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»Siehst du, wie ich es gesagt habe, er hat seine Uhr im Magen, und sie geht ganz genau und richtig«, sagte lächelnd Minchen Ahrens. »Da kommt er den Berg herunter und will nach Haus zum Essen.«
Geheimrat Feyerabend hob das Haupt, wie es aus einem Traume emporgerufen. Es kostete ihm einige Mühe, sich wieder zu überzeugen, daß er wirklich noch in dem gegenwärtigen Tage, in dem schönen Wetter, in der schönen Sonne von heute mit vorhanden sei. Das alte Weibchen an seiner Seite hatte ihn zu tief in eine Welt, in der auch er mal mitgespielt hatte, mit den anderen und mit ihr gegenwärtig gewesen war, hinuntergezogen! Und – es behielt den Zauberstab in seiner Hand, vertraulichst, zutraulichst, ohne die geringste Scheu und jeglichen Respekt vor den Lehr- und Hörsälen der Erdenwelt und am allerwenigsten vor den Wonneburgen der Walchen. –
Sie sahen die schwerfällige, wackelige Gestalt ihren Weg die Berglehne hinab zu sich herunter nehmen.
»Nicht fallen, Junge!« rief Minchen, und der Geheimrat sah seitwärts auf das verrunzelte Profil neben ihm, und wie aus weiter Ferne, von Lesbos her, kam es wie Zitherklang und verhaltenes Schluchzen:
»O süße Mutter,
Ich kann nicht weben;
Denn Herz und Finger
Vor Liebe beben –«
und mit dem Finger im Munde stand Ludchen Bock mit seinem Korb voll Tannzapfen am Arm, und Minchen Ahrens meinte, zu Fritz Feyerabend gewendet:
»Ja, siehst du, selbst seine Scheu vor dem fremden Mann, sein Respekt vor dir hält dagegen nicht stand, daß es Mittag wird und es Zeit ist, nach Hause zu gehen und an die Suppe zu denken. Nun weißt du was? Bis an die Stadt gehst du mit uns, das fällt keinem auf, und nachher gehst du nach dem Keller zu deinem Mittagessen, zu unserm kann ich dich mit dem besten Willen nicht einladen, auch – seinetwegen. Und wenn du dein Schläfchen gemacht hast, dann trinke Kaffee bei mir in unserm Garten. Du kennst ihn gewiß wieder. Es hat sich wenig drin verändert, seit du zum letztenmal da im Apfelbaum gesessen hast. Den freilich habe ich vor zwanzig Jahren schon abhauen lassen müssen; er war geborsten und zu lebensgefährlich für die Nachbarschaft, ich meine die Jungen, die nach dir über die Zäune gekommen sind, und für – ihn auch.«
»Du erzählst dann aber weiter.«
»Wenn du noch von ihm hören willst.«
»Von dir und ihm!«
Sie wickelte ihr Strickzeug zusammen und erhob sich von der Bank am Maienbronnen.
»Es haben so viele Doktors an ihm Anteil genommen: schade, daß du nicht früher gekommen bist! Vielleicht hättest du bessern Rat als die anderen gewußt. Jetzt ist es zu spät; – o Gott, wenn er mir heute, heute, jetzt aufwachte mit seinem gesunden Verstande!« . . . .
Sie wanderten nun den Weg, den der seltsame heutige Gast von Altershausen vorhin allein zum Maienborn heraufgekommen war, zusammen zurück. Das »Kind« bald vor, bald hinter den beiden »Erwachsenen«, doch immer auf der Seite des »Mannes vom Bahnhof und Mordmanns Brunnen«. Es schien sich zwingen zu wollen, keine Angst mehr vor diesem Fremden zu haben. Wer konnte wissen, was ihm doch vielleicht aufstieg in der verdunkelten Seele aus fernen, vergangenen, lichten Tagen?
Und sie studierten sich auf diesem Wege vom Maienborn herunter, beide einander, der Lebens- und Seelenklare und der Blöde. Der große Psychiater aber den armen Freund wahrlich nicht mehr auf seine Leibes- und Seelenheilkunst hin: das Heimweh nach der Jugend – nach dem Leben hatte den Greis nach Altershausen getrieben, und er mußte es nur herausbringen, was Ludchen Bock dazu zu sagen hatte!
Auf dem Wege zur Stadt war das nicht zu erledigen; aber im Ratskeller, an der Wirtstafel schon wurde er sich klar darob. Selbst in Altershausen trat er da über die Schwelle der Traumwelt, in der er die letzten zwei Stunden durch am Maienborn gesessen hatte, in sein gewohntes Dabeisein an seinem Lebenstage zurück. Der Wirt vom Keller fragte höflich den »Herrn Doktor«, ob er einen interessanten Morgenspaziergang gemacht und wie er hiesige Gegend gefunden habe. Fritz Feyerabend bejahte das erstere und über das zweite konnte er sich auch nur lobend aussprechen. Ludchen Bock war bei der Beantwortung beider Fragen sehr beteiligt.
Geheimrat Dr. Friedrich Feyerabend nahm ihn nach Tisch mit auf sein Zimmer hinauf und mit hinein in seinen Mittagsschlaf. –
Er fand sein Zimmer nach dem heißen Morgengang kühl und schattig und träumte in dem altväterlich bequemen Ledersessel am offenen Fenster einen Traum. Was davon aufs Konto Altersschwäche oder nach Goethe auf das tröstliche Wort »Erneute Pubertät« zu schreiben war, und vor allem, wieviel davon ihm von seinem mütterlichen Erbteil zukam, mochte er später daheim, im gewohnten Alltag, sich zurechtlegen.
Das Wunder kam und verlief folgendermaßen. Es ist schon berichtet worden, daß er von seinem Fenster im Ratskeller die Aussicht auf seiner Eltern letzte Wohnung in Altershausen hatte. Die lag nun im Nachmittagssonnenschein, und aus seinem Schatten heraus erlebte er, die nächste halbe Stunde durch (länger hat's der Uhr nach nicht gedauert), das Abenteuer. Im Traum währte es viel länger; aber das ist ja schon eine uralte Erfahrung der Menschheit, und solches nicht bloß aus den Märchen der Tausend und einer Nacht heraus, sondern auch aus dem hellsten, grellsten, nüchternsten Werkeltage.
Am Maienborn war er gewesen mit Ludchen Bock und Minchen Ahrens; aber wohl hatte er sich bis jetzt gehütet, Winkel aufzusuchen, in denen er nichts mehr von dem finden konnte, was für ihn in Altershausen noch dasein sollte. Nun, in seinem Traum ging er doch so aus auf die Suche: zurück und hinein in die Zeit, wo Friedrich Wilhelm der Vierte König von Preußen, Nikolaus der Erste Zar aller Reußen, Louis Philippe König der Franzosen und Pius der Neunte Papst war – hin in seine letzte Weihnachtsstube in Altershausen. –
Aber wie?
Der Weg in der heißen Morgensonne hatte in Verbindung mit dem Mittagstisch des Ratskellers dem alten Mann die Gliedmaßen doch recht steif gemacht. So bequem der Sessel am Fenster war, der Sopha erschien dem Wirklichen Geheimrat Feyerabend doch noch bequemer.
»Nur für fünf Minuten!« sagte er, wollte die Arme, um sich zu erheben, auf die Stuhllehnen legen, fand, daß das nicht ging, daß sie ihm am Leibe herunter fest anhafteten wie einem frontmachenden Kriegsmann. Aufrecht stand er mit einemmal, ganz ohne sein Zutun, in des Zimmers Mitte, und an seinem Leibe, an seinen Beinen heruntersehend, war's ihm, als ob es auch damit nicht im geringsten seine Richtigkeit habe. Wie kam er zu diesem behaglich gewölbten Bauch, wie kam er in diese eng anliegenden gelben Lederhosen, wie in diese lackglänzenden Husarenstiefel? Und wie stand er plötzlich als der letzte Nußknacker der Familie Feyerabend im hellen, nüchternen Nachmittagsschein auf dem Markt von Altershausen?...
Und niemand verwunderte sich über ihn. Sie trieben ihre Gassengeschäfte, sie handelten in den Kramläden, sie standen in ihren Haustüren oder saßen an den Fenstern, die Leute des Orts, aber nicht einer nahm Notiz von der Verwandlung des Wirklichen Geheimrats Professor Dr. Feyerabend in den Geliebten der Freiin Emerentia von Schnuck-Puckelig-Erbsenscheucher in der Boccage zum Warzentrost. Daß ihm solches unangenehm gewesen wäre, konnte er nicht sagen; aber verwunderlich erschien sie ihm doch: kam er selber sich doch ziemlich auffällig vor.
Er ging. Wie – das wußte er nicht; die Beine klebten ihm zusammen, wie die Arme am Leibe herunter hafteten. Er konnte sogar Treppen so ersteigen; plötzlich stand er auf der obersten Stufe der Haustürtreppe seines Vaterhauses und sah hinunter auf den Markt von Altershausen und versuchte zu »salutieren«, mit der Hand am Federhut. Ja, wenn's nur möglich gewesen wäre!
Da lag der Markt, auf dem er mit Ludchen Bock gespielt hatte, und es hatte sich kaum etwas dran verändert seit der Zeit vor sechzig Jahren. Da lag der Ratskeller, von dessen Fenster aus, sozusagen, er eben ausgegangen war – und es schneite erst leise Flocken hinein in den Sonnenschein, dann heftiger aus sich senkendem, immer dunkler werdendem Gewölk. Nacht war es plötzlich geworden. Wo eben noch die Fenster im Tageslicht geglänzt hatten, da leuchteten sie nunmehr von innen heraus erleuchtet in den Winterabend hinein, bald mehr, bald weniger, je nachdem die Lampe war, die das Licht gab.
Es waren aber nicht die Lampen allein, die Licht gaben; hinter mancher gefrorenen Scheibe, hinter manchem Vorhang leuchtete es vielflimmerig: das waren an den »Christbäumen« die Kerzen der letzten Weihnachtsnacht, die Friedrich Feyerabend mit den Eltern und Schwester Linchen in Altershausen begangen hatte, und Fritz war wieder darin und mit dabei in seiner wunderlichen Verwandlung aus dem Wirklichen Geheimrat Professor Doktor und Gast der Wonneburgen der Walchen zum Nußknacker von seinem letzten Altershausener Weihnachtstisch; aber – die »Großen« und Schwesterchen Lina waren zu Bett gegangen – er hatte das Fest für sich allein! In der »Blauen Stube« war er allein mit der erloschenen Weihnachtstanne. In der Blauen Stube stand er nach sechzig Jahren wieder; aber sie schliefen alle, und er allein war wach geblieben, ein Nußknacker des Elternhauses; aber – nicht der letzte. Wie es sich ausweisen sollte!...
Das war die Blaue Stube. Da hatte eben noch seiner Mutter helles, liebes Lachen geklungen und Linchen, die neue Puppe im Arm, vom Arm des Vaters nach der höchsten Zuckerpuppe an der Lichtertanne gegriffen, als er – nicht Fritzchen Feyerabend – mit zur Familie und zur Blauen Stube gehörend, sich als der Nußknacker vom vorigen Jahr seinem – Nachfolger gegenüber fand!...
Aus dem Sessel am Fenster des Ratskellers, durch das Fenster und über den Markt von Altershausen war er, wenn auch in dem absonderlichen Kostüm, so doch in seiner vollkommenen Menschengröße nach Meter und Zentimeter Reichsmaß gestiegen; nun – und er wußte wiederum nicht, wie es zugegangen war – fand er sich plötzlich eingeschrumpft, zusammengefallen, auf das Maß von seinesgleichen – Nürnberger Fabrikmaß – herabgesunken, und, bei einem neuen Blick an sich herunter: wie sah er jetzt aus!...
Wie hatten eben noch im Sonnenschein auf dem Markt der rote Frack, die weiße Weste, die gelben Hosen und die Husarenstiefel geleuchtet! Und nun? So schlimm wie mit dem, den in Nizza Karl Buttervogel aus dem Kehricht auflas, war es ja wohl nicht mit ihm; aber arg war's doch, und er hätte nimmer gedacht, daß er sich je so schäbig selber vorkommen könne wie jetzt in der Blauen Stube. Und wenn Hosen, Jacke und Weste noch das Schlimmste gewesen wären! Das, was in der roten Jacke, den gelben Hosen, den ritterlichen Stiefeln gesteckt hochaufgerichtet die Wonneburgen der Walchen durchschritten hatte, wie knickebeinig war das in der Blauen Stube, der Weihnachtsstube des Elternhauses des Jahres 18?? !? Knacke einer mal Erdennüsse bis zu seinem siebenzigsten Geburtstage und behalte er die vordem so genialisch »grellblauen Augen« und lasse er nicht den seinerzeit so glänzend schwarzen Schnauzbart greis, dünn, abgerupft über die »alt und müde gewordenen Lippen« hängen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Und was war denn das? Wie kam er von dem Pflaster des Markts von Altershausen auf den Weihnachtstisch der Blauen Stube? Hätte er die Hand von der Hosennaht, auf der sie festlag, losmachen können, so konnte er sie grade auf das Dach der Arche Noah neben ihm legen!
Das war nun seine körperliche Höhe, und seine Gefühle dazu waren plötzlich die eines Nußknackers mit müden Kinnbacken. Das Seltsamste aber war, daß er die Blaue Stube mit den Bildern der Großeltern an der Wand und allem übrigen als etwas Selbstverständliches nahm; aber als etwas ebenso Selbstverständliches, daß alles, was sonst dazu gehörte: Vater, Mutter, Schwesterchen, Hund und Katze, Knecht und Magd nicht dabeiwar; daß alles zu Bett gegangen war und er niemand vermißte: Er, der Nußknacker vom Feste vergangenen Jahres! Und als der Nußknacker vom vorigen Jahr hatte er sie alle, alle um sich, die nun neu aus der Schachtel gekommen waren, die ganze große Familie aus Holz, Papiermaché, Blech, Zinn, Leder, Tüll, Gaze, Gold- und Silberflitter, der Welt buntesten Farbenkasten nicht zu vergessen!
Was war denn aber das? War das nicht das Gesicht seines Nachfolgers im Amte, auf dem Lehrstuhl, in der Wissenschaft, in den Glanzsälen der Wonneburgen der Walchen und im Verehrungsbedürfnis der Menschheit?
Nein, es war nur der neue Nußknacker, der vom diesmaligen Heiligen Abend. Frisch aus der gegenwärtigen Kulturentwickelung mit schwärzestem Schnauzbart, rotestem Rock, leuchtendstem Federbusch, gelbester Weste, weißesten Beinkleidern und – in Stiefeln, wie er sie getragen hatte und sie für die seinigen halten konnte, wenn er sich nicht an die seiner Vorgänger hätte erinnern müssen.
»Guten Abend, Kollege!«
Er fuhr auf die unvermutete, höfliche, ja achtungsvolle Anrede ein wenig in sich zusammen; aber schon versammelten sie sich alle um ihn in der Blauen Stube seines Vaterhauses zu Altershausen – – die Puppen, die jetzt am Reich waren und es festzuhalten glaubten.
Er hatte sich über den Empfang nicht zu beklagen; Komplimente hatte er zu erwidern nach allen Seiten hin und Blicke und Grüße, die wirklich vom Herzen zu kommen schienen; bis es plötzlich aus dem untersten Gezweig der Tanne, hinter dem Noahkasten her, kreischte: »Er hält sich ja gar nicht mehr auf den Beinen, der Alte. Darf ich Ihnen meinen Arm bieten, Herr Geheimrat?«
Es war die Rute, die selbstverständlich beim Feste nicht fehlen durfte und jetzt mit einem in allen sieben Farben des Prismas spielenden Bande um die Taille herwackelte, die alte, scheußliche, unfruchtbare Megäre, und grinste: »Vom Anfang der Affenkomödie warte ich auf Sie, Herr! Sind Sie endlich da, um mir zu helfen, dem Gesindel zu sagen, was es wert ist? Kritik, Kritik, Alterskritik! Sagen Sie, zeigen Sie durch und an sich selber der jungen Narrenwelt, worauf alle ihre Herrlichkeit hinausläuft. Kommen Sie, Gerippe – wurmstichiger Klotz, lassen Sie sich besehen – von allen Seiten, von dem Torenvolk auf seine vergängliche Farbenpracht hin besehen. Begehen, feiern Sie jetzt die wirklich schönste Stunde Ihres Daseins, machen Sie es der Krapüle von heute deutlich, was Sie Ihrer Zeit wert gewesen sind: ich stelle mich Ihnen mit allen meinen Reisern und Kräften zur Verfügung, Herr Professor! Verwenden Sie mich, wie und wo es Ihnen beliebt, Herr Doktor; es wird mich freuen, dadurch in Erfahrung zu bringen, wieviel Gift und Galle sie durch Ihre siebenzig Jahre in sich hineingeschluckt haben. Sehen Sie doch auch, wie ich nur Ihretwegen für diese Nacht Toilette gemacht habe!«
Geheimer Rat Professor Dr. Feyerabend war's, der als Nußknacker vom vorigen Jahre doch für einen Augenblick imstande war, den rechten Arm von der verblaßten gelben Hose loszubringen und den regenbogenfarbigen Schleifenzipfel, der ihm unter die abgeblätterte Nase hingehalten wurde, damit von sich wegzuschlagen, und zwar mit einem Kraftwort aus der Walchen Wonneburgen: »Via, puttanaccia! und – ihr, Kinder, junges Volk, da ich noch dabeibin, so gönnt mir eure Gesellschaft und nehmt mit meiner vorlieb. Ertragt noch für ein Viertelstündchen den Alten mit seinen Abgebrauchtheiten, Grillen und Schrullen. Gönnt mir mich noch einen Augenblick unter euch!«
Ein allgemeines »Ah!« und liebenswürdiges Zudrängen ging durch die Versammlung in der Blauen Stube. Ja, sie gönnten ihm sich unter sich – nein, sie waren sogar so liebenswürdig, sich ihm zu gönnen – alle, alle, der ganze Weihnachtstisch: Bürgerliches Volk, Kriegs- und Hofleute, schöne und schönste Damen in allen Kostümen der Puppenstube und die ganze Menagerie, wie sie Vater Noah mit in die Arche nahm, – alle, alle liebenswürdig, zärtlich, immer zärtlicher, immer liebenswürdiger.
Was wollte die Rute in dem glänzenden, duftenden, leuchtenden Gedränge edelsten Puppentums, das ihn umgab, umrauschte, umflüsterte, ihn, den Nußknacker vom vorigen Jahr?
»Hinter den Spiegel, Popanz!«, und mit einem schrillen, zirpenden Schrei, wie ein Hadesgeist aus der Odyssee, entschwirrte die Bestie – »Krikrikrikriki-tiiiik.« Sie verzog sich nach dem Wort aus dem Volke, die Schöngegürtete, und wurde nicht mehr gesehen bis auf einen Zipfel des siebenfarbigen Bandes, der hinter dem Spiegelrahmen in der Blauen Stube hervorhing, aus der Welt vor sechzig Jahren stammte und – nur an mütterliche Liebe und Sorgen erinnerte.
Wie kam das junge, süße, lockige Kind in rosa Flor, das die Augen nicht nur niederschlagen, sondern sie auch aufmachen konnte, himmelweit und himmelblau, an seine Seite? Wie kam der Blumenstrauß in das Knopfloch seiner schäbigen Husarenjacke?
»Ihr Lieben, Lieben, lasset mir Luft, ihr Lieben!« stammelte Geheimrat Feyerabend. »Ihre Hand, Nachfolger im Reich des Nüsseknackens! Liebchen, junges Leben, lassen Sie mir auch die Ihrige und mit beiden die Gewißheit, daß die Welt nicht untergeht, trotz des Kehrbesens, der morgen meiner wartet!«...
Ein Laut allgemeiner entrüsteter Mißbilligung durch unseres Herrgotts ganze Nürnberger-Tand-Schöpfung – eine höfliche Abweisung des melancholischen Worts, die sogar aus dem Herzen kam; denn selbst Püppchen eben aus der Schachtel hatte ein Gefühl, daß ihre Sache mit verhandelt werde, und flüsterte dem Alten zu:
»O nein, nein, nein! O bitte, sagen Sie doch so was nicht! Bitte, bitte, Exzellenz!«
Ein junger Offizier, ebenfalls neu aus der Schachtel, der ihr zulächelte, brachte sie aber sofort von dem betrüblichen Thema ab und auf das immer Wichtigste. Sie nahm seinen Arm, und auch alle übrigen hatten sich bald an dem Helden vom vorigen Jahr satt gesehen. Zuletzt hatte er es eigentlich nur noch mit seinem jugendfrischen, frischlackierten Ersatzmann zu tun und – gottlob! – er konnte ihn anlächeln mit herzlichem Wohlwollen und den besten Wünschen. Übrigens ist's manchmal gar nicht unangenehm, einer »Neuwelt« als Gespenst zu erscheinen, wenn es nur »ganz in Stahl« geschieht, und der verbrauchte Nußknacker in der Blauen Stube seines Vaterhauses hatte so eine Art von Gefühl davon, als ob das augenblicklich der Fall sein könne.
Es war ja aber auch in der Blauen Stube, und er war darin nicht die wissenschaftliche Größe seines siebenzigsten Geburtstages, sondern nur der Nußknacker vom vorigen Jahrgangs dem des jetzigen gegenüber. Und, er wußte nicht, wie's zuging, als Holz, wurmstichiges Holz und Lack, bunten, aber abblätternden, verblaßten Lack fühlte er sich noch, jedoch seine Gliedmaßen hatte er sämtlich wieder zu freier Verfügung. Er konnte seinem Nachfolger die Hand auf die Schulter legen und ihn freundlich auf den Glanz der frisch funkelnden Epauletten klopfen:
»Überwinden Sie Ihr Mißbehagen über meine Gegenwart bei Ihrem Feste, lieber Kollege! Ich habe Ihren augenblicklichen seelischen Mischmasch von Triumph und Katzenjammer ebenfalls in meinen Daseinsnotizen. Ich gehe und Sie kommen – wir werden nicht alle! Ich habe meine Freude an Ihnen, Kollege, also lassen Sie auch mir meine so vergänglich gewesenen Genugtuungen! Sie machen ein Gesicht, als ob Sie glaubten, ich scherze boshaft; aber wirklich, es würde mir eine posthume größte Genugtuung sein, wenn es Ihnen gelingen würde, alle durch mich getäuschten Erwartungen zu erfüllen! Sie erlauben wohl –«
Wirklicher Geheimrat Professor Doktor Feyerabend griff eine Nuß unter dem Weihnachtsbaum in der Blauen Stube, der Weihnachtsstube seines Vaterhauses, auf, schob sie dem Nachfolger im Reich irdischen Erfolges zwischen die weiß glänzenden jungen Zähne, faßte ihm um die Schulter herum nach dem Zopf und – drückte – drückte, und – es knackte. Er knackte, der Kronenerbe, er knackte trefflich; aber – – – sie kamen ja beide, der Alte wie der Junge, aus der nämlichen renommierten Fabrik, und wenn auch die Welt, wie sie war, nicht unterging: viel anders wurde sie auch nicht durch den neuen Ersatzmann...
Den Kern der eben geknackten vergoldeten Nuß in der Hand, sagte der Alte lächelnd:
»Die Welträtselnuß war es noch nicht, die durch Ihre Vermittelung ihr Innerstes herausgab, lieber Kollege. Das Resultat ist diesmal recht gut. Knacken Sie ruhig weiter, es gibt immer noch Besseres, und – wenn Sie sich müde gekaut und geknackt haben und ernüchtert vor dem Schalenhaufen stehen, dann machen Sie's wie ich: ärgern und grämen Sie sich nicht! Zu seinem Ärger und Überdruß hat man doch manchmal seinen Spaß und sein Vergnügen und zu seinen Schanden seine Ehren. Sehen Sie sich auf dem Tische um: vorm Jahr, als ich hier jung war, war's dieselbe Gesellschaft um mich her.«
»Es wird weitergeknackt!« schluchzte der Nachfolger im Erdengeschäft. Er brachte zwar in der Umarmung des verbrauchten Seniors die Arme nicht vom Leibe los, aber zwei Harztränen entrangen sich dem Zirbelholz, aus dem er gedrechselt war. Und rundum in der alten Blauen Stube duftete es immer lieblicher und glänzte es immer bunter und zauberhafter. Die vom Vater Feyerabend ausgeblasenen Wachslichter an der Tanne flammten dem Sohn zur Nachfeier seines siebenzigsten Geburtstags noch mal auf, aber mit magischem Lichte sub specie aeternitatis. Der ganze Weihnachtstisch, die Arche Noah nicht ausgeschlossen – die Sündflut-Schiffbauer, den bösen Ham eingeschlossen – alles, alles erhob sich zum Jubelruf.
»Es wird weitergeknackt!«
Nur – die Schönste – die wunderschöne junge Dame mit der Courschleppe und dem rosigen Wachsgesichtchen, jene Reizendste, Jüngste, die vorhin zuerst mitleidig dem verjährten Krüppel das lebenswarme weiße Händchen hingehalten hatte, sie schlug plötzlich die Hände mit dem Spitzentaschentuch vor die Augen und weinte bitterlich.
Und nunmehr war es nicht mehr der Nußknacker vom vorigen Jahr von dem Weihnachtsabend vor sechzig Jahren: es war wieder der Wirkliche Geheimrat Professor Doktor Feyerabend, der in der Blauen Stube stand und seufzte – nicht mehr das Wort an den Nachfolger richtend:
»Ja, was soll man den armen Kindern zum Troste sagen? Daß ihre Töchter so schön werden wie sie?« . . . . . . . . .
Es war wahrlich nicht mehr der Nußknacker vom vorigen Jahr, sondern es war der Wirkliche Geheimrat Feyerabend, der die alte Jette, seine alte Jette, in der Blauen Stube des Vaterhauses am Markt zu Altershausen brummen hörte:
»Sapperment, wie kommt denn die alte Kröte da untern Weihnachtstisch? Aber du kommst mir grade recht zum Feueranmachen! Da Fritzchen nun einen neuen hat, wird er nach dem alten Greul wohl nicht mehr suchen – – –«
»Herr Doktor verzeihen, wenn ich anfrage, ob ich Herrn Doktor den Kaffee auf dem Zimmer servieren soll?« fragte der Oberkellner im Ratskeller zu Altershausen.