffassung des Rechts ist es, der das Heidelberger Programm der SPD in der Forderung Ausdruck gibt: »Unterordnung des Vermögensrechts unter das Recht der sozialen Gemeinschaft.«