Wilhelm Raabe
Altershausen
Wilhelm Raabe

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Wilhelm Raabe

Altershausen

Die unvollendete Erzählung erschien erstmals 1911, ein Jahr nach dem Tode des Autors.

»Überstanden!«

Der das sagte, lag in seinem Bette, und nach dem Licht auf dem Fenstervorhang zu urteilen, mußte die Sonne eines neuen Tages bereits ziemlich hoch am Himmel stehen. Es war dem befreienden Seufzerwort ein längeres Zusammsuchen, erst der körperlichen Gliedmaßen, sodann der noch vorhandenen geistigen Fähigkeiten voraufgegangen. Beides nicht, ohne daß es, wie die Kinder sagen: wehe getan hatte.

Das Alter spricht oft der Kindheit ein Wort nach, weil es von Natur kein besseres weiß und, wenn es im Laufe der Jahre danach gesucht haben sollte, keins gefunden hat. Man braucht sich nicht immer an einer Tischecke gestoßen haben, es kann einem auch sein siebenzigster Geburtstag freundschaftlichst, ehrenvoll-feierlichst begangen worden sein.

Man schrieb den vierundzwanzigsten August, an welchem Datum im Jahr neunundsiebenzig nach unseres Herrn und Erlösers Geburt Herkulanum und Pompeji verschüttet worden waren und an dem im Jahr fünfzehnhundertzweiundsiebenzig der heilige Bartholomäus im himmlischen Ehrensaal in kopfschüttelnder Betrachtung vor dem Glasschrank mit seiner Erdenhaut stand, brummte:

»Hm, hm, hm!«

und sich fragte:

»Hab ich die mir eigentlich dafür von meinen lieben Armeniern abziehen lassen?« –

Am Tage vorher, das heißt nicht vor dem Untergang von Herkulanum und Pompeji oder der Pariser Blutnacht des heiligen Bartholomäus, sondern an einem weder historisch noch ethisch gleichwertigen dreiundzwanzigsten August eines der letzten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts hatte vor siebenzig Jahren das Menschenkind, das jetzt aufrecht im Bette saß, das Licht der Welt, wie man euphemistisch sagt, erblickt, und seine gegenwärtige Mitwelt: Verwandtschaft, Freundschaft und Bekanntschaft – Patronen- und Kliententum, schien sich wirklich gefreut zu haben, den Tag unter ihren Erlebnissen mitfeiern zu können. Ein langer Satz, aber dem Geschehnis angemessen! –

Es roch um den erwachenden Jubelgreis nach Kuchen – Geburtstagskuchen, Hochzeitkuchen, Begräbniskuchen – nach dem Kuchen aller Erdenfestlichkeiten! und der Jubelgreis mit den mühsam wieder zusammengesuchten Körper- und Geisteskräften bin

I c h ,

nun der Schreiber dieser Blätter.

Auf die Postille gebückt zur Seite des wärmenden Ofens und – immer noch den Kuchengeruch des Lebens in der Nase?...

Siebenzig Jahre nun und – für das Alter immer noch merkwürdig gut auf den Beinen, wie man das ausdrückt! und fünfunddreißig Jahre so ungefähr, seit mein Weib zu dem blauen Himmel auf und in den Sommersonnenschein und den Kinderlärm der Gasse hinein, dem ihr Unfaßbaren, Unbegreiflichen gegenüber, wild-böse durch den jungen Schmerz gemacht, unserm Schicksal zuschluchzte:

»Das schöne Wetter, und mein Kind nicht mehr dabei!«...

Seit länger als dreißig Jahren wächst auch das Gras auf dem Hügel, der meine Frau neben dem Kinde deckt. Gute und schlechte Witterung hat, seit die Lieben mich des Weges allein ziehen ließen, nach gewohnter Weise auf Erden gewechselt und – ich habe mich gut »konserviert«. Alle sagen das, und auch mein allergnädigster Landesherr wird, wenn ich ihm demnächst meinen Dank für den huldreichst verliehenen hohen Orden zu Füßen legen werde, vielleicht eine ähnliche freundliche Bemerkung fallenlassen. Jawohl, es war ein sehr schönes Festwetter, und die Kinder spielen, lärmen, jauchzen noch immer in den Gassen: mein Weib und mein Kind nicht mehr dabei; aber wir anderen recht vergnügt bei Tische. Ich jedenfalls noch vorhanden in perfect health and memory – bei guter Gesundheit und klarem Bewußtsein – wie es in einem, nicht bloß den nächsten Erben bekanntgewordenen Testament heißt!

Fünfzehn Jahre bedeuten nach dem Wort des Historikers eine lange Zeit für den Menschen und sein Leben, dreißig eine längere. Was alles kann der Mensch hinter sich lassen und vor sich bringen, bis er vor der Zahl siebenzig und dem berühmten biblischen Wort steht? Mir brauchte kein solcher »Jubeltag« zu kommen, um mir das deutlich zu machen, nur etwas deutlicher konnte es mir dadurch gemacht werden.

Ich stehe weder vor einer verschütteten Erdenwelt noch im Reich der Himmel vor meiner Märtyrer-Ehrenhaut: ich stehe nur noch immer auf meinen Füßen; aber es ist nicht wahr, was einige behaupten, nämlich daß ich das einzig und allein meinem guten Magen zu verdanken habe. Man darf übrigens dergleichen Gerede in einem Dasein, welches wie das unserige recht sehr auf eine gute Verdauung in Verbindung mit den dazugehörigen Zähnen angewiesen ist, nicht allzu absprechend von sich weisen. Es kann nicht alles aus dem Herzen kommen. –

Viel herzlichen Dank hatte ich zu sagen gehabt. Sie waren gekommen: alle, von denen ich es wohl erwarten durfte, aber auch viele, von denen es mir nicht zu vermuten war, sogar etliche derer, von welchen ich es ganz gewiß wußte, daß ich ihnen nur zum Ärgernis und Verdruß gelebt, mein Handwerk getrieben hatte und siebenzig Jahre alt geworden war.

Ich würde ein Narr und Heuchler sein, wenn ich niederschreiben wollte, daß das mir nur mißfallen habe. Recht wohlgefallen hatte mir manches: es ist nicht alles Komödie in der Welt, es gibt nicht bloß den Begriff Ehrlichkeit, sondern auch ehrliche Leute, und an die habe ich mich an diesem Festtage gehalten und anderes gewähren und machen lassen und Höflichkeiten nach Erdenschicklichkeit höflich erwidert, ohne grade meinem Feinde, wenn er mich auf die eine Backe geküßt hatte, ihm auch die andere hingehalten zu haben.

Genug davon. Das wäre fein, die ersten Stunden der Muße mit Würde an das zu verwenden, was jeder Zeitungsberichterstatter werkmäßiger und besser zu Papiere bringt!

Das?

Ja das: feierliche Begehungen von tausend-, fünfhundert-, hundertjährigen menschheitlichen Gedenktagen – das, was die Menschheit so im einzelnen Beschreibungs- oder doch Besprechungswertes an sich erleben kann, wäre es auch nur nach fünfundzwanzig, fünfzig oder siebenzig Jahren Daseins auf der Erde als Familienmitglied, Staats- und Geschäftsmann oder – – sonst so was!

Wenn übrigens »wegen den Geburtstägen im August« vielleicht noch irgend etwas zu bemerken wäre, so kann darüber nachgelesen werden in einem Briefe aus dem Jahre 1777, wo der Berichterstatter für »sein Blatt« schreibt:

»Es hatte schon den ganzen Tag gemunkelt, daß 'n Feuerwerk abgebrannt werden sollte, nun ward es aber hautement declarirt, und die ganze Gesellschaft begab sich in Procession hinten in meines Vetters Garten neben dem Echafaut, das Feuerwerk anzusehen. Es bestand aus einem Petermännchen von anderthalb Zoll und reussirte ungemein. Weil so'n Ding gar zu herrlich anzusehen ist, hab' ich mir von meinem Vetter das Recept ausgebeten und will's Dir hier communiciren. Man nimmt 2 Loth Pulver, reibt es klein und thut Brunnenwasser dazu quantum satis; denn wirds 'n Teig, und man formt es, entweder kegelförmig wie'n Kirchthurm, oder viereckigt, wie die Pyramiden in Egypten waren, thut oben darauf einige Körner trockenes Pulver und zündet's an... Um 10 Uhr 8 Minuten gieng das Feuerwerk an, und währte bis 10 Uhr 8⅓ Minute. – Du lachst, Andres?« – – – – – – – – – –

Ob der gute Korrespondent des Wandsbecker Boten über diese Schilderung des Festes gelacht habe kann ich nicht sagen: was mich anbetrifft, so beschließe ich die Beschreibung des Höhenpunktes der Feier meines siebenzigsten Geburtstags wie Freund Asmus:

»Um 10 Uhr 8 Minuten ging das Feuerwerk an, und währte bis 10 Uhr 8⅓ Minute.«

Das stimmte, was meine persönlichste, innerlichste Beteiligung dabei anbetrifft. Wenn jedoch der Bote einigen ethischen und moralischen Betrachtungen und Nutzanwendungen noch hinzufügt:

»Um Eilf Uhr giengen wir zu Bett, und schliefen flugs und fröhlich ein«,

so stimmt das nicht ganz mit dem Verlauf meines Festes. Es währte ein wenig länger, ehe die letzten bei Tisch die dem Alter gebührende Rücksicht nahmen. Mit dem mittäglichen Sonnenschein noch eines neuen Tages auf dem Fenstervorhang hat ja wohl der Greis diese Federkritzeleien begonnen?

Noch dabei, ihr Toten!...

Das ist es also gewesen, wozu man mir Glück gewünscht hat? Ich gehe nun »auf die Achtzig los«: die, welche gekommen waren, mir zu dem »Siebenzigsten« zu gratulieren mit dem natürlich angefügten Ad multos annos, sind in der Zeit wieder ihren eigenen zeitlichen Sorgen, Nöten und Geschäften nachgegangen und denken nicht mehr an mich oder, wenn sie noch an mich denken, solches wohl nur mit »gemischten Gefühlen«: dieses Wort wahrlich nicht bloß im ironischen oder gar hämischen Sinne genommen, sondern im recht treumeinenden, im sehr ernsten.

Gemischte Gefühle! welch ein Wort dann und wann für eine Morgenstimmung! Wie aber stellt sich solchem Gefühl und Gefühlen gegenüber ein alter Doktor zu einem anderen Wort:

Arzt, hilf dir selber!
?

Im folgenden mag es sich denn ablagern, wie das Fragezeichen beantwortet worden ist. Lasset euer Brod über das Wasser fahren! heißt es in der Heiligen Schrift.


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